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Hamlet stirbt zuletzt

Ja, sie lassen ihn in der neuen Hamletinszenierung im Saarbrücker Staatstheater zuletzt doch noch sterben, obwohl er so unsterblich gut gespielt wurde und die Inszenierung für jede Überraschung gut war.

Die Inszenierung basiert auf dem Prinzip der Steigerung. Am Anfang wirken alle Schauspieler fade, wie sie da nebeneinander aufgestellt sind und nichts sagen. Am Ende sind alle über sich hinausgewachsen. Polonius, von einer Frau gespielt, die in jedem Politkrimi der Gegenwart so auftreten könnte: als intrigante Staatssekretärin; Rosenkranz, der zwischen den Fronten hin- und hergerissen wird und am Ende ja zerrissen wird. Ophelia, die zunächst verloren scheint im Wahnsinnsgebaren Hamlets, dann aber im Tod über sich hinauswächst: Sie wird von Claudius und Gertrud von der Bühne gerollt, nachdem sie sich ertränkt hat, was aber etwas schwierig ist, weil sie immer wieder über ihren schwangeren Bauch hinweggedrückt werden muss. Also Ophelia schwanger. Und Hamlet?

Der sitzt oft im Hintergrund der Bühne und spricht in seine Handyvideocamera. Man sieht das dann als Zuschauer auf großen Vorhängen rechts und links auf der Bühne. Eine grandiose Anspielung auf die Tiktokisierung unseres Alltags.

Der zieht im dritten Akt dann aber auch Hose und Unterhose aus und rennt dann unten ohne rum. Das könnte ein Symbol sein für sein existentielles Ausgeliefertsein, seine absolute Verletzlichkeit.

Die beiden neben mir sitzenden alten Damen sahen das wahrscheinlich anders. Sie ließen sich im Chor vernehmen mit einem gehauchten “Ach Gott!”. Was klang da nicht alles mit: Erstaunen, Verwunderung, Überraschung, alte Erinnerungen tauchten da wohl wieder auf. Entrüstung klang da nicht mit. Wir sind alle im 21. Jahrhundert angekommen.

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Über Lüge in postfaktischen Zeiten

Was steckt dahinter, wenn der amerikanische Präsident “schnell mal” eine falsche Kathastrophenmeldung in die Welt setzt, wie erst heute wieder über einen angeblichen Terroranschlag in Schweden?
Der britische Autor Ian McEwan macht in seinem neuesten Buch “Nutshell” ein paar interessante Anmerkungen über das Lügen.
“The effective lie, like the masterly golf swing, is free of self-awareness.”
Ian McEwan: Nutshell, p. 170
Aber es gibt zwei Arten von Lügnern.
Trudy: “Only persuade herself and she’ll deceive with ease and consistency. Lies will be h e r truth.”
“Claude, unlike Trudy, owns his crime. This is a Renaissance man, a Machiavel, an old-school villain, who believes, he can get away with murder. The world doesn’t come to him through a haze of the subjective; it comes refracted by stupidity and greed, bent as through glass or water, but etched on a screen before the inner eye, a lie as sharp and bright as truth. Claude doesn’t know he’s stupid. If you’re stupid, how can you tell?”
Nutshell, pp. 147f.

nutshell

Eine Besprechung dieses Buches bald bei “Reflexe und Reflexionen”. Der Roman/die Novelle ist nichts anderes als eine zeitgemäße Version des “Hamlet”. “And the rest is chaos.” We learn at the very end…

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Nietzsche für Anfänger

img_0240Heinrich Deterings Buch „Der Antichrist und der Gekreuzigte – Friedrich Nietzsches letzte Texte“ (2010) ist fürwahr kein Buch für Anfänger, selbst Fortgeschrittene dürften hier und da ins Stolpern geraten.

Aber hier ist meine Übersetzung.

Friedrich Nietzsche hat seine letzten Briefe (Januar 1889) mit so disparat erscheinenden Namen unterschrieben wie „Dionysos“ und „der Gekreuzigte“. Viele Interpreten des 20. Jahrhunderts haben dies als bloße Belege des Wahnsinns genommen. Detering zeigt nun akribisch (also gekonnt philologisch) auf, dass, selbst wenn das Wahnsinn war, es doch Methode hat (Polonius über Hamlet, II, 2). Der klinische Befund mag unumstritten sein. Dennoch kann in den letzten Werken und Äußerungen Nietzsches ein erzählerischer Zusammenhalt sichtbar gemacht werden (in dem geschichtliche Mythen, religiöse Motive und private Mythologien aufgehen), dessen Sichtbarmachung den scheinbar wahnsinnig-widersprüchlichen Äußerungen einen Sinn gibt.

Wenn Nietzsche ein „Feindbild“ hatte, so ist dazu im Wesentlichen die alte Zweiweltenlehre zu rechnen, zu der, was das Christentum angeht, vor allem das vom Apostel Paulus stammende Bild Jesu gehört, demzufolge dessen Tod ein Sühneopfer darstellte,was bedeutet, dass die dieser Lehre folgenden Christen nach ihrem Tod in den Himmel kommen sollen.

Nietzsche hat den Gegensatz von Diesseits und Jenseits aufs Schärfste bekämpft. Warum bedient er sich dann vor allem in seinen letzten Werken „Der Antichrist“ und „Ecce home“ christlicher Erzählfiguren? Die Antwort scheint nach Deterings scharfsichtiger Analyse relativ einfach: Er deutet Begriffe wie „Christus“ oder „Evangelium“ einfach um und baut mit Begriffen verschiedener Mythen, Kunstreligionen (Wagner) und Religionen eine eigene neue Kunstreligion auf, die in der „frohen Botschaft“ kulminiert, dass Gott a u f d e r E r d e ist.

Wie ist so etwas möglich?

Nun, dieser erzählerische Vorgang hat sich in drei Schritten/Werken vollzogen und findet einen äußerst konsequenten Abschluss in den „Wahnsinns-Briefen“ vom Januar 1889, den Tagen seines Zusammenbruchs.

Im „Antichrist“ wird Jesus als eine Figur stilisiert, die dem gängigen Bild vollkommen widerspricht. Er ist nicht der „Erlöser“ von allen irdischen Leiden, sondern derjenige, der um des Lebens willen den Tod auf sich nimmt. Nicht eines himmlischen Lebens, sondern eines Lebens in einem irdischen Paradies. Und genau das ist die Schnittstelle zu der Figur des Dionysos, deren Symbolkraft er seit seiner ersten Schrift immer schon verwendet hat. Jesus ist Dionysos, und Dionysos ist Jesus, die beiden Figuren werden in eine verschmolzen. Der Antichrist wendet sich also gegen den paulinischen Christus, verwandelt sich jedoch selber in den dionysischen Jesus, den jesuanischen Dinonysos!

Auf den „Antichrist“ folgte sogleich die autobiografische Schrift „Ecce homo“. Hier liegt das Schwergewicht auf einer weiteren „Umwertung“: Der „Gottessohn“ wird als sich vergöttlichender Mensch inszeniert. Anders gesagt: Gott ist nicht Mensch geworden, sondern er, der Mensch, der dies erzählt, wird Gott. Also ist Gott auf der Erde angekommen – im Mythos, also jenseits von Raum und Zeit. Nach Detering verschmilzt der Gekreuzigte mit Dionysos zu einem dionysisch verklärten Jesus. Die Unterschrift unter den letzten Brief lässt keinen Zweifel daran, wer dieser Erzähler ist: „Nietzsche“.

Zur gleichen Zeit wie die letzte Prosaschrift Nietzsches entstehen die „Dionysos-Dithyramben“. Die zeitliche Nähe unterstützt das interpretatorische Resümee zum „Ecce homo“. Damit scheint erwiesen, dass sich die in den „Wahnsinns-Briefen“ vom Januar 1889 für die Unterschrift gewählten Namen des Absenders nahtlos einfügen in die letzten Schriften, ja sich ergeben aus den Büchern, die Nietzsche im Jahr 1988 verfasst hat und die übrigens eine zentrale Rolle in der Rezeption im 20. Jahrhundert gespielt haben.

Nietzsches bewusstes Leben und dessen „Narration“ haben also ebenfalls in gewisser Weise „symbiotisch“ geendet. Und mehr als Gott Werden ist einfach nicht drin.

P.S.: Ich musste natürlich vieles auslassen, was das hier thesenhaft Referierte erst nachvollziehbar erläutern würde. Aber vielleicht folgt ja noch ein „Nietzsche für Fortgeschrittene“, dann aber auf der Seite „Reflexe und Reflexionen“.

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