Zwölftes KAPITEL
Eine wundersam verwickelte Hofgeschichte
„Geheimer Hühneraugenessenzbereiter?” fragte Semilasso mit einem feinen Lächeln.
“Geheimer Hühneraugenessenzbereiter”, sagte der Schriftsteller. ,,Wenn Sie die Verhältnisse des Hofes, in dessen geheimen Diensten ich zu stehen die Ehre habe, kennen, so werden Sie wissen, daß der alte Herzog in dem Spleen seiner vorgerückten Jahre nur noch ein Interesse an seinen Hühneraugen nimmt, die ihn in der Tat auch arg plagen. Ohne diese Pein aber würde dennoch die ganze Existenz des alten Herrn zusammenbrechen, denn der Verdruß gehört ihm zum Leben notwendig hinzu; er ist einer von den Charakteren, die aus Liebhaberei verdrießlich sind. Diese maussade Laune erleichtert übrigens die Staatsverwaltung außerordentlich. Die Regierungsgeschäfte werden in Dünkelblasenheim auf eine höchst einfache Art getrieben; nämlich wenn den alten Herrn die Hühneraugen zu heftig schmerzen,, so schlägt er etwas ab, und wenn es leidlich damit steht, so genehmigt er, auf solche Weise motivieren sich die unerwartetsten Entschließungen ganz natürlich. Das Schneiden der Hühneraugen war daher auch von jeher eines der wichtigsten Geschäfte am Hofe; der Obersanitätsrat war damit begnadigt, nun ist der Mann auch alt geworden, hat blöde Augen bekommen und in den letzten Jahren den Herzog mehrmals in das Fleisch geschnitten, woraus denn strenge Regierungsmaßnahmen entsprangen. Der alte Herr verlangte daher schon seit einiger Zeit nach Abhülfe dieses Übelstandes.
Karl Immermann, Münchhausen. Düsseldorf 1838/1839
http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/immermann_muenchhausen03_1839?p=201
Siehe auch meine Kurzbesprechung
Diese minimalistische Zeitkritik ist der Minimalistin Blühbirne gewidmet…