Reflexe & Reflexionen

Im Folgenden geht es um Reflexe auf und Reflexionen über Gelesenes.

Begonnen wurde dies mit einem Roman von Larry McMurtry, den  ich bisher nur als Autor von The Last Picture Show, einem  Roman, der 1971 verfilmt wurde, kannte.
Der Titel der Seite deutet an, dass kein Anspruch auf Systematik besteht. 

Links zur Leo Läufers Baustelle:

F. Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge… und J. Lodemann: Siegfried und Krimhilde – Die Nibelungen (2005)

John Updike: The Widows of Eastwick

Robert Zimmer: Arthur Schopenhauer

Ian McEwan: Solar

Joachim Köhler: Nietzsches letzter Traum

Guy de Maupassant: Bel-Ami; H.R. Vaget: Thomas Mann, der Amerikaner

Briefe deutscher Klassiker. – Darin: Bettina Brentano an Achim von Arnim

Tom Wolfe: Back to Blood

Ian McEwan: Sweet Tooth

Louis Begley: Memories of a Marriage

Christoph Ransmayr: Atlas eines ängstlichen Mannes

Bisher wurden folgende Bücher in diesem BLOG berücksichtigt:

1. Larry McMurtry: Leaving Cheyenne (1962; 1990)

2. Charlotte Brontë. Jane Eyre (1847)

3. Alissa Nutting: TAMPA (2013)

4. Kate Chopin: The Awakening (1899)

5. J. D. Salinger: The Catcher in the Rye (1945)

6. Mohsin Hamid: The Reluctant Fundamentalist (2007)

7. Ernest Hemingway: The Old Man and the Sea (1952)

8. Eric Kandel: Auf der Suche nach dem Gedächtnis. Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes (2006)

9. Dave Eggers: The Circle (2013)

10. Margaret Mitchell: Gone with the Wind (1936) with reference to Tom Wolfe: A Man in Full (1998)

11. Larry McMurtry: Lonesome Dove (1985)

12. Tom Wolfe: A Man in Full (1998)

13. Diethelm Brüggemann: Die Scherbenkrone (2015)

14. Ralph Ellison: Invisible Man (1952)

15. Ian Bostridge: Schubert’s Winter Journey. Anatomy of an Obsession (2015)

16. John Dos Passos: Manhattan Transfer (1925)

17. Kerstin Decker: Die Schwester. Das Leben der Elisabeth Förster-Nietzsche        (2016)

18. Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis. (2016)

19. Dieter Henrich: Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin (2016)

20. T. Coraghessan Boyle: The Terranauts (2017)

21. Hong Ying: Die chinesische Geliebte (1999)

22. Daniel Kehlmann: Tyll (2017)

23. Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt (2005)

24. Margaret Atwood: Hag-Seed (2016)

25. Wolfram Eilenberger: Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919 – 1929 (2018)

26. Rüdiger Safranski: Das Böse oder Das Drama der Freiheit (1997) UND Michael Donhauser: Schönste Lieder (2007)

27. Eva Strittmatter: Sämtliche Gedichte (2006) und Stefanie Sargnagel: Statusmeldungen (2017)

28. Sissi und Annette

29. Georg Friedrich Händel: Xerxes. Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf. 2019

30. Thomas Mann: Der Zauberberg. Fischer Verlag, Berlin 1924

31. Kurt Fassmann (Hg.): Briefe deutscher Klassiker. Mit der ganzen Ungeduld des Herzens. Lizenzausgabe für Manfred Pawlik, 1981

32. Gregor Hens: Missouri. aufbau 2019, und David Wagner: Der vergessliche Riese. Rowohlt 2019

33. Hildegard Baumgart: Bettine Brentano und Achim von Arnim. Lehrjahre einer Liebe. Bertelsmann Verlag 2001

34, Margaret Atwood: The Handmaid’s Tale (1985) und Miichel Houellebecq: Soumission (2015)

35. Ocean Vuong: On Earth We’re Briefly Gorgeous, London 2019

36. Donna Tartt: The Goldfinch. Abacus 2014

37. Bettine von Arnim: Letzte Liebe – Das unbekannte Briefbuch. Korrespondenz mit Julias Döring. Die Andere Bibliothek, Berlin 2019. – Stefanie Sargnagel: Statusmeldungen. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2017.

38. Lisa Taddeo: three women – drei frauen. Piper, München 2020

39. A. L. Kennedy: Serious Sweet. London 2016

40. T. C. Boyle: Sind wir nicht Menschen. Stories. Hanser, München 2020

41. Italo Calvino: Der Baron auf den Bäumen. dtv, München 1986

42. Maja Göpel: Unsere Welt neu denken – Eine Einladung. Berlin 2020

43. Heinrich Heine: Reisebilder. Hamburg, Hoffmann und Campe 1824 – 1830

44. Clive Hamilton, Mareike Ohlberg: Die lautlose Eroberung. Wie China westliche Demokratien unterwandert und die Welt neu ordnet. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2020

45. Karl Immermann: Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken. Düsseldorf 1839

46. Richard Russo: Chances are. New York 2019

47. Fang Fang: Wuhan Diary. Tagebuch aus einer gesperrten Stadt. Hoffmann und Campe, Hamburg 2020

48. César Aira: Die unheimlichen Wunderheilungen des Doktor Aira. Matthes & Seitz, Berlin 2020

49. Ilja Leonard Pfeijffer: Grand Hotel Europa. Piper Verlag, München 2020

50. George Eliot: Middlemarch. Wordsworth Edition Limited, Ware 2000 (1871)

51. Ernst Dronke: Berlin. Die Andere Bibliothek, Berlin 2019 (1846)

52. Marco Missiroli: Treue. Klaus Wagenbach, Berlin 2021

53. Jean Paul: Titan. Sämtliche Werke München 1999

54. Fichtes Briefe. Insel-Verlag, Leipzig 1919

55. Christoph Ransmayr: Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten. S.Fischer, Frankfurt a.M. 2021

56. Alan Sillitoe: A Tree on Fire. Grafton Books, London 1986 (1967)

57. Dieter Henrich: Das Ich, das viel besagt. Fichtes Einsicht nachdenken. Vittorio Klostermann, Frankfurt a.M. 2019.

58. Sigrid Damm: Christiane und Goethe. Eine Recherche. Insel-Verlag, Frankfurt a.M. und Leipzig 1998

59. Dieter Henrich: Ins Denken ziehen. Eine philosophische Autobiografie. C.H.Beck, München 2021

60. Yaa Gyasi: Homegoing. Vintage Books, New York 2017

61. Yaa Gyasi: Ein erhabenes Königreich. Dumont, Köln 2021

62. Jonathan Franzen: Crossroads. Rowohlt, Hamburg 2021

63. Te-Ping Chen: Ist es nicht schön hier. Aufbau Verlag, Berlin 2021

64. Juli Zeh: Über Menschen. Luchterhand, Berlin 2021

65. Thomas Mann: Joseph und seine Brüder. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1964

66. Thomas Mann: Der Erwählte. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1956

67. Ernst Tugendhat: Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2017 (1. Auflage 1979)

68. Eckhart Nickel: Spitzweg. Piper, München 2022

69. Nils Minkmar: Montaignes Katze. S. Fischer, Frankfurt a.M. 2022

70. Haruki Murakami: Kafka am Strand. btb, München 2006 

71. Willi Winkler: Herbstlicht – Eine Wanderung nach Italien. Rowohlt, Berlin 2022

72. Michael Ostrowski: Der Onkel. Rowohlt, Hamburg 2022

73. Roberts Harris: Act of Oblivion. Penguin 2022

74. Donna Tartt: The Secret History. Penguin Books, London 1992

75. Guiliano da Empoli: Der Magier im Kreml. Beck, München 2023

76. W.G.Sebald: Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt. Fischer, Frankfurt a.M. 1997

77. François-René de Chateaubriand: Erinnerungen von jenseits des Grabes. Matthes & Seitz, Berlin o.J

78. Kate Crawford: Atlas of AI. Power, Politics, and the Planetary Costs of Artificial Intelligence. Yale University Press, New Haven and London 2021

79. Thomas Meyer: Hannah Arendt. Die Biografie. Piper, München 2023

80. Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biographie. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt a.M. 2012

81. Daniel Kehlmann: Lichtspiel. Roman. Rowohlt, Hamburg 2023

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Daniel Kehlmann, Lichtspiel. Rowohlt, Hamburg 2023

Daniel Kehlmann stellt in seinem neuen Roman episodenartig das Leben des seinerzeit berühmten Regisseurs G.W.Pabst nach, indem er sich einerseits an die „Fakten“ hält, andererseits aber auch Dinge dazu erfindet, wo die Faktenlage zu dünn ist oder wo es ihm darum geht, am Beispiel von Einzelschicksalen ein Gesamtbild der Zeit vor, während und nach dem 2. Weltkrieg entstehen zu lassen. G.W.Pabst war nicht Jude, und dennoch ist der Roman ein erschütterndes Dokument darüber, was den Juden von den Nazis angetan wurde. Es geht hier allerdings weniger um die ganz großen Verbrechen, als vielmehr um die Frage, was der Nationalsozialismus mit den Menschen gemacht hat, wie Menschen zu Nazis wurden. Kehlmann interessiert sich also weniger für das, was auf der großen Weltbühne passierte, sondern eher für den sozusagen alltäglichen Faschismus.

Ich habe mit dieser Charakterisierung des Romans den Aspekt hervorgehoben, der mich am nachhaltigsten beeindruckt hat. Wer sich für die Geschichte des Films interessiert, wird natürlich auch andere Aspekte finden, die filmhistorisch interessant sind, z.B. über die Art, wie Leni Riefenstahl ihr Unwesen getrieben hat, oder über das lockere Leben der Louise Brooks, die nicht nur als Lulu allen Männern den Kopf verdrehte. Doch das den Roman bestimmende Grundthema wird eindrucksvoll gleich im ersten Kapitel angelegt, es werden Spuren gelegt, deren Bedeutung sich erst im Verlaufe der weiteren Episoden des Romans erhellt. Man könnte somit sagen: Dieser Roman ist durch und durch sehr kunstvoll konzipiert.

Der Roman kommt am Anfang „durch eine Art Seitentür ins Rollen“. Nicht von Pabst ist hier die Rede, sondern von einem alten Mann, der eines Sonntagmorgens von seinem Sanatorium in ein Fernsehstudio verbracht wird, wo er in einer Livesendung von einem berühmten Moderator zu ein paar Filmen von Pabst befragt werden soll. Alles im Tone eines „Nebenbei“ erfährt der Leser, dass der Moderator jede Frage von Karten abliest, die ihm von seinem Assistenten, einem gewissen Herrn Rosenkranz, präpariert worden sind. Dieser Assistent hat auch dafür gesorgt, dass der alte Mann, ein gewisser Franz Wilzek, trotz seiner Demenz aus dem Sanatorium in die Sendung geholt wurde. Franz Wilzek ist, wie man später erfährt, der Assistent von G.W.Pabst gewesen und in die Festigstellung eines Filmes verstrickt, der in den letzten Kriegstagen in Prag gedreht wurde. Der Moderator fragt nun also:

„Und bei eurem nächsten Film, Der Fall Molander, da hat der große Paul Wegener die Hauptrolle gespielt?“
„Welchem?“
„Bei eurem nächsten Film“, liest er von der Karte. „Der Fall Molander. Da hat Paul Wegener die Hauptrolle gespielt.“
„Den gibt es nicht.“
„Den Paul Wegener?“
„Diesen Film. Gibt es nicht, der wurde geplant, aber nie gedreht.“
Ein paar Sekunden ist es still, dann sagt Heinz Conrads: „Doch, doch, hier steht … Gedreht ist er schon worden. Es hat ihn nur keiner gesehen, er ist dann verloren gegangen.“

Diese zitierten Zeilen enthalten den Kern des gesamten Romans. Ich mache ein paar Andeutungen, um dies zu erklären, verrate aber nicht alles… Offenbar ist dieser Assistent, Herr Rosenkranz, der Sohn eines gewissen Arztes Dr. Sämann, der seinerzeit den Kindern der Familie Wilzek den Hustensaft verschrieben hat. Pabst hatte für seinen Film Molander mehr als 100 KZ-Häftlinge als Statisten bekommen, darunter war auch Dr. Sämann, der den Fanzl bei den Dreharbeiten sehr wohl erkannt hatte. Pabst hatte Franz Wilzek gesagt, keinem der im Film gebrauchten Häftlinge gehe es wegen dieser Statistenrolle schlechter, aber das Ergebnis sei nun einmal hohe Kunst. Die Filmrollen gingen tatsächlich zunächst verloren, gerieten aber dann doch in Franzens Hände, der jedoch keinem, also auch nicht seinem Chef Pabst, verriet, dass er sie hatte. Der alte Wilzek weiß zunächst natürlich nicht, dass Dr. Sämanns Sohn ihm offensichtlich eine Falle gestellt hat. Erst als er aus seinem traumatischen Verdrängungstraum aufwacht, als „der Junge Mann mit der Brille“, also Herr Rosenkranz, ihn mit einem „dünnen, starren Lächeln“ anschaut, sieht er vor seinem geistigen Auge die Szene mit den jüdischen Gefangenen. Aber der alte Mann bleibt dabei:

„Wurde nicht gedreht! Ihre Redaktion hat schlecht gearbeitet! Sie irren sich! Kam nie zustande!“

Der Roman Lichtspiel wirft also ein Schlaglicht auf die Verdunkelungen des kollektiven Gedächtnisses der Deutschen (und Österreicher), ist also wirklich ein LICHTSPIEL.

Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biographie. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt a.M. 2012

Heinrich von Kleist kennt man normalerweise als Autor von Der zerbrochene Krug (im Theater gesehen…) oder Michael Kohlhaas (in der Schule gelesen…). Manche, die nicht nur Germanistik, sondern auch Philosophie studiert haben, werden vielleicht auch mit Schmunzeln zur Kenntnis genommen haben, dass Kleist angeblich in große Verzweiflung geriet, als er erfuhrt, dass Kant, der große Aufklärer, postulierte, man könne die Dinge niemals so wahrnehmen, wie sie in Wahrheit sind…

Ich hatte Kleist für mich eigentlich „abgehakt“, bis ich in trockener Alterslangeweile vor ein paar Tagen an einem meiner Bücherregale vorbeischlurfte und einen „SUV“ zwischen einer Reihe von Taschenbüchern ausmachte, fest eingebunden und mit goldverrahmtem Titel: „Kleist. Sämtliche Werke“. Ok, ich verrate hier also, was mich antreibt, bestimmte Bücher zu lesen, der Zufall nämlich. Und damit bin ich bisher ganz gut gefahren…

Ich habe also diesen kompakten, in Leinen verpackten Band zur Hand genommen und einen Abend lang darin „geblättert“. Ich habe sogar den Michael Kohlhaas noch einmal gelesen, ich habe am nächsten Tag sämtliche Erzählungen verschlungen und war darnach entschlossen, Heinrich von Kleist ein wenig auf den Zahn zu fühlen, und ich habe mich nach einer guten Biographie umgesehen. Meine Wahl fiel auf Günter Blamberger.

Good Choice, muss ich heute sagen! Ich möchte dieses Buch hier nicht im Detail besprechen, sondern einfach zur Lektüre empfehlen. Der Autor ist nicht nur ein ausgewiesener Kleist-Kenner, sondern ein in gleichem Grade sensibler Interpret seiner Werke und gibt davon ausreichend Zeugnis in dieser Biographie, die in ihrer Chronologie im Großen und Ganzen der Entstehung der Kleistschen Werke folgt.

Was hat mir besonders gefallen an dieser Biographie? Sie ist nicht monofokal, sondern offen für Vernetzungen zu anderen Autoren und literarischen Motiven. Ich gebe ein paar Hinweise.

Bekanntlich hatte Kleist es sich zur Aufgabe gemacht, seine Dauerverlobte Wilhelmine in literarischen, aber auch in sozialen und rechtlichen Dingen zu erziehen, worüber sich schon immer die Kleistforschung aufgeregt hat, während seine Verlobte das wohl als die natürlichste Sache von der Welt betrachte. Seine Ansichten über Frauen waren ganz im Einklang mit denen anderer wegweisender Zeitgenossen wie Kant und Rousseau und sind als juristisches Destillat auch in der preußischen Gesetzgebung enthalten: In § 184 steht klipp und klar: „Der Mann ist das Haupt der ehelichen Gesellschaft.“ Die Vorstellung, dass die Frau sich ganz dem Glück des Mannes zu widmen hat, finden sich auch in der für die Aufklärungspädagogik programmatischen Schrift von Rousseau, dem „Emile“. Jean Paul hat diese Sache auf seine Art auf den Punkt gebracht: „So lang‘ ein Weib liebt, liebt es in Einem fort – ein Mann hat dazwischen zu thun.“

Für Kleist spielte es eine große Rolle, dass er sich dessen bewusst war, dass das Leben jederzeit durch einen Zufallstod enden könnte. In diesem Zusammenhang weist Blamberger auf Michel de Montaigne hin: „Es ist also ungewiß, wo der Tod unserer wartet: lasst uns allerwegen seiner warten. Die Vorbereitung zum Tode ist die Vorbereitung zur Freyheit.“ Für Kleist bedeutet das: Sterben lernen heißt leben lernen. Dieser Gedanke findet sich schon in einer Schrift Ciceros: Dass alles Philosophiren sterben lernen heisse.

Im Zusammenhang mit einer Analyse der Hermannsschlacht weist Blamberger auf Parallelen zu Hamlet hin, der berühmte Cherusker sei nach Kleist kein Macher gewesen, sondern ein Intellektueller, der genau das tue, was Machiavelli vom Fürsten verlangt, „er ist ein Schauspieler, der sich alle Masken aufzusetzen weiß“.

Und schließlich sei noch ein Hinweis auf Thomas Manns Zauberberg erwähnt, der im Zusammenhang mit der kurzen Analyse von Kleists vermutlich letzter Erzählung Der Zweikampf zu finden ist. Der Verlauf dieser Erzählung ist so ungewöhnlich wie der der meisten Erzählungen, ist so ungewöhnlich wie der geschilderte Zweikampf selber. Unser Handeln ist weitgehend unbestimmbar, erst im Nachhinein „wissen wir es besser“. Nach Blamberger stellt das Duell zwischen Naphta und Settembrini im Zauberberg das „konsequente Nachspiel“ von Kleists letzter Erzählung dar, da es sich auch hier um ein „Ritual punktueller Wahrheitsfindung“ handelt, das von dem Moralisten Settembrini in Frage gestellt wird, denn „alle Wahrheit [kann], wenn überhaupt jemals, dann allenfalls nachträglich erkannt werden“. Hier sei auch noch einmal an Kleists Erkenntnisskepsis nach Kant-Lektüre erinnert. Stichwort: Wer eine Brille mit grünen Gläsern trägt, der sieht nur GRÜNE Männchen…

Thomas Meyer: Hannah Arendt. Die Biografie. Piper, München 2023

Über Hannah Arendt wurden schon mehrere Biografien geschrieben. Dies ist also DIE Biografie des Mannes, der Hannah Arendts Werke als Studienausgabe im Piper Verlag herausgibt. Er zapft zahlreiche Quellen an, teilweise ganz neue, darunter zahlreiche Briefe, vor allem auch solche aus der Pariser Zeit, über die bislang noch nicht so arg viel bekannt war.

Die Biografie setzt ein mit einer Einführung in die Königsberger Heimat der Familie und wendet sich dann den Begegnungen mit den beiden Philosophen zu, die Hannah Arendts Leben nachhaltig beeinflusst haben: Heidegger in Marburg und Jaspers in Heidelberg. Das muss vor allem in Marburg eine seltsame Runde gewesen sein, dieses Privatseminar mit einigen Auserlesenen, darunter eine Freundin von Hannah, die Protokoll führte, und deren Vater, einem Geschäftsmann, der sich die Zeit mit Philosophie vertreiben wollte. Dieser Geschäftsmann saß zur Linken Heideggers, Hannah, zur Rechten. Aber beim Privatissime auf dem Lande war dann Hannah allein mit dem Meister. Meyer lässt diese Episoden sehr galant links liegen…

Hannah Arendt hat dann ja für ein paar Jahre in Paris gelebt und sich während dieser Zeit vor allem ganz praktisch als sehr nützlich erwiesen. Sie war bei einer Vereinigung beschäftigt, die sich zum Ziel gesetzt hatte, jüdische Kinder aus gefährlichen Ländern wie Deutschland nach Palästina zu vermitteln. Hatte Knatsch mit der Schwägerin, setzte sich aber immer durch. Mit ebensolcher Robustheit hat sie sich dann danach in den USA für die jüdische Sache eingesetzt und sich publizistisch und persönlich eingemischt in die Diskussionen in Deutschland. Sie nahm wieder Kontakt mit Jaspers auf und scheute nicht die Auseinandersetzung mit Heidegger. Die Diskussionen um ihre Auseinandersetzung mit dem Eichmann-Prozess sind hinlänglich bekannt.

Hannah Arendt hat „angeeckt“. Sie war oder ist auch im Zusammenhang mit Fragen des Zionismus nicht unumstritten. Thomas Meyer stellt das sehr detailreich dar, und es wird ein Bild davon gegeben, dass Hannah Arendt eine außergewöhnlich intelligente Frau war, die aber nirgendswo eindeutig zu verorten war. Sie war zurückhaltend in Frauenrechtsfragen und hat sich nicht klar gegenüber der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung positioniert. Man könnte sagen: Sie ließ sich nicht vereinnahmen. Oder man könnte auch sagen: Sie bleibt letztlich ein wenig schattenhaft.

Künstliche Intelligenz ist, seit sie seit ein paar Jahren wirklich boomt, zu einer allgemeinen Projektionsfläche geworden, die von allen möglichen Leuten für alles Mögliche missbraucht wird. Für die einen bedeutet sie das Ende der Menschheit, für die anderen läutet sie ein völlig neues paradiesisches Zeitalter ein. Neulich lautete eine Überschrift in der Süddeutschen Zeitung (18.09.2023): “Ist das der Gottesmoment der Menschheit?” Was dann folgt ist ein Interview mit der Philosophin und Theologin Anna Puzio, die darauf hinweist, dass derzeit im KI- und Technikdiskurs sehr viele religiöse Motive reproduziert werden. Dabei sei es besonders interessant, dass diese Diskurse “sehr stark mit Machtvorstellungen aufgeladen” seien. Wie genau aber KI und Macht zusammenhängen, – die Antwort darauf bleibt die Theologin uns schuldig.

Und das ist genau der Punkt, an dem uns das 2021 erschienene Buch “Atlas of AI” (AI = artificial intelligence, also KI) von Kate Crawford abholt. In diesem grundlegenden Werk zur KI geht die Autorin genau der Frage nach, wie KI und Macht zusammenhängen, welche materiellen Voraussetzungen KI hat und welche Folgen, welchen Interessen sie dient und wessen Interessen sie zuwiderläuft. Das Buch ist also eine Analyse des Phänomens in bester ideologiekritischer Tradition. Es ist also keine Taxonomie der Erscheinungsformen, sondern ein Ausloten der kausalen Tiefenstruktur des Phänomens im Beziehungsgeflecht von Macht, Politik und den Kosten für unseren Planeten.

Kate Crawford hat beinahe zehn Jahre recherchiert für dieses Buch und ist dabei auch immer wieder um die Welt gereist, um aufzuspüren, wie das Leben auf allen Kontinenten durch die KI verändert wird, welche Folgen sie für die Menschen hat und um herauszufinden, wer letztendlich und am meisten von ihr profitiert. Zu dem letzten Aspekt gibt sie ein ebenso klare wie erschreckende Antwort: Es ist eine Handvoll von Milliardären, deren Namen fast jeder kennt. Wer noch nie gegoogelt hat oder noch nie etwas von Amazon erhalten hat, dem, allenfalls dem dürften die Namen dieser Milliardäre nichts sagen.

Für mich stellt sich nun die Frage, wie ich dieses Buch hier präsentieren soll. Eine ausgewogene Darstellung sämtlicher relevanter Aspekte würde den Rahmen dieser “Reflexe und Reflexionen” sprengen. Das Buch soll ein “Atlas” sein, in dem sich Wissenschaft und Kunst vereint bemühen, Phänomene auf verschiedene Arten zu beleuchten. Ich werde in diesem Atlas also blättern und hier und da etwas länger verweilen – wenn ich auf etwas mir interessant Erscheinendes stoße.

Den ersten Anlass hierzu bietet gleich der erste Abschnitt der Einleitung “The smartest Horse in the World”. Der “kluge Hans”, eine Berühmtheit, die um 1900 Furore machte, wurde trainiert von einem pensionierten Mathematiklehrer namens Wilhelm von Osten, der diesem Hengst anscheinend u.a. das Rechnen beigebracht hatte. Um es kurz zu machen, die Sache flog auf, als auffiel, dass Hans Fehler machte, wenn sein Trainer nicht ganz in der Nähe war. Und es erhärtete sich der Verdacht, dass dieses Pferd nicht etwa “rechnen” konnte, sondern die Mimik und Gestik seines Lehrers genau beobachtete und daraus meistens die richtigen Schlüsse ableitete. Der “kluge Hans” war also keineswegs “intelligent” in dem zunächst vermuteten Sinne.

Die Autorin zieht daraus weitreichende Schlüsse, den Begriff der Intelligenz bereffend. Grob vereinfacht, sagt sie: auch die KI ist nicht intelligent in dem allgemein angenommenen Sinne. Das lässt sich am Beispiel der Spracherkennung und -produktion leicht beweisen. Schon in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts wurden Versuche aufgegeben, Maschinen mit Hilfe sprachlicher Tiefenstrukturen, also z.B. “Sinnmarkern”, das Lesen und Schreiben beizubringen. Man verließ sich ganz auf die Erfassung statistischer Wahrscheinlichkeiten von Wort- oder Buchstabenfolgen. Und daraus resultierte die Notwendigkeit, möglichst viele Daten zu sammeln; denn je mehr Daten einem solchen System zur Verfügung stehen (zum “Lernen”), desto größer die Wahrscheinlichkeit der Übereinstimmung mit einer “natürlichen” Sprache.

Man kann sich das Problem auch folgendermaßen klarmachen. Eine Maschine, die den gesamten Datenschatz der Welt zur Verfügung hätte, würde annähernd fehlerfreie Sätze produzieren können. Keine Maschine verfügt aber über eine solche Menge von Daten. Ein kleines Kind hingegen, das ja über vergleichsweise wenig Daten verfügt, um eine Sprache zu lernen, besitzt nach wenigen Jahren eine Sprachkompetenz, die sich nicht nur auf eine fehlerfreie Grammatik bezieht, sondern auch auf die Fähigkeit, Regeln der Wortbildung und -schöpfung fehlerfrei anzuwenden und Sätze zu generieren, die es vorher nie gehört hat. Man könnte also mit Hinweis auf die Grundgedanken der Generativen Transformationsgrammatik und die Annahme eines sog. LAD (language acquisition device), der angeboren ist, also auf die Lehre von Noam Chomsky aus den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, den Kate Crawford leider nicht erwähnt, eine klare Abgrenzung vornehmen: Computer lernen grundsätzlich anders als Menschen, da dem Menschen ein Apparat zum Spracherwerb angeboren ist. Menschen lernen eine Sprache also nicht nur schneller als eine Maschine, sondern grundsätzlich anders.

Kate Crawford spricht der KI aber nicht nur ab, dass sie Intelligenz besitzt (darin ist sie sich ja im Wesentlichen mit Noam Chomsky einig), sie bestreitet ebenfalls, dass sie künstlich ist. Ich möchte die zentrale Aussage des Buches, wie sie in der Einleitung zusammengefasst wird, hier in voller Länge zitieren, da sie die Essentials enthält. Die weiteren Kapitel des Buches sind im Grunde nichts anderes als eine detaillierte Aufzählung von Beweisen und Belegen für das, was hier thesenhaft vorgetragen wird.

…in this book I argue that AI is neither artificial nor intelligent. Rather, artificial intelligence is both embodied and material, made from natural resources, fuel, human labor, infrastructures, logistics, histories, and classifications. AI systems are nor autonomous, rational, or able to discern anything without extensive, computationally intensive training with large datasets or predefined rules and rewards. In fact, artificial intelligence as we know it depends entirely on a much wider set of political and social structures. And due to the capital required to build AI at scale and the ways of seeing that it optimizes AI systems are ultimately designed to serve existing dominant interests. In this sense, artificial intelligence is a registry of power.”

KI ist also eingebettet in eine Vielzahl materieller Bedingungen, sie ist nicht autonom, sondern abhängig von Riesenmengen von Daten, die aber von Menschen gesammelt und klassifiziert werden. Und da das alles sehr teuer ist, kann sie nur nach den Gesetzen derer funktionieren, die das Geld dafür haben. Und so ist KI nichts anderes als ein System zur Machtausübung.

Oder eine riesige Maschine zur Pünderung der Resourcen des Planeten, wie Kapitel 1 darlegt. Die Autorin hat Lithium-Minen in Nevada aufgesucht, stillgelegte Minen, die an die Geisterstädte des Goldrausches des 19. Jahrhunderts in Kalifornien erinnern. Sie berichtet von den unglaublich großen Müllhalden in der Inneren Mongolei, wo noch ein Geschäft mit dem Abfall der KI gemacht wird. Doch größer noch sind die Verwerfungen in Bezug auf die Menschen, die mit KI beschäftigt sind oder nach ihren Maßstäben arbeiten. Der Taylorismus der frühen Industriealisierung wird etwa durch die Diktatur der Zeit bei Amazon noch getoppt.

Wie oben bereits angedeutet, spielen Daten eine zentrale Rolle bei KI. In Kapitel 3 wird anschaulich dargelegt, wie der Datenhunger der großem Systeme, sprich Firmen oder auch Staaten, sich immer weiter in die Privatsphäre der Menschen hineinfrisst. Dass das Private immer weniger eine Rolle spielt, wird auch bei der Klassifikation der Daten deutlich, wie in Kapitel 4 gezeigt wird. So wie gelegentlich versucht wurde, von bestimmten Menkmalen des Schädels auf die Persönlichkeit zu schließen (mit weitreichenden Konsequenzen in Bezug auf rassische Diskriminierung), so wird heute mit Hilfe der KI anhand eines bestimmten Rasters festgestellt, ob ein Mensch, der die Merkmale “Terrorist” hat, an einem bestimmten Ort von einer Drohne getötet wird, ohne dass die Identität dieser Person bekannt ist. Ebenso fragwürdige Dinge passieren bei der Klassifikation von Emotionen, z.B. im Bereich der Gesichtserkennung. Trotz konroverser Forschungslage wird von diesbezüglichen Instrumenten ausgiebiger Gebrauch gemacht im Sinne der Optimierung von Abläufen (bei einer Bewerbung etwa).

Schließlich wird immer wieder ignoriert, dass KI zu einem großen Teil für das Militär gemacht wurde/wird, solche Anwendungen aber auch bedenkenlos von Staaten, privaten Firmen oder auch einzelnen Menschen übernommen werden. Die Snowdon-Enthüllungen haben das Ausmaß dieser Verbindungen offengelegt, wobei diese sich jedoch meist auf den politischen Sektor bezogen. Wenn jedoch Verwaltungs- und Polizeicomputer auf der Basis fehler- oder lückenhafter Klassifikationen arbeiten, werden gesellschaftliche Diskriminierungen perpetuiert. Ja schlimmer noch, sie werden durch KI gewissermaßen gerechtfertigt.

Zum Schluss wendet sich Kate Crawford noch einmal der heutigen Diskussion um KI zu, die ja von dem Gegensatz geprägt ist, die KI als größte Gefahr für die Menschheit zu sehen (dystopischer Diskurs), oder ihr die Erlösung von allen Problemen zuzuschreiben (utopischer Diskurs). Beiden Ansätzen wirft sie vor, einen völlig unhistorischen Standpunkt einzunehmen, da alle Macht der Technologie zugeschrieben wird. Das Buch hält dagegen: Nicht die Technologie ist das Entscheidende, sondern die Machtsysteme, die geprägt sind von Ausbeutung und Rassismus, die sich die KI untertan machen, um ihre Ziele zu erreichen. Der technologische Diskurs muss also durch einen politischen Diskurs ersetzt werden.

Man kann auch sagen: Wir müssen unseren weitgehend technologisch geprägten Blick erweitern auf die Mächte, die dahinter stehen.

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François-René de Chateaubriand: Erinnerungen von jenseits des Grabes. Matthes & Seitz, Berlin o.J

“Ich nehme das Chateaubriand!”
Eine ganze Reihe von Menschen weiß, was sie auf den Teller bekommt, wenn ein Steak Chateaubriand bestellt wird, ein ganz dickes saftiges nämlich. Die wenigsten bei uns wissen indes, dass Francois-René de Chateaubriand neben Madame de Staël, die auch in Deutschland bekannt wurde – u.a. als eine Art Arbeitgeber von August Wilhelm Schlegel – der in Frankreich bekannteste Frühromantiker war. Einige seiner Novellen machten ihn dazu. Wirklich Ruhm jedoch erlangte er durch seine Abhandlung Le Génie Du Christianisme, eine Apologie des Christentums, in der er den Gottesbeweis (oft deduktiv veranlagt) quasi umkehrte, indem er von der Schönheit der Natur auf die Existenz Gottes schloss.
Sein letztes Großwerk ist posthum erschienen, darauf war es angelegt, was schon der Titel verdeutlicht: Erinnerungen von jenseits des Grabes. Geschrieben wurde es im Zeitraum von 1811 bis 1841, und es ist für den heutigen Leser deshalb so interessant, weil dieses Leben vor der französischen Revolution begann und diese kritisich begleitete (z.B. sie als Offizier im Emigranten-Heer bekämpfte). Dann musste er nach England fliehen und kehrte 1800 nach Frankreich zurück und wurde Staatsbeamter unter Napoleon. Er wurde Gesandtschaftsdeligierter in Rom, aber bald wieder abberufen. Dann wandte er sich den Royalisten zu und kam während der Juli-Revolution von 1830 erneut in erhebliche Schwierigkeiten. Später reiste er mehrmals nach Prag (da war er schon über sechzig Jahre alt, und eine Reise mit der Kutsche war keine Kaffeefahrt…), um die Mitglieder der Bourbonen-Familie zu versöhnen. Eine ihm zustehende Ministerpension schlug er aus und musste Landbesitz und bewegliche Habe verkaufen um zu (über)leben.
Die Erinnerungen stilisieren dieses Auf und Ab in seinem Leben, ja manche sagen: Bei ihm ist alles Pose. Und wenn ich seine Andeutungen bzgl. seiner Ehe recht verstehe, dann war Chateaubriand in dieser Beziehung der arme Teufel. Seine Frau hatte er wohl in Erwartung einer großen Erbschaft geheiratet, doch führte er wohl ein recht “eigenständiges” Leben (er hatte mehrere Geliebte), und seine Frau errichtete mit den Mitteln, die sie dann tatsächlich erbte, eine Stiftung zum Unterhalt eines Altersheimes für sehr vornehme Leute.
Nicht alles, was Chateaubriand schreibt, ist wahr. Selbst in seiner Autobiografie beweist er bisweilen eine erstaunliche Kreativität. Die Abenteuer seiner in jungen Jahren unternommenen Reise nach Amerika sind grandios übertrieben, eine persönliche Begegnung mit George Washington wird geschildert, eine solche hat aber nie stattgefunden.
Als er 1792 von seiner Reise, die ihn eigentlich zu den Polargebieten führen sollte, nach Paris zurückkehrt, erlebt er, wie die Gesetzgebenden Versammlung am 20. März der Verwendung der soeben erfundenen Guillotine zustimmt. Augenzwinkernd (?) deklariert Chateaubriand die Erfindung dieser “Mordmaschine” just zu dem Zeitpunkt, da man ihrer bedurfte, als ein “Beweis des verborgenen Wirkens der göttlichen Vorsehung, wenn diese das Antlitz der Weltreiche verändern will”. Nach seinem Einsatz im Emigrantenheer (in dem er quasi Seit‘ an Seit‘ mit Goethe kämpfte) flieht er, wie schon erwähnt, nach England und kehrt erst 1800 zur Zeit des Konsulats nach Frankreich zurück und ist Zeitzeuge und Chronist des Kaiserreiches, der Restauration und der Revolution von 1830. Chateaubriand war zur Zeit der Restauration Abgeordneter in der Pairskammer (eine Art Oberhaus). Von diesem Posten zieht er sich nach der Juli-Revolution zurück. Anhänger von Heinrich V. (Bourbone) wollen Louis Philippe (“Bürgerkönig”) loswerden und fragen bei Chateaubriand an, ob er bereit sei, eine neue Regierung zu übernehmen. Er landet indes unter sehr komfortablen Bedingungen im Gefängnis (seine Frau bringt ihm morgens frische Baguette und abends frische Bettwäsche), kommt bald wieder frei, geht aber vorsichtshalber eine Weile ins Ausland (Schweiz, Italien) und kehrt wieder nach Paris zurück, da er durch und durch Franzose ist. Chateaubriand pocht darauf, politisch unabhängig zu sein. Wofür er sich immer entschieden hat: Freiheit und König! Er hält es sich zugute, dass die Duchesse de Berry von Louis Philippe aus dem Gefängnis entlassen wurde. Diese Madame war mit dem Sohn eines Bruders Ludwigs XVI verheiratet und strebte an, ihren Sohn zum französischen König zu machen. In einer veröffentlichten Broschüre wandte Chateaubriand sich an die Lady und versicherte ihr: “Madame, Ihr Sohn ist mein König!” Das erklärt seine beschwerliche Pendeldiplomatie, seine beschwerlichen Kutschfahrten nach Prag und anderswo, um die Sprösslinge der Bourbonen (des legitimen Königshauses) zu versöhnen.
Empfehle ich, dieses Buch heutzutage noch zu lesen? Ja, und zwar vor allem, weil es authentisch ist, weil es viele persönliche Begegnungen und politische Ereignisse enthält, die einen dazu animieren, an der einen oder anderen Stelle nachzuhaken, heißt: zu googeln. Mich hat es gar veranlasst, ein paar Tage in St. Malo, Chateaubriands Geburtsstätte, Urlaub zu machen. Und dort traf ich dann auf dieses lustige Ehepaar, die, umstellt von jeder Menge Einkaufstüten, am Nebentisch im Café Chateaubriand saßen und auf die Fähre warteten, die sie zurückbringen sollte auf ihre englische Insel Jersey (liegt direkt vor der französischen Küste), auf der Chateaubriands Flucht nach England einst begonnen hatte. Ohne eine einzige Einkaufstüte…

76

W. G. Sebald: Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt. Fischer, Frankfurt a.M. 1997

Die Grafschaft Suffolk an der englischen Ostküste ist dünn besiedelt, aber voller Geschichte(n). Und (fast) nur um die geht es in diesem „Reisebericht“ aus dem Jahre 1992. Während in Willi Winklers kürzlich hier besprochenen „Wanderbuch“ Herbstleuchten immerhin z.B. die Planken der Autobahnen (die es zu meiden gilt), die Mühsale der Alpenüberquerung (ein Kampf mit dem Alter) und ab und zu auch freche Bemerkungen von dem einsamen Wanderer Begegnenden (die man frech kommentiert) vorkommen, enthält Sebalds Buch im Wesentlichen Geschichten, die irgendwie mit der Vergangenheit dieser ostenglischen Landschaft in einem Zusammenhang stehen. Feuerbestattungen, alte, verlassene Seebäder, die untergegangene Heringsfischerei, ein verlassener Sailer’s Reading Room, aber auch Spuren von Joseph Conrad finden sich da. Im 6. Kapitel befindet sich gar eine Betrachtung zu den Kaisern von China, weil die Waggons einer Schmalspurbahn über den Blyth ursprünglich für dieses ferne Land bestimmt waren. Auf einen Exkurs zu den dichten Wäldern der Vergangenheit folgen nachdenkliche Gedanken über das Verhältnis des englischen Landadels (der neureich auch aus der Stadt kommen konnte) zu der prekären Lage in Irland. Und schließlich ist dem Kapitell über die Geschichte der Seidenweberei ein Bericht darüber voran gesetzt, wie es dem französischen Vicomte Chateaubriand, der in Paris der Guillotine entronnen war, beim Pfarrer von Ilketshall St. Margaret erging, wo er dessen am Anfang der Bekanntschaft 15-jährigen Tochter kennenlernte, wobei sich die beiden „bei Homer“ so nahe kamen, dass die Mutter dem Vicomte, als der sich für immer verabschieden wollte, eine Heirat vorschlug, was dieser jedoch ausschlagen musste, da er bereits mit einer demnächst vielleicht einmal reichen adligen Dame in Frankreich verheiratet war. Die Szene dieses vergeblichen Heiratsgesuches von Seiten der Mutter ist so detailversessen und daher sprachlich sehr elaboriert beschrieben wie vieles in diesem Buch, aber außerdem noch recht witzig. 

Sebalds Buch ist demjenigen zu empfehlen, der hohen Sprachstil liebt und bereit ist, sich von einer Begebenheit oder Gegebenheit zu einer nächsten führen zu lassen, ohne Erzählfaden oder schlüssige Handlungsfolge, der aber immer neugierig darauf aus ist, zu erfahren, was sich hinter der nächsten Ecke verbirgt.

Mich hat das Buch jedenfalls dazu verführt, die Erinnerungen von jenseits des Grabes von dem französischen Vicomte zu lesen, den man in einem kleinen Weiler in Suffolk wohl für einen idealen Schwiegersohn gehalten hat, der aber – bei aller Liebe – für das Angebot der Mama keine Verwendung finden konnte… 

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Giuliano da Empoli: Der Magier im Kreml. Beck, München 2023

Empolis Roman wird als “Buch der Stunde” bezeichnet, durch das man bisher nicht erreichte Einsichten über das “System Putin” gewinne. Ich muss gestehen, dass eine solche Einschätzung für mich ein Teil der Motivation gewesen ist, mir dieses Buch zu kaufen. Nun, da ich es fast ohne beiseite zu legen gelesen habe, steht für mich fest: Es handelt sich hier um einen hervorragend konzipierten und erzählerisch äußerst souveränen, auch poetisch anspruchsvollen Roman, der strukturell in etwa so aufgebaut ist wie ein anderes aktuelles Buch, “Act of Olivion”, nämlich so, dass historisch weitgehend abgesicherte Fakten (Das gilt allerdings nur begrenzt für den Magier; s.u..) dadurch spannend aufbereitet werden, dass sie um einen fiktionalen Kern als deren Brennpunkt angeordnet werden. In beiden Fällen handelt es sich um eine als Person erfundene Figur, hier um einen Mann namens Wadim Baranow, der wegen einer zentralen Position im Kreml, nämlich als Putins wichtigster Spindoctor, Zugang zu allen möglichen Leuten und Ereignissen hat. 

Scheinbar authentisch lernen wir so das heutige Russland kennen, sein politisches System, aber wir lernen auch die russische “Seele” kennen. Sowohl das System als auch die Seele scheinen dabei von einer tiefgreifenden, unauflöslichen Widersprüchlikeit gekennzeichnet zu sein. Dies möchte ich am Beispiel des “Magiers” erklären. Baranow stammt aus einer alten aristokratischen Familie, sein Großvater besaß eine immense Bibliothek, war europäisch gebildet. Baranow bewegt sich beruflich zunächst im kulturellen Milieu, er produziert Fernsehsendungen, bis er nach einem Gespräch mit dem Oligarchen Beresowski und bei nährerm Umgang mit Boris Jelzin zu der Überzeugung kommt, dass es eine noch reizvollere Aufgabe wäre, nicht Fiktionen, sondern die Realität zu erschaffen. Und dies geschieht jenseits aller moralischen Kategorien. Als Magier im Kreml erlebt er gleich am Anfang, vor entscheidenden Wahlen, in denen Putin als Präsident bestätigt werden sollte, den Bombenterror in Moskau, von dem niemand genau weiß, ob nicht Putins Geheimdienst dabei seine Finger im Spiel hat. Baranow hat keine Skrupel, alles dem Ziel unterzuordnen, in Russland wieder eine “vertikale Macht” zu errichten, deren Ziel es ist, Russland wieder groß zu machen. 

Auf die Gefahr hin, als Rezensent “zuviel zu verraten”, mache ich hier einen Sprung ans Ende des Romans. Hier erleben wir einen Wadim Baranow, dem nichts “heiliger” ist als die Liebe zu seiner Tochter, der am Ende sagt, durch diese Liebe erfahre er zum ersten Mal Gegenwart. Denn in der Vergangenheit, vor seinem Rückzug aus dem Kreml, habe er nur in der Zukunft gelebt. Das ist eine auch zeitphilosophisch sehr interessante Wendung. 

Geschichtlich interessant ist es in den Passagen, in denen der Magier von seinen Treffen mit Personen der Zeitgeschichte berichtet. Prigoschin, den man heute am ehesten als Begründer der Söldnertruppe Wagner kennt, tritt auf als Psychologe von Massenkontrolle. Anlässlich des Eröffnungsspektakels der Olympischen Spiele in Sotschi kommt es zu einem Gespräch mit Alexander Saldostanow, dem Anführer der russischen Motorradgang Nachtwölfe, der später in der Ukraine Chaos verbreitet, um die orangene Revolution zu ersticken. Oder es wird mit einer gewissen Bewunderung von Putins Schachzug, Angela Merkel bei ihrem Besuch mit Putins riesiger  Hündin Koni (Labrador) zu konfrontieren, berichtet. Die Amerikaner sind eindeutig die Bösen, und die russische Seele hat nicht vergessen, dass Clinton maßlos zu lachen anfing, als Boris Jelzin bei einer Veranstaltung besoffen vor dem Mikrofon herumtorkelte und stammelte. 

Wir erleben also als Leser einiges von dem wieder mit, was in den letzten 30 Jahren in Russland und mit Russland passierte, immer aber aus russischer Perspektive: Die CIA hat die orangene Revolution angezettelt; Clinton hat brachialisch die Osterweiterung der Nato vorangetrieben; die Ukraine gehört zu Russland, ist sie doch die Heimat vonChruschtschow und Breschnew; etc. Der Erzähler lässt sich das alles von Baranow schildern, und der Leser ist damit aufgefordert, sich immer wieder die Frage nach den historischen Tatsachen (s.o.) zu stellen.

Auf zwei Aspekte möchte ich hier noch eingehen. Das wäre zum einen die Frage nach der Verwobenheit von politischem Handeln und persönlichen Motiven. Dass eine politische Einstellung Einfluss auf unseren persönlichen Umgang mit anderen Menschen hat oder haben kann, ist wohl unmittelbar einleuchtend. Aber sind es nicht manchmal ganz persönliche Dinge, Motive, Vorlieben oder Hassgefühle privater Natur, die unser politisches Handeln bestimmen? Das wird im Roman an dem Ort thematisiert, wo es um Baranows Liebesbeziehung zu einer gewissen Xenja geht. Diese Frau war ursprünglich mit ihm liiert, hat ihn aber verlassen um Michail Chodakowskis willen. Der Magier war nun offenbar nicht ganz unbeteiligt daran, dass dieser verhaftet wurde und nach Sibirien verbannt wurde. Jahre später kommen Baranow und Xenja indes wieder zusammen, sie werden ein Paar, sind sehr verliebt, und sie wird schwanger. Baranow verwendet sich nun dafür, dass Chodakowski aus dem Gefängnis entlassen wird. Niemand soll sein politisches Handeln mit seinen privaten Gefühlen in Verbindung bringen!

Ein anderes Thema kreist um Baranows These, dass sich die Technik zur Metaphysik gewandelt hat. Was damit gemeint ist, möchte ich durch ein ausführliches Zitat veranschaulichen:

Mädchen mit Gebetbuch…

…es ist nicht Gott, der erschafft, sondern Gott, der erschaffen wird. Jeden Tag erschaffen wir als bescheidene Arbeiter im Weinberg des Herren die Bedingungen für seine Ankunft. Schon heute haben wir den größten Teil der Eigenschaften, die die Alten dem Herrn zusprachen, auf die Maschine übertragen. Es gab eine Zeit, in der Gott alles sah und alles in Vorbereitung auf das Jüngste Gericht aufzeichnete, er war der oberste Archivar. Jetzt hat die Maschine seinen Platz eingenommen. Ihr Gedächtnis ist unendlich, ihre Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, unfehlbar. Es fehlen nur noch die Unsterblichkeit und die Auferstehung, aber wir sind auf dem Weg dorhin. Das Bild des kriegerischen Gottes, der den letzten Feind, den Tod, bekämpft, das in der Apokalypse des Propheten Jesaja enthalten ist, ist in Wirklichkeit – das können wir heute sagen – das Bild des Computers, der mit der Entwicklung des letzten Algorithmus beschäftigt ist.” (p. 256)

Zieht man das religiöse Pathos, das einem russischen Intellektuellen mit aristokratischen Wurzeln zugestanden werden muss, ab, dann bleibt immer noch genug übrig, um sagen zu können: Die Diskussion um die KI und insbesondere ChatGPT kann in ebendiesem Sinne gedeutet werden. Und wer jetzt ein Moratorium in dieser Angelegenheit fordert, der verlangt nicht weniger als dass wir innehalten sollen, um zu beten, dass das Jüngste Gericht vielleicht noch ein paar Tage aufgeschoben wird. 

74

Donna Tartt: The Secret History. Penguin Books, London 1992

Über den Helden des vor ein paar Jahren erschienen Romans The Goldfinch von Donna Tartt habe ich geschrieben, nie habe es in der Literatur so einen verkommenen Helden wie diesen Theodore Decker gegeben. Das habe ich geschrieben, bevor ich The Secret History, den Erstlingsroman der Autorin, der noch während ihrer College-Zeit entstanden ist, gelesen habe. Scheinbar hat hier jemand ein Faible für Verkommenheit.
Das Setting dieses also vor über zwanzig Jahren geschriebenen Werks ist das, in dem die Autorin sind selber befand: Die Welt eines Elite-Colleges im Amerika der 80er Jahre. Aus diesem Erfahrungskreis schöpft Donna Tartt den Stoff ihrer Erzählung, fokusiert sich aber auf eine Gruppe von fünf Studenten, den einzigen, also elitären Studenten eines sehr eigenwilligen Griechischprofessors, in die der Erzähler hineingerät und dann nicht weiß, wie ihm geschieht. Henry ist der unangefochtene Anführer, der die anderen nach allen Regeln der Kunst manipuliert. Die vier Jungs und ein Mädchen, Zwillingsschwester von einem dieser Jungs, die gelegentlich mt ihrem Brüderchen ins Bett hüpft, versuchen in einem abgelegenen Haus in einen dionysischen Rausch zu geraten und bringen dabei quasi aus Versehen einen Farmer um. Bunny heißt das schwächste Glied der Gang. Er wird zu einer Gefahr für die anderen, weil er die Klappe nicht halten kann.
Es ist also abzusehen, wie es weitergeht. Bunny muss weg. Nur wie? Mit einem Schubs über eine Klippe, geht offenbar ganz einfach. Aber die Folgen sind fatal. Denn die Mörder müssen ja nun jeder auf seine Art mit dem, was dann kommt, fertig werden. Mit Polizeiverhören, Fragen von Kommiltonen und nicht zuletzt mit der Beerdigungsfeier, zu der die Gang eingeladen wird, einschlielich Übernachtung im Haus der Eltern, die die Mörder natürlich als kongenial Mittrauernde behandeln, was die eine oder andere Seele schier zum Zerreißen bringt. Am Ende scheint aber alles glimpflich auszugehen.
Die Erzählung der Handlung läuft auf die Sezierung der Verarbeitung der bösen Tat hinaus. Die Mottos zum Buch legen folgende Anliegen der Autorin nahe: 1. Niemand weiß, was in den Köpfen der alten Griechen vor sich ging (F. Nietzsche). Ein Nachstellen dionysischen Gebarens dürfte mangels sicherer Kenntnis also in ein Desaster führen. 2. Nach Plato kann eine Erzählung der Erziehung der Helden dienen. Am Ende scheinen alle Figuren des Buches von Donna Tart ihren Platz in der Welt gefunden zu haben. Also Erziehungsziel “seinen Platz in der Welt finden” erreicht? Oberflächlich gesehen, ja. Und nicht oberflächlich gesehen? Darüber möge ich jeder Leser selber ein Urteil bilden.
Dass es The Secret History zwanzig Jahre nach der Ersterscheinung in die vordersten Regale deutscher Buchhandlungen (das sind im Wesentlichen die von Thalia, die inzwischen den Markt beherrschen) geschafft hat, ist wohl in der Hauptsache dem Erfolg von Der Distelfink (The Goldfinch) zu verdanken. Wer es einmal in die Bestsellerliste geschafft hat, hat damit ein Abonnement in dieser Kategorie erworben. Das gilt wohl auch für Juli Zeh, die es verdient, von den Leuten, die sie lesen, gelesen zu werden.

73

Robert Harris: Act of Oblivion. Penguin 2022

Charles eins zwei drei

Von Thomas Hobbes stammen so markante Sprüche wie homo homini lupus (Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf) und bellum omnium contra omnes (Krieg aller gegen alle). Letzteres gilt für den sog. Naturzustand und ergibt sich aus dem erstern. Jedem Schüler, der in der 12 Jahrgangsstufe mal einen Grundkurs Philosophie belegt hat, sind diese Dinge bekannt, und er weiß auch, dass Hobbes auf Grund der politischen Wirren seiner Zeit für einen starken Souverän, sprich Monarchen, plädierte und, als Charles I. dann seinen Kopf verlor und Oliver Cromwell an die Macht kam, dafür plädierte, sich dem kronenlosen Souverän zu unterwerfen. Womit wir beim Thema des neuen, spannenden Romans von Robert Harris wären: Act of Oblivion.

Dieses Gesetz von 1660 sollte eigentlich einen Schlussstrich ziehen unter die Wirren der vergangenen 10 – 15 Jahre und der puritanischen Bevölkerung signalieren, dass man nun wieder vereint unter dem neuen König, Charles II, dem Sohn des alten, in die Zukunft schauen wollte. Viele Freunde Cromwells kamen daher aus ihren Löchern und rechneten mit einer Begnadigung. Sie hatten allerdings die Rechnung ohne den Wirt gemacht, nämlich eine korrupte royalistische Elite, die, kaum an der Macht, sich einen Dreck darum scherte, was sie versprochen hatte und einen nach dem anderen Puritaner köpfte oder hängte. Man war kreativ in der Wahl der Mittel. Viele wurden zuerst gehängt, aber dann doch im letzten Augenblick wieder abgenommen. Dann wurden ihnen die Glieder abgeschnitten, die Därme rausgeholt, der Kopf abgeschlagen und der Rumpf in vier Teile geteilt, und das alles vor einer entsetzt-faszinierten Menge von Schaulustigen.

Harris schreibt nun einen Roman, der in dieser Zeit spielt. Warum? Es ist anzunehmen, dass ihn angesichts gegenwärtiger globaler Fanatisierung und Ideologisierung genau dieses Thema reizte. Und dabei auch die Frage: Wer sind die Guten, wer die Bösen? Der Böse in diesem Roman ist gewiss ein Gentleman namens Richard Nayler, die Guten Edward Whalley und William Goffe. So scheint es jedenfalls zunächst. Nayler ist so etwas wie ein selbsternannter Sonderermittler, der im Auftrag der Regierung Charles II. die letzten flüchtigen Königsmörder verfolgt, sprich diejenigen, die das Todesurteil gegen Charles I. unterschrieben hatten. Sein Antrieb ist dabei eine Mischung aus persönlicher Rache und politischer Ideologie. Die letzten verbliebenen “Königsmörder” sind die oben genannten. Während nun Nayler eine vom Autor frei erfundene Figur ist, hat es Whalley und Goffe tatsächlch gegeben, und diese sind im Jahre 1660 tatsächlich nach Neuengland geflohen und dort bei diversen Puritanern, teilweise echten religiösen Fanatikern, untergekommen.

Es ist hohe Romankunst, wie Harris die historisch belegten, aber auch den “unbelegten” Nayler zum Leben erweckt. Wir erfahren nicht nur Anschauliches über beruflich-polische Lebensläufe, also z.B. über grausame Gemetzel, Intrigen und das Leben der meist puritanischen Siedler in Massachusetts und Connecticut, sondern auch höchst intime persönliche Nöte der Personen dieser Zeit. Das ganze wird historisch garniert mit Erwähnungen solch einschneidener Ereignisse wie das große Feuer in London, die Eroberung New Amsterdams durch die Engländer oder Erwartung des Jüngsten Tages im Jahre 1666, an die viele radikale Puritaner glaubten. Und solche historischen Großereignisse sind wiederum garniert mit pikanten Details. So wird beispielsweise in einem frühen Kapitel erwähnt, dass der Duke of York, der jüngere Bruder Charles II., eine absolut unpolitsche Person war, dem an nichts anderem lag als Völlerei und Hurerei. Eben dieser aber ist der Befehlshaber der Flotte, die New Amsterdam erobert, was der Krone 30.000 Pfund im Jahr einbrachte und der Stadt einen neuen Namen. Doch auch die Gegenseite wird nicht geschont. Es wird entlarvt, dass einer der fanatischten Puritaner, der Reverend John Davenport, sich einen Tripper zugezogen hatte, was immerhin ein Grund für seinen religiösen Eifer sein könnte.

Ich verrate nicht zu viel, wenn ich sage, dass am Ende das Böse verliert und das Gute gewonnen haben könnte… Aber der alte Whalley vetraut seinem Tagebuch auch an, dass er die Einsicht gwonnen hat und von ihr geradezu überrascht worden ist, dass beide, die Guten und die Bösen, immer zu 100 % geglaubt haben, dass sie im Recht sind.

Womit wir bei Charles III. sind, der wohl felsenfest davon überzeugt ist, dass Waffenlieferungen in die Ukraine das Richtige sind. Während Putin ihn wohl für einen verkappten Faschisten hält. Allein, so ganz stimmt dieser Vergleich wohl nicht in Zeiten, in denen Ideologie durch Zynismus und Propagandismus ersetzt worden ist.

Im Kleinen jedoch scheint sich Geschichte eins zu eins zu wiederholen. Im ersten Kapitel wird beschrieben, wie die beiden flüchtigen “Königsmörder” in ihrer “Gastfamilie” in Cambridge ankommen. Daniel Gookin, Puritaner aus Cambridge, hat sie aus England “mitgebracht”, um sie vor Verfolgung zu schützen. Seine Frau Mary ist aber ein wenig skeptisch und fragt ihren Mann, nachdem sie sich zurückgezogen haben:

“And where are we to put them, Daniel?…”

“The boys can give up their beds and sleep downstairs.”

“How long are they to stay?”

“As long as it is necessary.”

“What ist that? A day? A month? A year?”

“I cannot say.”

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Michael Ostrowski, Der Onkel. Rowohlt, Hamburg 2022

„Wozu brauche ich Beine, wenn ich fliegen kann?“ – „Zum Landen.“

Dieser späte Witz (auf Seite 315) ist zumindest EIN Schlüssel zum Verständnis dessen, was Michael Ostrowski ausmacht, zum Verständnis also auch dessen, was den Grundton seines Romans angeht. Der Witz fliegt nämlich selber wie ein Albatros und landet auch wie einer, nach einem wahren metaphysisch angehauchten Flug, voller Mut und Selbstgewissheit, kommt die Landung: Stolpernd, watschelnd, einfach zum Lachen. Aber man lacht ja nicht über den Vogel, sondern ist irgendwie dankbar für diese lustige Darbietung.

Im Grunde ist das ja auch das Prinzip der Eberhoferkrimi-Reihe mit Sebastian Bezzel und Simon Schwarz in Hauptrollen, dieser „urbayrische Klamauk“ (Prisma), in dem Michael Ostrowki fast unerkannt den Pathologen spielt, und aus dem er Simon Schwarz (hier Privatdetektiv) ausgewählt hat, um in der Verfilmung seines Romans den Nachbarn des „Onkels“ zu spielen, einen Polizisten, dem Widerwärtiges widerfährt und der gute Miene zum bösen Spiel machen muss. Mehr will ich dazu nicht verraten. 

Wenn Schauspieler anfangen, Bücher zu schreiben (meist Biografisches, Egoerbauliches), denkt man oft: Oh Schuster… – Bei Michael Ostrowski ist es umgekehrt. Hat man sein erstes und bisher einziges Buch gelesen, denkt man; Komm mal runter von der Bühne (oder vergiss doch diese Krimi-Reihen; in der Reihe „Ein Krimi aus Passau“ spielt der den Privatdetektiv Ferdinand Zankl) und schreib uns mal wieder was!

Nun, worum geht es in diesem Buch. Niemand kann das wohl besser schildern als die Leute vom Verlag, die in dem Buch etwas über das Buch sagen wollen:

Mike Bittini ist ein Spieler und Streuner, er war es schon immer. Nach siebzehn Jahren on the road kehrt er in seinem alten Ford Escort und den weißen Lederboots zurück nach Wien. Sein Bruder, der erfolgreiche Immobilienanwalt, ist ins Koma gefallen. Nun schleicht sich Mike in Sandros Villa wie der Habicht in den Hühnerstall.

Sandros Frau Gloria ist alles andere als erfreut, Mike wiederzusehen. Sie kennt ihn nur zu gut. Und tatsächlich bringt der unberechenbare Onkel in kürzester Zeit die beiden pubertierenden Kinder des Bruders auf seine Seite, führt sich auf wie der Hausherr, legt sich mit den Nachbarn an und erklärt Glorias Mutter den Krieg. Mike ist ein Katalysator verdrängter Leidenschaften, er sprengt alles in die Luft, was er berührt. Doch Chaos heißt manchmal Befreiung. Vor allem, wenn die Verhältnisse gar nicht so wohlgeordnet sind, wie sie scheinen.

Und Gloria wird in die Zeit zurückgeworfen, als sie sich für Sandro entschied, gegen Mike. War das damals der größte Fehler ihres Lebens? Oder steht ihr der gerade erst bevor?“

Aber was die Essenz des Buches angeht, das kann wohl keiner besser beschreiben als der Autor selber, der seiner Erzählung ein Kapitelchen ohne Überschrift voranstellt, was braucht es eine Überschrift, wenn jeder, der das liest, sofort kapiert, worum es geht, nämlich um eine Zusammenfassung des Buches, die nicht vom Verlag stammt.

Viele haben gefragt, warum es wert ist, diese Geschichte zu erzählen, und ich sage immer, alle Geschichten, die ich erzähle, sind wahr, weil ich an das geglaubt habe, was ich gesehen habe, und auf meinen Reisen durch all diese Länder und diese Städte, die mich mal mehr oder weniger freundlich und dann doch immer wieder wie einen Aussätzigen empfangen haben, aus der Stadt gefegt, geteert und gefedert, geliebt und geschasst, auf all diesen Reisen war ich ziellos, ein warmes Bett und ein Frühstück zu ergattern, sei es bei einem Freund aus besseren Tagen oder einer Zufallsbekanntschaft, war das Höchste der Gefühle und Ansprüche, aus dem Nichts hinein in eine Welt, die sich mir erschließen würde, Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug, hinein ins Unbekannte, alles Bekannte rutschte zurück, jeden Tag, jede Woche, jedes Jahr, immer weiter zurück im Kopf, in den hinteren Schädel, dem Vergessen anheimfallend, anheim, Oheim, wo bist du gewesen, wo bist du daheim, in dieser Welt ist man allein, Wolken am Himmel, Wolken, die alles verdunkeln, nur die Erinnerung an diesen Sommer leuchtet hinter düsteren Gefilden wie ein unauslöschlicher Stern, ein gleißend heller Punkt, ein winziger Urknall, aus dem alles entstanden ist, was ich heute bin. Und so ist diese Reise die letzte Reise, die letzte Geschichte, die erste und die letzte Story, hingeschmiert, unrasiert, verliebt und weggewaschen, it will be raining cats and dogs, der Hund jagt jaulend seinem Schatten hinterher und eine Katze beißt sich in den Schwanz, um dann davonzuspringen, fauchend und kratzend in den Straßengraben, GROOWWWLLLL und HOOOOWWWWLLLLL, kein Laut mehr zu hören, nur das Staubkorn in der Luft schwebt und legt sich auf die weiche leise Weise auf die harte Straße und verglüht.“

Dem literaturkundigen Leser brauche ich nichts von dieser “expressiven Sprache“ zu erzählen, dieser Biberköpfigen Atemlosigkeit, der onomatopoetischen Zügellosigkeit. Von 10 Punkten erhält der Roman von mir 10. Aber ich bin wahrscheinlich ein bisschen voreingenommen, da ich die Eberhoferkrimis so liebe… Aber sehen Sie doch selber nach. Sonst verpassen Sie noch was und haben das Nachsehen. Bei mir sind es eher Nachwehen. JUUUUUPPPPPIE, WOOOOWWWW.

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Willi Winkler: Herbstlicht – Eine Wanderung nach Italien. Rowohlt, Berlin 2022

Wer ist Willi Winkler?

„Willi Winkler ist ein deutscher Journalist, Übersetzer, Autor und Literaturkritiker der Süddeutschen Zeitung.“ Wikipedia)

Was hat mich veranlasst, ein Buch von Willi Winkler zu kaufen?

Willi Winkler kommt in der Süddeutschen Zeitung oft zum Zuge, wenn etwas ausgefallenere Themen zu bewältigen sind, solche über den Rand der Gesellschaft oder auch die Kanten der Kultur. Dabei verfährt er immer recht kenntnisreich und überrascht dabei immer mit frischen, unverbrauchten oder nie gebrauchten Formulierungen.

Bei letzterem kommt ihm dabei wahrscheinlich zugute, dass der Gegenstand, über den er schreibt, geradezu die Herausforderung zu einem solch kreativen Zugang darstellt.

Was aber ist, wenn er über Dinge schreibt, die eigentlich langweilig sind? Zum Beispiel über einen Fußmarsch von Wittenberg nach Mailand, bei dem einem ja naturgemäß nur alltägliche Dinge begegnen, die das Leben ausmachen, und die dabei ja extrem kontingent sind in ihrer zeitlichen Folge?

Willi Winkler scheint dabei ganz auf die Macht seines gewohnten Sprachstils und auf die Wirkung von detailliert präsentierten kulturellen Begebenheiten zu vertrauen. Ersteres verspricht dem Leser eine gewisse Freude, eine Wohlbehagen, weil ihm die schönen Wörter nicht auf der Zunge, sondern quasi im Ohr zergehen, letzteres nötig ihm eine gewisse Bewunderung ab und führt schließlich zu einem kleinen Stolz, teilhaben zu können an so viel Schönem und Interessantem…

Ich kann es kurz machen. Willi Winkler bricht im Herbst 2020 oder 2021 von Wittenberg auf, um zu Fuß durch Deutschland (also Thüringen, Baden-Württemberg und Bayern), über die Alpen und bis Mailand zu gehen. „Italien war zuerst kaum mehr als ein Gedanke, eine spinnerte Idee, der Wunsch, an Ort und Stelle aufzubrechen und loszugehen. Wohin? Einfach nach Süden und möglichst weit. In Italien müsste man jetzt sein, aber wie kommt man dahin? Fahren kann jeder Depp, und jeder zweite tut es auch.“ Aber gehen sei etwas ganz anderes. Es sei langweilig, habe keine Höhepunkte, sagt der Autor. Goethe sei natürlich mit einer Kutsche nach Italien gereist, dieses Vorbild aller akademisierten Italienfahrer. „Also gehen, fortgehen, immer weitergehen.“ So beschließt es der Autor.

Warum also diese Wanderung? Warum er dieses Buch schreibt ist klar. Willi Winkler wollte natürlich aus diesen 1 ½ Monaten Tätigkeit Kapital schlagen. Aber warum er 1.300 km zu Fuß bis nach Mailand geht, wird aus dem, was wir vom Autor erfahren, nicht ganz klar. Er sagt als Erstes: „Italien!“ Tut das als „spinnerte Idee“ ab und fragt „Wohin?“. Dann sagt er „nach Süden“ und „weit weg“. Wer „weit weg“ will, fürchtet sich vor dem „Hier“. Also ist hier nichts anderes als eine Flucht geplant. Und bei der Frage des Wohin fällt ihm sogleich Italien ein, ein Ort zum Wohlfühlen, wenn man sich wie Goethe von einer Frau (von Stein) bedrängt fühlt.

Halten wir also fest: Willi Winkler will abhauen, weil er Probleme mit einer Frau hat. Er wählt als Ziel der Flucht Italien, weil es da geliebte literarische Präzedenzfälle gibt. Und er geht zu Fuß, weil er sich mit seinen 65 Jahren noch etwas beweisen will („Fahren kann jeder Depp.“). Was den Schluss nicht unwahrscheinlich erscheinen lässt, dass bei seiner Rückkehr von diesem Alpenspaziergang eine junge Geliebte in München auf ihn wartet… Oder eine Vulpius?

Natürlich hat der erfahrene Journalist vor der Reise gut recherchiert. Ist also z.B. den Fragen nachgegangen, wer vor ihm nach Italien gegangen oder auch gefahren ist und ob es nicht doch auf dem Weg von Wittenberg nach Italien das eine oder andere Juwel gibt, über das man en passant einmal berichten könnte. Luther z.B. ist 1510 von Wittenberg aufgebrochen, um nach Rom zu pilgern. Goethe hat später die Postkursche bevorzugt. Das erste Juwel findet sich gleich am Ende der ersten Tagesetappe in Wörlitz, ein Englischer Park mit Nachbauten italienischer Landschaften incl. Vesuv. Erwähnung findet dann aber auch ein Dichter namens Friedrich von Matthison, der in Oranienburg begraben ist und dessen „wispernde Gedichte“ heute niemand mehr kennt. Der Leser fragt sich natürlich, warum ihm dieser Name zur Kenntnis gebacht wird, wenn er ihn offenbar mit Einwilligung des wandernden Autors sogleich wieder vergessen kann…

Es gibt jedoch auch Wegspuren von weitaus berühmteren Männern. Ausgerechnet in Bitterfeld, auf dem Parkplatz von „Ferropolis“, prangt Kants Satz: „Aufklärung ist Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“, was den Autor zu einer kleinen philosophisch-politischen Betrachtung verleitet: Willi Winkler schreibt also: „Ferropolis ist das Gegenteil von Kant, lupenreine DDR, die hegelianische Nachgeburt, denn wirklicher als hier in diesen Endmoränen des Industriezeitalters konnte sich die Vernunft nicht äußern. Vielleicht war die DDR ja mal eine gute Idee. Als philosophische These machte sie eindeutig mehr her, der philosophisch gedachte Staat tat sich dann mit seiner eigenen Erfindung überraschend schwer.“ (p. 22)

Das ist wohl aus dem Schmähkästchen eines einsamen Wanderers geplaudert.

Es folgen dann Namen und Ereignisse, an die am Wegesrand sozusagen erinnert wird: Karl Philipp Moritz war in Halle (Saale) zur Heukur, Bad Lauchstädt besitzt ein Goethe-Theater, bei Vogelsberg wurden 1964 drei amerikanische Piloten abgeschossen. Zwischen durch macht der Wanderer Witzchen mit den Ureinwohnern (er nennt z.B. abends die Kellnerin eine „Gastabeiterin“, da sie bayerischen Dialekt spricht, kommt damit aber nicht gut an…). Dann folgen häppchenweise Notizen aus dem Tagebuch: (Abends im Wirtshaus) „Unvorsichtigerweise habe ich mich sofort – weil es spät war und sie Schluss machen wollte – zum Essen hingesetzt und bin erst hinterher unter die Dusche. Die Nacht war dann recht kalt.“ (p. 49) Wahrscheinlich ist das eine Anspielung auf einen Tagebucheintrag Goethes, die ich aber leider nicht verstehe.

Ilmenau ist Goethekennern natürlich bekannt. Von hier aus schrieb der Meister Gedichte an Charlotte von Stein, die durfte er ihr schreiben, „sonst gar nichts. Da waren die Glasbläsertöchter und Strumpfwirkerinnen schon leichter zu haben.“ (p. 53) Beim Dorf Allzunah gibt es einen Atombunker zu besichtigen, in der Nähe auch eine Luther-Kirche, weil Luther hier durchgezogen ist. Es hängen da auch Wahlplakate mit Maaßen, und er trifft einen Mann mit Hund, der seine Bierflasche in der linken Brusttasche mit sich trägt, kurz darauf eine ehemalige Ärztin, die jetzt in einem kleinen Zelt lebt, drei Nonnen begegen ihm, und ach ja, in Nürnberg war ja der Kaspar Hauser.

In Nürnberg gesellt sein Sohn Michael sich zu dem Wanderer in der „Monadischen“ Existenz, doch der nimmt schon bald den nächsten Zug nach München, wahrscheinlich, da sich ihm der Sinn der Reise nicht erschließt. In Nördlingen wird erwähnt, dass hier mal ein Maler namens Bartholomäus Zeitblom gelebt hat (Insider wissen warum…). Es folgen ein Referat über das, was in einem Gasthaus im Fernsehen zu sehen ist und aus einem anderen Gasthaus lässt der einsame Wanderer uns wissen, was am Nebentisch geschwätzt wird.

Doch bald ist man in der Schweiz, natürlich werden da Dinge über James Joyce und über Friedrich Nietzsche erwähnt. Bei der Wanderung über den Splügen wird derer gedacht, die vorher diese Strapaze auf ich genommen haben, die Fähre über den Comer See verpasst, dann bei einem böser Sturz gottseidank nichts gebrochen, und als es endlich aufhört zu regnen, der Stoßseufzer: „Es gibt ein Leben ohne Regen!“

Das Ende des Weges stellt Mailand dar, für diesmal. Natürlich muss da auch was über Leonardo da Vinci geplaudert werden. Doch ganz zum Schluss die Feststellung: Ich kann nicht mehr gehen, was natürlich wieder garniert wird mit einem (un)passenden Zitat, diesmal von Seume: „Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.“ Schließlich der Hinweis auf einen anderen berühmten Rekonvalenzenten, Hemingway, der in Mailand an Krücken ging, aber wieder gehen lernte.

Das letzte Kapitel ist eine Reminiszens an eine Wanderung, die Willi Winkler vor Jahren mit seiner Schwester unternahm, von La Verna nach Rom. Das Buch Herbstlicht – Eine Wanderung nach Italien enthält also mehr als es verspricht: Zwei Wanderungen, eine nach, die andere in Italien.

„Gehen ist langweilig, hat keine Höhepunkte“, sagt der Autor schon auf der zweiten Seite. Am Ende hat mich die Neugier auf den nächsten Tag dazu angetrieben, das Buch von Anfang bis Ende zu lesen. Dann kann das Buch zum Gehen aber doch nicht so langweilig gewesen sein…

70

Haruki Murakami: Kafka am Strand. btb, München 2006

Überall auf der Welt werden wundervolle Geschichten erzählt. Aber je älter ich werde, desto häufiger komme ich zu dem Schluss, dass es nicht immer leicht ist, die kulturellen Hürden zu überwinden, die sich daraus ergeben, dass in jeder Kultur aus dem Inneren heraus die Dinge schriftstellerisch verarbeitete werden, was dem Leser anderer Kulturen eine Menge abverlangen kann. 

Nun könnte man sagen: Das ist doch gerade das Spannende. Die Dinge einmal von einer ganz anderen Seite zu sehen oder zu erleben. Das ist doch gerade das Herausfordernde. Sich nicht einfach dem Lesen hinzugeben, sondern den Leseprozess als einen Art Hürdenlauf zu verstehen, der, wenn man ihn vollendet, zu neuen Erkenntnissen, ungekannten Gefühlen und sportlicher Befriedigung führt.

Aber so einfach ist die Sache ja nicht. Wenn ich mit Begeisterung die Romane von Martin Walser gelesen habe, sind die von Böll für mich vielleicht eine Zumutung. Oder wenn ich mit Thomas Mann literarisch sozialisiert worden bin, tue ich mich später vielleicht etwas schwer mit John Updike. Das Gerede von den kulturellen Differenzen läuft also letztendlich vielleicht auf nichts anderes als auf eine Frage des Geschmacks hinaus.

Ich konnte mich nicht erinnern, schon mal was von einem japanischen Autor gelesen zu haben. Da fiel mir Haruki Murakamis Buch Kafka am Strand in die Hände. Der Titel gefiel mir. Ich war so naiv zu vermuten, dass es dem japanischen Autor gelungen sei, eine Situation zu erfinden, die Franz Kafka an einen möglicherweise imaginären Strand versetzte. Was macht dieser scheue Städter nun da? Ich wäre aber nie darauf gekommen, dass Kafka der Vorname eines japanischen Jungen sein könnte, dessen voller Name da lautet: Kafka Tamura. Als ich das merkte, war es schon zu spät. Ein einmal angefangenes Buch lese ich in der Regel, komme, was da wolle, zu Ende.

Ich werde indes den Teufel tun, das Buch auch noch zu besprechen. Wer mehr über dieses Buch, in dem es um den Ödipus-Komplex geht, aber auch um mysteriöse Mordaufträge von Männern, die z.B. Johnny Walker heißen, um einen Mann, der mit Katzen reden und surreale Ereignisse voraussehen kann, wissen will, der schaue das im Internet nach. In dem Buch könnte alles einen Zusammenhang haben, vieles bleibt in der Schwebe, manches ist auch ganz passabel beschrieben. 

Murakamis Werke sind offenbar sehr populär, werden der Popkultur zugerechnet, was immer das heißen mag. Man blättert sich durch das Buch, wie man durch einen Supermarkt schlendert, in dem man eigentlich gar nichts kaufen will.

69

Nils Minkmar: Montaignes Katze. S. Fischer, Frankfurt 2022

Nils Minkmar macht keinen Hehl aus seiner Verehrung für Michel de Montaignes Essais, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts geschrieben wurden und eine Fülle von ethischen und sonstigen Betrachtungen enthalten, ohne roten Faden, wie es gelegentlich heißt, in denen es also wie Kraut und Rüben durcheinander geht, deren Geschlossenheit nach dem Urteil mancher Gelehrter aber aus der gedanklichen Klarheit des Autors resultieren soll. Ich frage mich allerdings, wie das gehen soll.

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Minkmar macht allerdings einen großen Hehl daraus, warum er diesen Roman, der ausschließlich im Jahre 1584 spielt, nach Montaignes Katze benennt, die nur sehr am Rande in der Erzählung Erwähnung findet. Ich habe dabei natürlich sofort an Schrödingers Katze gedacht, und zwischen den beiden Begriffen spinnt sich tatsächlich ein roter Faden, denn Schrödingers Beitrag zur Quantenphysik sind ebenso clever wie Montaignes kluge Aphorismen. Nils Minkmar verrät allerdings in einem Interview des „Domradios“, er habe diesen Katzentitel nicht zuletzt deshalb gewählt, weil Katzen für ihn und auch für Montaigne für privates Glück stehen, für ein gemütliches Zuhause und allgemein für irdisches Glück. Wenn ich meine beiden Kater Aladin und Adonis betrachte, wie sie da friedlich beisammen und ineinander gerollt in der Sofaecke liegen, dann kann ich nicht anders als diese Wertschätzung vorbehaltlos zu zu teilen.

Die Handlung spielt also im Jahre 1584. In Frankreich herrschten unruhige Zeiten, die Katholiken hatten im Jahre 1572 in der sog. Bartholomäusnacht tausende von Hugenotten in den Straßen von Paris und auch im übrigen Frankreich geschlachtet. Und nun war der König gestorben und es gab gleich drei Henris, die für die Nachfolge in Frage kamen. Die Handlung des Buches von Minkmar besteht nun im wesentlichen in der Schilderung der Umstände, unter denen Montaigne von einflussreichen Politkern dazu gedrängt wurde, bei der Inthronisierung von Heinrich von Navarra zu helfen. Das Buch stellt allerdings nicht die politischen Aspekte in den Vordergrund, sondern vermittelt dem Leser ein anschauliches Bild von den Lebensumständen solcher Menschen, die, aus allen Schichten kommend, einen Beitrag dazu geleistet haben, den Mann, anlässlich dessen Hochzeitsfeier so viele Hugenotten, seine Glaubensgenossen, ermordet wurden, zum neuen König von Frankreich zu machen. Heraus kam Henri IV, dem ja auch Heinrich Mann zwei bedeutende Romane gewidmet hat.

Montaigne war kein Politiker. Er hatte zwar das Amt des Bürgermeisters von Bordeaux, doch war er im Wesentlichen der etwas empfindsame Essayist, der seine Zeit von seinem Schloss aus beobachtete und kommentierte. Diese Figur wie auch alle anderen werden uns durch ihre Handlungen und Worte, nicht aber durch die Schilderung von Bewusstseinszuständen nahe gebracht. Dabei wählt der Autor einen streng parataktischen Stil, schnörkellos (so soll auch Montaignes Stil gewesen sein), ja fast etwas atemlos. Es waren ja auch keine besonders ruhigen Zeiten. Aber es begann immerhin eine Periode der französischen Geschichte, in der es zu mehr Frieden und Verständigung kam. Und es ist durchaus im Sinne des Autors, hierin eine positive Botschaft in unsere Zeitläufe hinein zu sehen.

68

Eckhart Nickel: Spitzweg. Piper, München 2022

Eckhart Nickel lässt seinen etwa 17-jährigen Ich-Erzähler als erstes verkünden: „Ich habe mir nie viel aus Kunst gemacht.“

In diesem ersten Satz des neuen Buches von Eckart Nickel deutet sich die Schwierigkeit an, in die der Autor mit diesem „Roman“ geraten ist. Die Geschichte ist aus der Sicht eines jungen Schülers geschrieben, enthält indes eine sich aufdrängende Fülle von kunsthistorischen, musikhistorischen und literarischen Mosaiksteinen, die der Autor, nicht der Erzähler an den Mann bringen will.

Um nicht zu protzsüchtig zu erscheinen (davon legt auch die geradezu bescheidene, große Ansprüche abwehrende Eingangsbemerkung Zeugnis ab), aber dennoch auf die Absicht, Großes aus dem Universum der Kunst kundzutun, nicht verzichten wollend, wird neben dem eher normal erscheinenden Erzähler (der sogar darunter leidet, dass er ganz normale Eltern hat) eine zweite Handlungsfigur an die Seite gestellt, die es in sich hat:

„Was Carl auch äußerte war wohlüberlegt und bedeutungsvoll formuliert. Ich war wie geblendet von der Allgegenwart seiner Gedanken, die nicht nur wie das geschriebene Wort klangen, sondern genug Sinn ergaben, um aus einem schlauen Buch stammen zu können. Weil ich nie zuvor einen Menschen so hatte reden hören, wurde mir allein von dem Versuch, seinen Ausführungen zu folgen, schwindlig. Fast schien es, als verfolge er mit jedem Wort, das er sagte, ein Ziel, auf das alles hinauslief, dessen Umrisse für mich jedoch umso weiter in einem dichter werdenden Nebel verschwanden, je länger ich über sie nachzusinnen imstande war.“

Hätte der Erzähler nicht auch etwas einfacher sagen können: „Carl sprach so druckreif, dass mir fast schwindlig wurde und ich manchmal Probleme hatte, seinen mündlich vorgetragenen Worten zu folgen.“? Der Erzähler spricht also elaborierter als ihm ansteht, wenn er z.B. so wegwerfend von „schlauen Büchern“ spricht. Eifert er bloß Carl nach, da er in dessen Sog geraten ist? Ist das Buch vielleicht sogar als Satire auf all die kulturkackenden Schönredner unserer Zeit und der Vergangenheit zu verstehen?

Ich komme auf diese Frage weiter unten noch einmal zu sprechen. Es muss aber zuerst die dritte Hauptperson des Buches Erwähnung finden, Kirsten, die offenbar großes Zeichentalent besitzt, jedoch von ihrer Kunstlehrerin, einer Frau Hügel, in gewisser Weise gemobbt wird. Dieses Mobbing ist überhaupt der Anlass und Ausgangspunkt dessen, was man die Handlung des Romans nennen kann. Es wird geschildert, dass die Schüler der Klasse, in der der Erzähler, Carl und Kirsten sind, im Kunstunterricht ein Selbstporträt anfertigen sollten. Die Lehrerin schaut sich Kirstens beinahe vollendete Zeichnung an und sagt mit tonloser Stimme: „Ausgesprochen gelungen, Respekt: Mut zur Hässlichkeit!“

Kirsten verlässt daraufhin wortlos das Zimmer, und Carl und der Erzähler beschließen, Kirsten zu rächen. Ihr Plan: Kirsten soll sich in Carls verstecktem Zimmer verstecken, und sie beide lassen dem Schulleiter ein von Kirsten schnell gemaltes Bild zukommen, das sie angeblich vor Kirstens Wohnung gefunden haben. Das Bild zeigt die tot im Wasser treibende Ophelia von Millais, von dem sich eine Kopie in Carls Kabinett befindet. Das Gesicht sind allerdings die Züge von Kirsten. Die beiden Jungs erbieten sich, Kirsten suchen zu gehen, doch als sie sie in Carls Unterkunft lachend begrüßen wollen, müssen sie feststellen, dass sie verschwunden ist. Mitgenommen hat sie die Silhouette des Hagestolzes von Carl Spitzweg, die sie mit einer Schere säuberlich ausgeschnitten hat.

Die beiden Freunde suchen sie nun im Kunstmuseum der Stadt, wo höchst Merkwürdiges passiert. Ein weiterer Spitzweg hängt in einer „Abseite“. Ein Bild von Philpp Otto Runge „Wir drei“ ist verschwunden, aber in dem leeren Rahmen befindet sich die ausgeschnittene Silhouette des Hagestolz. Später ist das Bild wieder da, aber der Hagestolz scheint verschwunden.Kirsten trifft schließlich im Museum ein, und dann ist das Buch auch schon zu Ende. Die Drei gehen natürlich nicht in die untergehende Sonne, sonderen in einer Formation durch den Park, die der auf dem zerschnittenen Spitzweg-Bild (dem Hagestolz, siehe Buchumschlag) ähnelt.

Womit wieder ein Thema angeschnitten wird, das schon mehrmals im Buch vorkam. Merkmale der Wirklichkeit (Hier: der Erzähler und Kirsten, hinter ihnen Carl, gehen durch den Park) werden mit ästhetischen Sachverhalten (hier: Spitzweg: Der Hagestolz) in Beziehung gesetzt. Die Wirklichkeit wird also ästhetisch aufgeladen. Weitere Beispiele hierfür finden sich in einer Situation, in der sich der Erzähler von Kirstens Mutter verabschiedet und diese ihm zuwinkt mit einer Handbewegung, die sich auch bei dem Engel der Verkündigung von Leonardo da Vinci findet. Oder ein Angler im Park, ein Mann mit Hut, der den Erzähler veranlasst, sich über dessen Ähnlichkeit mit einem statischen Müßiggänger in dem Gemälde Grande Jatte von Georges Seurat auszulassen.

Das Buch ist also stark aufgeladen mit Kunst, mit Literatur, mit Musik. Der Bedeutsamkeit solcher Phänome wird dadurch das Potential, eher Schrecken als Unterhaltung zu bieten, ein wenig genommen, dass ein bisschen gekalauert wird. So wird einmal Kirsten „von Chopin“ von einer lästigen Bande von Mitschülern gerettet, da der Erzähler den Anführer mit dem gezielten (Diskus-)Wurf einer Schallplatte mit Nocturnes von Chopin kaltstellt. Im Museum kommen sie durch eine Nebentür gleich „ins Mittelalter“. Etc.

Eckhart Nickel ist „vorwiegend“ Reisereporter. Das Buch Spitzweg ist eine Art Reise durch die Gedankenwelt des Autors, also weniger ein Roman. In einem Roman wird traditionellerweise etwas erzählt. In Nickels Buch wird eine teilweise etwas obstruse Handlung konstruiert (So werden die Jugendlichen vom Museumspförtner in einem Raum festgesetzt; Carl beginnt einen Vortrag zu den sie umgebenden Kunstwerken; der Pförtner schläft dabei ein; dann dürfen sie wieder gehen), wobei nicht 100% klar ist, ob es sich nicht um etwas Satirisches handelte. Dieses Konstrukt wird (siehe Beispiel) mit kulturellen Wissenscollagen tapeziert, deren Topografie anhand einer beeindruckenden Liste von Zitatnachweisen von Helmut Ballot bis Ludwig Tieck ausgeleuchtet wird. So kann manches Interessante entstehen (auch gegoogelt werden), aber kein guter Roman.

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„Bis meine Mutter mich so auf die Abgründe der Eitelkeit, die mit ihm einhergehen, hinwies, hatte ich den Spiegel immer nur als obskures Objekt zur Erkundung der Welt benutzt.“ (p.36)

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Ernst Tugendhat: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1. Auflage 1979

Wen sollte heute so ein altes Buch noch interessieren, zumal dessen Titelbegriffe es ausweisen als in einer fast unendlich langen Reihe von Publikationen zu dieser Thematik stehend? Ich selber bin darauf gestoßen in Folge meiner Lektüren von Dieter Henrich zum Selbstbewusstsein, die ich mehr oder weniger sentimentalisch aufgenommen hatte, um mich noch einmal meiner philosophischen Wurzeln zu vergewissern. Dessen Heidelberger Kollege Ernst Tugendhat, bei dem ich 1973 meine philosophische Examensarbeit (Bedeutung und Sprechhandlung) geschrieben hatte, war mir in Erinnerung wegen seiner Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie Anfang der 70er Jahre, zu denen Handouts gereicht wurden, das Taschenbuch bei Suhrkamp wurde 1976 nachgereicht.

Diese beiden Bücher von Ernst Tugendhat stehen in einer gewissen Beziehung. Man könnte das so formulieren: Tugendhat hat sich erst einmal inhaltlich und auch methodisch warmgelaufen, um dann in einem breit angelegten Angriff über die traditionelle Theorie der von ihm so genannten „Heidelberger Schule“ (im Wesentlichen: Dieter Henrich) herzufallen, die er mit den Mitteln der sprachanalytischen Philosophie zerlegt. Dieses philosophische Sägewerk ist aber nicht nur „Geschichte“ und es bedarf keines Sentiments, um sich mit diesem Buch zu beschäftigen, das mir in der 9. Auflage von 2017 vorliegt. Es ist auch nach 40 Jahren noch aktuell, da es überaus klar eine Abrechnung mit wegweisenden Autoren des vorigen Jahrhunderts darstellt.

Schon in den Überschriften zu einzelnen Vorlesungen werden deutliche Markierungen gesetzt, wenn Tugendhat z.B. zur 3. Vorlesung vorgibt, die traditionelle Selbstbewusstseinstheorie befinde sich in einer Sackgasse, und zur 4. Vorlesung bemerkt, das Ich steige zum „ich“ ab. Noch deutlicher wird er in Bezug auf Hegel, dem in der 13. und 14. Vorlesung ein „Kehraus“ angekündigt wird. Dazwischen befinden sich die spannenden Analysen zu Wittgenstein, Freud und Kierkegaard, Heidegger und Mead. Das „Sichzusichverhalten“ (Heidegger), dessen dialogische Basis (Mead) und der Gedanke, dass sich verantwortliches Handeln rational begründen lassen muss, sind dabei wichtig Wegmarkierungen, die alle zu einem gemeinsamen Ziel führen können.

Bei aller kritischen Grundtendenz der sprachanalytischen Interpretationen eignet Tugendhat eine gewisse Fährnis. So weist er zwar nach, dass Heideggers Nähe zum Nationalsozialismus durchaus „systembedingt“ war ( sein „entrationalisierter Wahrheitsbegriff“), was ihn aber nicht hindert, dessen Denken in wesentlichen Gesichtspunkten anzuerkennen und für eigene Gedanken nützlich zu machen. Und in Bezug auf Hegel macht er deutlich, dass dessen Dialektik („Tingeltangel“) zwar einige widersinnige Argumentationsketten enthält, zum Schluss aber etwas Richtiges stehen kann. Es kommt also nicht etwa „etwas Richtiges“ dabei heraus, sondern der Schluss enthält deskriptive Elemente, denen man Wahrheit zusprechen muss. Und augenzwinkernd weist Tugendhat darauf hin, dass ein „richtiger Schluss“ natürlich nicht den Unsinn heiligt, der in den Prämissen steckt…

Letztendlich geleitet der sprachanalytische Ansatz Tugendhat zu einem tiefen Verständnis der causa humana, und er scheut sich nicht, das, worum es uns gehen sollte, bei einem verständlichen Namen zu nennen: Brüderlichkeit. Das ist der oft vergessene Drillingsbruder der Französischen Revolution.

66

Thomas Mann: Der Erwählte. S.Fischer Verlag, Hamburg 1956 (1951)

Es ist davon auszugehen, dass Thomas Mann nach seiner langjährigen Arbeit an Joseph und seine Brüder (1933d bis 1944), das er zunächst für das letzte großes Werk hielt, das ihm hatte gelingen können, und nach einer mehrjährigen Beschäftigung mit dem Doktor Faustus, in dem er sich u.a. mit dem Nationalsozialismus, aber auch mit den Musikströmungen seiner Zeit auseinander gesetzt hatte, nunmehr der Auffassung war, sein Lebenswerk im Großen und Ganzen vollendet zu haben. Thomas Mann hat bekanntlich selten etwas frei erfunden, entlehnte das Personal seiner Geschichten gern seinem Bekannten- und Verwandtenkreis und auch den Stoff aus der Geschichte der Welterzählungen (die Bibel z.B. und das Doktor-Faustus-Motiv).

Im Jahre 1951 brachte er dann aber ein weiteres Buch auf den Markt, einen relativ kurzen Roman, dessen Geschichte/Erzählung sich im Wesentlichen auf das Versepos „Gregorius“ des mittelhochdeutschen Dichters Hartmann von Aue stützt. Warum diese Erzählung? Diese Frage zu beantworten erlaube ich mir, mich nicht mühevoller Recherche zu unterziehen, sondern eigenem freihändigem Urteil anzuvertrauen. Erster Versuch: Ihm, Thomas Mann, war einfach danach zu Mute. Im Joseph hatte er sich schon genüsslich, aber unter größten Strapazen detaillierten Recherchierens mit der „Gottesfrage“ beschäftigt. Solches „Mehl im Kuchen“ blieb dem Leser verborgen auf Grund der travestitisch-witzigen Verarbeitung. Nun wollte er offensichtlich „so etwas“ noch mal machen, zugleich aber seinen uneingeschränkten Spaß mit und an der Sache haben. So kam dieser wortverspielte Roman zustande. Zweiter Versuch: Ihn reizte das Motiv des Inzests (cf. die Eltern des Potiphar, dieses alte, runzlige Geschwisterpärchen!), das in der Geschichte vom aus dem Sündenpfuhl empor gerissenen Papst Gregorius voll ausgereizt wird. Der Bruder zeugt mit der Schwester einen Sohn, der später die eigene Mutter heiratet und mit ihr zwei Kinder zeugt, die er als Papst unter seine Fittiche nimmt: Der Ehegemahl der einen Tochter, also „Nichte“ erhält in Rom eine Anstellung als Maler, „teils seiner Gaben wegen, teils, weil er eine Nichte des Papstes zur Frau hatte. Dies nennt man Nepotismus, gegen den aber nichts zu sagen ist, wenn Verdienste ihn rechtfertigen.“

„Voll ausgereizt“? Der Erzähler deutet an, dass die Geschichte ja noch hätte weiter gehen können. Denn der Papst spricht zu seiner Ehefrau/Mutter seiner Kinder, die ihn am Ende der Geschichte in Rom aufsucht und ihm seine „Nichten“, also Kinder vorstellt:

„Da siehst du, ehrfürchtig Geliebte, und Gott sei dafür gepriesen, daß Satanas nicht allmächtig ist und es nicht so ins Extreme zu treiben vermochte, daß ich irrtümlich auch noch mit diesen in ein Verhältnis geriet und etwa gar Kinder von ihnen hatte, wodurch die Verwandtschaft ein völliger Abgrund geworden wäre. Alles hat seine Grenzen. Die Welt ist endlich.“

Ja, alles hat seine Grenzen. Der Gebrauch dieser Redewendung in dieser ironisierenden Weise ist typisch, solche Gebrauchsverfremdung war ja schon ein wesentliches Stilmerkmal der Joseph-Romane. Neben dem Spiel mit Wörtern, also dem Spiel auf der lexikalischen Ebene (Wellen z.B . werden grundsätzlich „Ündine“ genannt, aber das ist nur eins von hunderten von Beispielen!) ist das Spiel mit Redewendungen ein Hauptquell des Vergnügens für Autor und Leser.

Am Ende streiten sich Mutter und Kind/Gatte/Papst, wer denn nun die größere Sünde begangen hat. Dabei geht es auch darum, wer „davon“ gewusst hat und wer nicht oder weniger. Denn der Papst gesteht der Frau, dass er „im Grunde“ wusste, worauf er sich da eingelassen hatte nach seiner Rückkehr als junger Mann, der den bösen Freier seiner Mutter vertrieben hat, ohne „genau“ zu wissen, dass er zu seiner Mutter zurückgekommen war. Das Spiel mit dieser Grauzone zwischen Bewusstem und Unterbewusstem, das ist uns vom Joseph bekannt. Hier sprechen Papst und Mutter über ihren Inzest so:

„Vater der Kristenheit, wie schwer beschuldigt Ihr ihn!“ (sich selber als jungen Mann)

„Nicht zu schwer. Der Papst wird mit dem Fant nicht schonender umgehen, als Ihr mit Euch umgegangen seid. Ein Jüngling, der auszieht, seine Mutter zu suchen, und sich ein Weib erkämpft, das, sei es noch so schön, seine Mutter sein könnte, muß damit rechnen, daß es seine Mutter ist, die er heiratet. Soviel von seinem Verstande. Seinem Blute aber war die Einerleiheit von Weib und Mutter vertraut, lange bevor er die Wahrheit erfuhr und sich gar komödiantisch darüber entsetzte.“

Dieses Wort des „Vaters der Kristenheit“ enthält eine vielschichtige Ironie, die jeder Leser mit dem Verstand, den ich bei der Lektüre meines Blogs voraussetze, sofort begreifen wird. Mit Blut ist hier allerdings nichts zu machen…

(Es gibt eine sehr interessante Dissertation von Carsten Bronsema, Thomas Manns Roman „Der Erwählte“. Eine Untersuchung zum poetischen Stellenwert von Sprache, Zitat und Wortbildung, die einen Stellenkommentar enthält, den heranzuziehen das Lesevergnügen durchaus befördern kann.)

65

Thomas Mann: Joseph und seine Brüder. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1964

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Obwohl Thomas Manns Romane über die biblische Gestalt Joseph, Sohn Jaakobs, zu den „Jahrhundertwerken“ der Literatur gerechnet werden, zusammen genannt etwa mit James Joyces Ulysses und Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, gehe ich wohl nicht fehl in der Annahme, dass viele meiner Zeitgenossen, zumal wenn sie keine Affinität zur Literaturwissenschaft haben, von diesem Werk noch nie etwas gehört haben oder wenn, dann allenfalls von dem berühmten Kapitel Die Damengesellschaft, in dem geschildert wird, wie sich zig ägyptische Damen der Hofgesellschaft bei einem Dinner ausnahmslos beim Apfel Schälen dermaßen in den Finger schnitten, das ein allgemeines, gewaltiges Blutbad entstand, – eine Folge dessen, dass der schöne, junge Joseph ins Zimmer trat, um ihnen Tee einzugießen. Das Ganze war von Potiphars Weib, die unsäglich in Joseph verliebt war, arrangiert, inszeniert und provoziert worden, und zwar aus Frust darüber, dass sie beim Joseph keinen Fuß in die Tür kriegte, bzw. Joseph nicht dazu zu bewegen war, mit ihr „Köpfe und Füße zusammenzutun“.

Die Szene beim Apfel Schälen ist natürlich, was realistisches Geschehen angeht, maßlos übertrieben, also völlig unglaubwürdig. Aber sie verdeutlicht eine ästhetische Maxime, an die sich Thomas Mann hält: Nicht die Dinge, die beschrieben werden, sind wichtig. Historische Wirklichkeit oder wirklichkeitsgemäße Wahrscheinlichkeit stehen nicht zur Debatte. Was allein zählt, ist eine psychologische Plausibilität, die sich an ästhetischen Kriterien ausrichtet. Wenn die Geschichte wunderbar erzählt wird, ist alles erlaubt, darf alles passieren. Das poetisch infiltrierte Herz des Lesers öffnet sich sozusagen für alles, was da erzählt wird: In diesem Kosmos glaubt er alles…

Das allerdings ist nur ein Teilaspekt, also auch nur die halbe Wahrheit. Thomas Manns Werk wird nämlich nicht nur von der Literaturwissenschaft hoch geschätzt und wurde seinerzeit auch von der Leserschaft begeistert aufgenommen, sondern begründete auch ein hohes Ansehen als Kulturwissenschaftler, da er den biblischen Stoff, vor allem aber auch die Kulturgeschichte Ägyptens, akribisch aufgearbeitet und in den Roman hinein gewoben hat. Greift man sich z.B. einige der zahlreichen geographischen Namen oder auch Begriffe aus der ägyptischen Kulturgeschichte, mit denen zur Kennzeichnung des Pharaos und seiner „Theologie“ hantiert wird, heraus und googelt sie, stößt man praktisch immer auf einschlägige Belege für all dieses. Die Leser der 30er und 40er Jahre der Romane hatte meist keine Chance zu überprüfen, ob hier einer mit „erfundenen“ Kunstwörtern, die ägyptisch klangen, jonglierte, oder ob tatsächlich Kulturgeschichte neu geschrieben wurde.

Bei meiner erneuten Lektüre dieses Werkes nach über 50 Jahren habe ich natürlich feststellen müssen, dass fast alles, was ich las, so gut wie neu für mich war, weil ich es damals entweder nicht verstanden oder inzwischen vergessen habe. Und es gäbe für mich so viel Entdecktes zu bedenken oder zu besprechen. Will ich aber gar nicht, weil so vieles über diese Romane schon geschrieben worden ist, dass es unwahrscheinlich wäre, dass ich dem noch etwas Originelles hinzufügen würde. Ich widerstehe auch der Versuchung, besonders witzige oder komische Stellen genüsslich zu zitieren und (wahrscheinlich völlig unwitzig) zu kommentieren. Ich möchte allerdings auf einen Begriff eingehen, der mich auch damals, also vor mehr als einem halben Jahrhundert, bei der Lektüre des Romans beschäftigt hat, den der Travestie.

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Travestien begegnet man entweder im Theater (früher häufiger als heute) oder in der sog. Kleinkunst oder in der Musikindustrie. Bezogen auf diesen Bereich versteht man darunter das Auftreten einer Person unter falschem Geschlecht, also ein Mann spielt eine Frau oder umgekehrt. Conchita Wurst (bürgerlich Thomas Neuwirth) gewann im ESC 2014 und wurde in Europa so als Travestie-Künstler bekannt. Markenzeichen: Vollbart und langes Kleid. In der Literatur versteht man unter „Travestie“ etwas Ähnliches, nämlich auch so etwas wie eine Mogelpackung: Es wird einem etwas Lustiges geboten, aber es geht um eine sehr ernste Sache. (Wenn ich es recht bedenke, habe ich genau so mein Leben verbracht, mein Leben war ernst, aber ich fand es immer auch zum Lachen… ) Thomas Mann nimmt sich ein biblisches Thema vor, das natürlich vielen Menschen „heilig“ ist. Zugleich schildert er viele Details der ägyptischen Hochkultur. Aber wie macht er das? Er schildert die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern als Familiensaga, in der keiner dem andern grün ist. Er schildert Jaakob als einen betrügerischen Großhirten, der im Verbund mit seiner ehrgeizigen Mutter dem älteren Bruder das Erbe klaut. Sein Lieblingssohn Joseph ist kein Deut besser als die übrige Brut, und der Alte weiß das, will es aber nicht wahrhaben, da er an dessen göttliche Bestimmung glaubt. Überhaupt die Sache mit Gott, die ist sehr problematisch. Haben die jüdischen Stammesväter Gott gefunden oder nicht in Wirklichkeit „erfunden“? Der letzte Satz des Romans lautet:

„Und so endigt die schöne Geschichte und Gotteserfindung von

Joseph und seinen Brüdern.“

Und auch auf der ägyptischen Schiene dieses Romas erfährt der Leser Erstaunliches. Der junge Pharao ist mehr feinsinniger Philosoph als Machtmensch. Er diskutiert mit Joseph über den Unterschied von „Gott am Himmel“ und „Gott im Himmel“. Ersteres ist offenbar die Sonne. Aber die wird entgegenständlicht, wird damit der Konkurrenz zu anderen Gottheiten entzogen und so abstrakt zu einem „Gott im Himmel“, der also unsichtbar, einmalig, konkurrenzlos ist. Der reinste Monotheismus also auch im „drolligen“ Ägypterland.

Travestie im literarischen Sinne ist also die unernste Darstellung eines ernsten Gegenstandes. Dieser Unernst ist einerseits da auf der Ebene des erzählerischen Zugriffs, liegt in der psychologischen Bloßstellung des vermeintlich Unantastbaren. Sie ist aber vor allem ein sprachliche Angelegenheit. Thomas Mann schlägt Purzelbäume, erfindet eine eigene Sprache, die die gewohnte Sprache verhunzt, schreibt in einem umgangssprachlichen Duktus, wo Hochsprache angesagt ist, macht durch Wortschöpfungen und Verdrehung von Redewendungen deutlich, dass ihm nichts heilig ist.(Ich widerstehe der Versuchung, hier schöne Beispiele anzuführen. Denn aus dem Kontext gerissen, könnten sie ihren Charme ein wenig einbüßen.) Und das alles in so einer spielerisch-kunstvollen Weise, dass dem Leser das Herz aufgeht. In einem Satz: Das ist wahrhaft große Sprachkunst, die den Leser mitreißt, auch noch nach 1500 Seiten. Wie hat der Mann das durchgehalten?

Natürlich wird auch häufig auf die exponierte Rolle des Erzählers in diesem Roman hingewiesen, der sich immer wieder einmischt in das, was es zu erzählen gibt. Aber das ist nicht romanspezifisch. Dieses Reflektieren der Erzählerrolle findet sich in anderen Romanen auch, im Doktor Faustus und auch im Erwählten. Dieses auf die Erzählerrolle reflektierende Spiel ist m.E. doch arg übertrieben worden und schien wohl dem Autor geeignet, sich selber ein wenig lieb haben zu können. Im Erwählten wird einmal von der Einsamkeit der erzählten Figuren gesprochen. Das klingt zunächst ein wenig merkwürdig, denn wie sollten die fiktiven Figuren so etwas fühlen können? Aber ich denke, Thomas Mann spielt hier an auf die Einsamkeit dessen, der sich am Schreibtisch hinter verschlossenen Türen etwas Lebendiges ausdenkt, in das er sich dann sogar ein wenig verliebt. Pygmalion lässt grüßen. (Man sollte nicht Thomas Manns Fähigkeit unterschätzen, durch Schilderung von schönen Dingen/Menschen sich für das zu entschädigen, worauf er zum Wohle seines Ruhmes verzichten musste.)

 

64

Juli Zeh: Über Menschen. Luchterhand, Berlin 2021

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Der neueste Roman von Juli Zeh ist offenbar mit heißer Nadel gestrickt. In ihm werden gewisse Veränderungen im Leben der Protagonistin, Dora, geschildert, die sich alle im ersten Jahr der Pandemie ereignen. Schuld an diesen Veränderungen ist, um es einmal ein wenig platt und damit auch nicht ganz richtig zu sagen, Corona. Damit dürfte der Roman also das Interesse einer breiten Leserschaft auf sich ziehen, da wir ja alle schon seit mehr als zwei Jahre in dieser pandemischen Situation gefangen sind und dadurch alle zu erheblichen Veränderungen gezwungen werden.

Diese „heiße Nadel“ manifestiert sich aber nicht nur in der Schilderung von höchst aktuellen Ereignissen und Lebensumständen, sondern auch in der Anlage des Romans. der ein relativ einfach gestricktes Erzählmuster aufweist. 15 von 50 Kapiteln werden Namen als Titel vorangestellt. In diesen Kapiteln wird meist eine kurze Begegnung der Protagonistin mit einem Mitbewohner des Dorfes Bracken geschildert, so dass wir in Umrissen erfahren, mit wem die Stadtflüchtige es auf dem Lande zu tun bekommt. Den meisten übrigen Kapiteln werden schlicht die Namen verschiedener Gegenstände vorangestellt, die in der im Kapitel geschilderten Episode vorkommen. Das können Pfandflaschen“ oder „Messer“ sein, „Farbe“ oder „Mon Chéri“. Im zuletzt zitierten Kapitel wird geschildert, wie Dora einen Besuch bei zwei jungen Nachbarn abstattet, bei dem man sich über die Beschäftigung von Ausländern und Nazis unterhält. Man warnt sie vor ihrem Nachbarn Gote, der sich selber den „Dorf-Nazi“ nennt. Und zum Schluss sagt Steffen:

„Am besten, du gehst jetzt. Dein Hund hat die ganzen Mon Chéri aus dem Präsentkörbchen gefressen.“

Das mag als Schlusspointe eines Kapitels zwar ganz witzig klingen, zeigt aber auch, wie wenig die Überschriften mit den Inhalten zu tun haben. Der Roman besteht nämlich aus einzelnen Episoden, deren innerer Zusammenhalt lange unklar bleibt. Erst im dritten Teil des Buches erleben wir eine Fokussierung auf ein Thema, das man mit ein wenig Böswilligkeit so formulieren könnte: „Erst ein todkranker Nazi ist ein guter Nazi.“

Wenn wir uns der Sache weniger böswillig widmen, könnte man sagen: Eine Frau, die in einer Werbeagentur arbeitet und mit einem entschlossenen Klimaschützer liiert ist, der in der Pandemie zu einer Corona-Kassandra mutiert, beschließt, sich zu verändern und zieht von Berlin ins Brandenburger Land. Dort freundet sie sich mit ihrem unmittelbaren Nachbarn an, einem vorbestraften Nazi, nachdem sie wahrnimmt, dass der sich auf seine Art rührend um seine etwas verwahrloste Tochter kümmert. Rezensionen dieses Buches schreiben darüber meist so, als suche Dora in Bracken zu ihrem wahren Sein oder Ich zu kommen, Vorurteile zu überwinden und endlich das zu tun, auf was es im Leben ankommt, nämlich einfach und existentiell dazusein. Eine solche Charakterisierung dessen, wovon der Roman handeln soll, ist gewiss nicht falsch. Das Problem besteht aber meines Erachtens darin, dass ich als Leser ein solches Anliegen durchaus erkennen kann, gestützt durch ein paar dezent eingestreute Zitate etwa von Heidegger, der bekanntlich ein Spezialist fürs Sein oder Dasein gewesen ist, dass ich aber von einem guten Roman erwarte, dass ich mir die innere Entwicklung der handelnden Personen nicht nur vage vorstellen können muss, sondern dass sie mir auf dem Erzähltablett geliefert werden.

Juli Zeh erzählt, was den Menschen unserer Tage passiert, und macht das souverän und anschaulich. Aber sie erzählt nicht oder nur selten, was mit den Menschen geschieht, wie sich ihr Innerstes verändert in Situationen, die unser äußeres Leben umkrempeln. Das liegt wohl daran, dass sie meist Situationen in ihrer Wahrnehmbarkeit oder Offensichtlichkeit schildert, seltener aber zu einer personalen Erzählweise greift und diese auch nur auf Dora anwendet. Manchmal wird uns mitgeteilt, was sich in ihrem Kopf abspielt, aber ich finde viel zu selten, so dass der Handlung insgesamt das fehlt, was man „innere Notwendigkeit“ nennen könnte.

Ich möchte zur Verdeutlichung dessen, was ich sagen will, auf einen Vorfall Bezug nehmen, der mit Corona zu tun hat. Es gab einen Bericht über einen Mann, der nach dem Tod seiner Frau sich und zwei Kinder umgebracht hat. Dieser Mann hatte seiner Frau verboten, sich impfen zu lassen, bei Strafe verboten, denn er kündigte an, dass er sich „dann“ von ihr scheiden lassen wolle. Die Frau starb an Covid-19 und „hinterließ einen Mann und zwei Kinder“. Das wäre in der Tat Stoff für einen Roman in Zeiten der Pandemie. Ich würde dann aber als Leser gerne erfahren: Wie hat die Frau gelitten, da sie sich dem Verbot ihres Mannes beugte? Hat sie ihren Mann gehasst, als sie erkrankte? Was geschah in dem Mann, als seine Frau erkrankte? Musste er sich gegen Verwandte und Freunde verteidigen? Hat er seine Entscheidung bereut? Hat er sich eine „Theorie“ gebastelt, um sein Verhalten zu rechtfertigen? Usw., usw.

Solche bohrenden Fragen vermisse ich als Background des Romans (besser: des anekdotischen Geschehens) bei Juli Zeh, die gewiss eine gute Erzählerin, eine interessante Chronistin ist, die aber, obwohl Trägerin eines Thomas-Mann-Preises, nicht die Tiefenstruktur literarischer Erzählung erreicht, die ich erwartet hatte bei einer so gelobten Autorin. (Ich muss gestehen, dass ich parallel Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“ gelesen habe. Das ist natürlich für Juli Zeh eine große Konkurrenz, da man das eine nicht lesen kann, ohne sich das andere aus dem Kopf zu schlagen. Und dann war ich aber überrascht, bei Juli Zeh einen Gedanken wiederzufinden, der in Manns Roman eine gewisse Rolle spielt, nämlich dass eine Erzählung sich wiederholt, etwas in immer wieder neuen Varianten erzählt wird im Lauf der Geschichte. Und noch ein Zweites ist mir aufgefallen: Auch Juli Zeh verwendet wie Thomas Mann Leitmotive, erwähnt also immer wieder mal gewisse Dinge, die schon einmal eine bestimmte Bedeutung haben sollten. So lautet etwa der letzte Satz ihres Buches:

„Auf der Mauer sitzt die orangefarbene Katze und schaut zu ihr herüber.“

Diese Katze hat auch in früheren Kapiteln schon mehrmals auf der Mauer gesessen, die Doras Grundstück von dem des Dorf-Nazis trennt. Man könnte jetzt sagen, hier mache sich der literarische Einfluss von Thomas Mann geltend. Nur, bei Thomas Mann haben solche Leitmotive meist einen ironischen Einschlag, hier aber werden solche wiederholten Beobachtungen mit einer Bedeutung aufgeladen, deren Charme man im Rausch der Lektüre zunächst zu erliegen vermag, welcher aber nach einem Schluck Wasser verfliegt.)

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Te-Ping Chen: Ist es nicht schön hier. Aufbau Verlag, Berlin 2021

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Te-Ping Chen ist eine junge amerikanische Autorin mit Wurzeln in China, die ein paar Jahre in Peking als Korrespondentin des Wall Street Journals gearbeitet hat. Diese erste Sammlung von Kurzgeschichten basiert im Wesentlichen auf ihren genauen Beobachtungen aus ihrer Zeit in China. Sie beschreibt alltägliche Ereignisse und typische Schicksale, denen meistens nicht einmal der Geruch von etwas Außergewöhnlichem anhaftet. Was macht dann aber dieses Buch dennoch so lesenswert?

Es sind vor allem ihre erzählerisch plastische Beobachtungswiedergabe und die Kunst, Politisches und gesellschaftlich Relevantes immer wieder völlig unaufdringlich in die Schilderung des Banalen einzuflechten. Spannung wird dabei weniger durch den Gang der Handlung erzeugt, auf deren Ausgang man als Leser schon gespannt ist. Spannend wird es meist erst am Ende. Man darf gespannt sein, wie die Sache ausgeht. Doch mit ein oder zwei Sätzen werden wir am Ende „abgespeist“, aber keineswegs „aufgeklärt“. Der Leser verzeiht der Autorin das jeweils absolut offene Ende, da zugleich vermittelt wird, dass ja auch genau so unser aller Leben verläuft. Am Ende eines jeden Tages ist ja immer völlig unbestimmt, was der Morgen bringen wird.

Ich will dieses Verfahren mit Hilfe zweier Storys skizzieren, und zwar der Titelgeschichte der amerikanischen Originalfassung und der Geschichte, deren Überschrift als Buchtitel der deutschen Übersetzung gewählt wurde.

Das Buch ist 2021 in den USA erschienen als „Land of Big Numbers“. In dieser Story wird geschildert, wie Zhu Feng, junger Angestellter einer Behörde, eines Tages feststellt, dass man mit Börsengeschäften sehr gut Geld verdienen kann. Er „leiht“ sich also jeden Monat Geld aus der Staatskasse um zu zocken und zahlt aus dem Gewinn das Geld aufs Staatskonto wieder ein. Das geht eine Weile gut, bis die Kurse einbrechen und er plötzlich auf einem Haufen Schulden sitzt. Er bittet seinen alten Vater, der in seinen jungen Jahren offenbar an massiven Demonstrationen gegen die Korruption im Lande teilgenommen hat, jetzt aber nur noch seinen bunten Singvogel im Park spazieren führt, um 150.000 Yuan, was unendlich weit jenseits dessen ist, was der sich leisten kann. Am Ende der Story bleiben Zhu Feng noch zwei Tage, um den Diebstahl auszugleichen. Irgendwas kann immer noch passieren… Das in dieser Story sich ausdrückende Lebensgefühl einer bestimmten Generation junger Chinesen wird im folgenden Abschnitt mit knappen Worten scharf skizziert:

Jungen Männern wie ihm wurde viel zu wenig geboten. Zhu Feng hatte Ideen. Er hatte Ambitionen. Er hatte Geschmack. Das Wort gefiel ihm: Geschmack. Das war etwas,, was voll und ganz seiner Generation gehörte. Nicht die Schäbigkeit des Lebens seiner Eltern, die schlurfenden Schritte, die zerstörten Hoffnungen, die aber sowieso nie über „chide bao, chuan de nuan“ hinausgingen – einen vollen Bauch zu haben und warme Kleider zum Anziehen.

Die Titelgeschichte der deutschen Ausgabe ist die einzige Story des Buches, die in den USA spielt. Sie wird allerdings aus der Perspektive einer jungen Chinesin erzählt, die seit 10 Jahren im Westen der Vereinigten Staaten lebt und ungefähr genauso lange schon mit Eric befreundet, also liiert ist, zu dem sie allerdings ein distanziertes Verhältnis hat, ohne dass dieser davon etwas bemerkt:

(Die beiden beobachten einen Sonnenuntergang am Grand Canyon) Er legt mir den Arm um die Taille. „Ist es nicht wunderschön, mein Häschen?“, flüstert er mit besitzergreifendem Strahlen, und ich nicke.

Diese amerikanische gut gelaunte Naivität wird auch bei der rückblendenden Schilderung eines „American boys in China“ aufs Korn genommen:

Aus Anlass unseres letzten Jahrestags kam Eric zum ersten Mal mit nach China. Meine Eltern fanden es charmant, dass er „Ni hao“ sagen konnte und ihnen Hershey-Schokolade mitbrachte. Niemand mochte ihm gestehen, dass man sie seit Jahren bei uns im Supermarkt kaufen konnte, Er machte Fotos vom schlechten Chinglish auf den Speisekarten und von alten Männern, die auf der Straße Schach spielten. Das Essen schmeckte ihm, aber von der chinesischen Mauer war er enttäuscht; es waren so viele Besucher da, dass Crowdsurfen einfacher gewesen wäre als an der Mauer hochzuklettern, meinte er. „Tut mir leid, ich wollte ehrlich sein“, sagte er, und ich dachte: >>Manchmal ist eine kleine Notlüge nichts Schlimmes.<<

In diesem Abschnitt ist das amerikanisch-chinesische Verhältnis auf den Punkt gebracht. Der eine poltert gutgelaunt, der andere lächelt höflich und schweigt.

Fällt diese Story geografisch aus dem Rahmen, so kann man sagen, dass die letzte Story „Gubeikou gibt nicht auf“ erzählerisch etwas Besonderes darstellt. Sie erinnert mich an die witzigen Katastrophenschilderungen von Hermann Harry Schmitz oder an absurde Geschichten von Franz Kafka. Pan ist eine Frau, die sich in die U-Bahn Station Gubeikou begibt, da sie unbedingt und sehr schnell zu ihrem alten Vater gelangen muss. Eine Bahn verpasst sie knapp, aber eine nächste Bahn scheint es trotz der Ansage „Der nächste Zug hat Verspätung. Wir bitten um Ihr Verständnis.“ nicht zu kommen. Tage-, ja wochenlang hält nun kein Zug, und niemand darf den Bahnsteig verlassen. Man beginnt sich also unterirdisch so gut es geht einzurichten, und die Behörden helfen dabei. Hier will ich das Ende nicht verraten, das im Falle dieser Geschichte durchaus etwas Spektakuläres birgt. Diese Story – eine Parabel über das Leben in China? Pan – das chinesisch-weibliches Pendant zu Gregor Samsa? Viel Spaß beim Lesen.

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Jonathan Franzen: Crossroads. Rowohlt, Hamburg 2021

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Murphys Gesetz lautet bekanntlich: „Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen.“ Jonathan Franzens Buch ist ein über mehr als 800 Seiten sich ausbreitender Beleg für die Gültigkeit dieses Prinzips.

Wir befinden uns in einem kleinen Ort namens New Prospect im Mittleren Westen (in der Nähe von Chicago), und es ist einer der letzten Tage im Advent des Jahres 1971. Wir lernen in je verschiedenen Perspektiven eine Pfarrersfamilie kennen, er, Russ, ist der „zweite Pfarrer“ der Gemeinde, seine Frau, Marion, ist Hausfrau und kümmert sich um ihre vier Kinder, Clem, der brillante Älteste, geht aufs College, seine Schwester Becky, zu der er ein inniges Verhältnis hat, ist der unbestreitbare Schönheitsstar auf der Highschool, Perry ist genialisch veranlagt, vom Kleinsten, dem Bruder Judson, ist noch nicht viel Rede in diesem Buch. Dessen Charakter wird wohl erst in den beiden folgenden Bänden des als Trilogie angekündigten Werkes entfaltet werden.

Eine furchtbar nette Familie also, so könnte man meinen, wenn da nicht diese Zwiespältigkeit wäre, die das Leben und also auch unseren Roman erst so spannend macht. Und die kündigt sich gleich im einleitenden Abschnitt des Romans an, den ich hier zitieren will:

Der von kahlen Eichen und Ulmen durchbrochene Himmel, an dem zwei Frontensysteme die grauen Köpfe zusammensteckten, um New Prospect weiße Weihnachten zu bescheren, war voll feuchter Verheißung, als Russ Hildebrandt wie jeden Morgen in seinem Plymouth-Fury-Kombi zu den Bettlägerigen und Senilen der Gemeinde fuhr. Eine gewisse Person, Mrs. Frances Cotrell, die ebenfalls zur Gemeinde gehörte, wollte ihm am Nachmittag dabei helfen, Spielzeug und Konserven zur Community of God zu bringen, und obwohl er wusste, dass er nur als ihr Pastor das Recht hatte, sich über diesen Akt des freien Willens zu freuen, hätte er sich kein schöneres Weihnachtsgeschenk wünschen können als vier Stunden mit ihr allein.

Die vorweihnachtliche Landschaft ist alles andere als friedlich. Die Eichen und Ulmen sind „kahl“, sie „durchbrechen“ den Himmel, an dem sich offenbar ein „Front“-Krieg austobt, der Schnee „bescheren“ soll. Das klingt nach „schöner Bescherung“! Was soll nun das: Der Schnee wird nicht nur „verheißen“, nein, der Himmel ist voll „feuchter Verheißung“. Was zunächst etwas gestelzt klingt, entpuppt sich bald als Andeutung einer Feuchtigkeit der sexuellen Vorahnung. Der Herr Pfarrer freut sich ungeheuer darauf, vier Stunden mit einer „gewissen“ Frances allein sein zu können, deren Motive durch den Kakao ironischer Andeutung gezogen werden, denn auch sie macht diesen Wohltätigkeitstrip nicht aus bloßer Barmherzigkeit, sondern weil es sie dazu treibt, weil es sie zum Herrn Pfarrer treibt.

Der ganze Roman erweist sich schließlich als ein großes Plädoyer wider die Mär vom freien Willen. Als liebevolles Plädoyer für die Besessenheit der Menschen, an etwas festhalten zu wollen, wenn sie etwas sehr, sehr lieben. „Verweile doch, du bist so schön.“

Der Roman entfaltet sich zu einem grandiosen Blick hinter die Kulissen dieser Pfarrersfamilie. Der älteste Sohn meldet sich freiwillig zum Militärdienst, obwohl er wegen seines Studiums freigestellt wurde, um seinem Vater eins auszuwischen. Becky spannt dem Rockstar der Gemeinde die Freundin aus, lebt mit ihm dann aber in Abstinenz, ist nun integriert in den Teil der Gemeinde, der von Russ‘ Gegenspieler angeleitet wird. Perry erlebt sein Drogen-Waterloo just in dem Augenblick, da sein Vater seine Francis während eines Arbeitslagers zur Unterstützung der Hopi-Indianer in Arizona vögelt, und zwar genau da, wo er seinerzeit seine Marion kennengelernt hatte. Russ entpuppt sich also als sexbesessenes, sentimentales Arschloch, und von Marion erhalten wir via psychotherapeutischer Offenbarungen Flashbacks aus ihrer verkorksten Vergangenheit, der Zeit „vor Russ“.

Am Ende des Romans sieht es für alle Beteiligten also gar nicht gut aus. Und wir, die Leser, dürfen uns schon darauf freuen, wie Jonathan Franzen den Beweis antritt, dass die Dinge immer noch schlimmer werden können, als wir uns das je erträumt hätten. Murphy macht munter weiter…

61

Yaa Gyasi: Ein erhabenes Königreich. Dumont, Köln 2021

Yaa Gyasi hat drei Jahre nach ihrem fulminanten Einstieg in den literarischen Kosmos ein zweites Buch veröffentlicht, das mir überhaupt nicht gefällt. Sie hatte einen Abschluss in Creative Writing gemacht, dieses Buch geschrieben, das offenbar sehr viel mit ihr zu tun hatte, und hat ihre Sache soweit sehr gut gemacht. Sie hatte ein Thema gefunden, das sie ganz vereinnahmt hatte und das sie ganz vereinnahmte. Das Foto auf der Rückseite des Paperbacks, das mir zur Verfügung stand, zeigt eine lächelnde junge Frau, die mit großen Augen in die Kamera blickt, neugierig, ein wenig nachdenklich, aber offen. Ihre Lippen sind geschlossen, sie scheint nachzudenken, sie scheint dabei sehr lebendig zu sein. Das Bild auf der Innenseite des Umschlags des neuen Buches vermittelt einen ganz anderen Eindruck. Sie schürzt die Oberlippe und zeigt ihre Zähne. Das hat mit Lächeln nichts zu tun. Ihre Augen lächeln noch, doch die Gezwungenheit ihrer mündlichen Freundlichkeit legt einen Schleier darüber. Ihre Haare: Afro-Look hoch drei.

Die Erzählerin, eine langweilige Neurologin, teilt uns ihre Probleme mit. Sie hat eine Mutter, die es nicht verkraftet hat, dass ihr Mann nach Afrika abgehauen ist. Sie hatte einen Glauben, der offenbar einer wissenschaftlichen Denkart weichen musste, aber sie hadert damit. Und wir, die Leser, müssen uns all die traurigen Geschichten anhören. Da ist jemand hin- und hergerissen, ja, das Spannungsfeld zwischen Religion und Wissenschaft. Und die Frage, ob ihre Versuchsmäuse vielleicht doch einen freien Willen haben.

Sorry, interessiert mich alles nicht. Aber eine Rezension dieses neuen Buches hat mich dazu gebracht, ihr erstes Buch zu kaufen. Und so betrachte ich die Zeit, die ich mit dem zweiten Buch verbracht habe, als eine Art von Kollateralschaden.

 

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Yaa Gyasi: Homegoing.Vintage Books, New York 2017

Yaa Gyasi wurde in Ghana geboren und gelangte mit 2 Jahren in die USA, weil ihre Eltern dort einwanderten. Zwei Dinge sind wohl entscheidend für die Entstehung dieses ersten Buches von ihr, nämlich die Jahre, die sie ab ihrem 10. Lebensjahr in Alabama verbrachte, also einem Staat, in dem noch zu Beginn dieses Jahrtausends durchaus ein verdeckter Rassismus vorhanden war als Folge seiner Prägung durch die Sklavenhaltung im 18. und 19. Jahrhundert, und ein Besuch in Ghana, wo sie das Cape Coast Castle besuchte, einer der grausamen Bastionen des britischen Sklavenhandels, an dem auch die afrikanischen Stämme intensiv beteiligt waren, indem sie den Briten ihre Gefangenen verkauften und auch solche Sklaven, die sie eigens für diesen Zweck requirierten.

Die Geschichte des Sklavenhandels und die Geschicke der Sklaven in Amerika werden in diesem Buch übersetzt in das Erzählen von Einzelschicksalen, die indes miteinander verwoben sind, und dies auf eine anschauliche, packende Art und Weise, die den Leser atemlos zurücklassen würde, wäre da nicht ein Ende der großen Versöhnung, das man sowohl als Schlusspunkt einer gut durchdachten Erzählstruktur, aber auch als Verdachtsfall großen Kitsches ansehen kann.

Die Urmutter dieser Erzählung ist eine gewisse Maame, die sowohl bei den Fantes als auch bei den Asantes, den beiden Stämmen, um die es hier geht, für Nachkommenschaft gesorgt hat. Und das Buch besteht aus zweimal sieben Kapiteln, in denen jeweils ein Kind, Enkel, Urenkel, ja Ururenkel usw., also immer einer der nächsten Generation im Mittelpunkt steht. Und da nun die eine Tochter der Maame in Ghana bleibt, die andere indes als Sklavin nach Amerika verschifft wird, öffnet sich der Raum für jeweils sieben Erzählungen, in denen sich auch die sich verändernde politische Lage der Zeit widerspiegelt. Im Grunde ist das Buch also eine Geschichte der Sklaverei, die aber nichts Belehrendes oder Anklagendes, sondern vielmehr viel Berührendes und Erhellendes enthält.

Natürlich haben die Einzelfiguren so ihre Besonderheiten, sonst wäre die Erzählung ja ein bisschen langweilig. Ich greife hier kurz auf, um wen es sich jeweils handelt, zuerst die afrikanische Seite, danach die amerikanische.

Effia Otcher kommt aus dem Fanteland, wird entdeckt vom Kommmandanten der Slavenbastion, der sie zur Frau nimmt, obwohl der in England bereits Frau und Kinder hat. Solche Bigamie scheint im 18. Jahrhundert bei den Briten üblich gewesen sein. Alles musste wohl seine Ordnung haben. Und wenn sich zwei Ordnungen in die Quere kamen, so bedachte man wohl ihrer geografische Lage und drückte bei genügend Abstand ein Auge zu…

Quey Collins ist also der Sohn, der in dieser Ehe in der Abgeschiedenheit des afrikanischen Kontinents hervorgebracht wurde. Man erfährt nebenbei, dass sein Onkel Fiifi Asante-Krieger „stiehlt“, um sie als Sklaven zu verkaufen. Quey ist mit dem Sohn des Fante-Chiefs, Cudjo, befreundet, und das nicht nur platonisch. Aber man drängt ihn zu einer Verbindung mit einer Frau.

James Collins, das Produkt dieser Verbindung und Enkel des Sklavenkommandanten, lernt bei der Beerdigung seines Vaters Akosua, eine Asante, kennen. Zwischen den Fantes und den Asantes herrscht indes Krieg, in dem es um die Pfründe des Sklavenhandels geht. James schlägt sich durch zu Akosua und sie heiraten.

Abena ist ihre Tochter. Sie hat einen Geliebten, der sie aber nicht zu seiner zweiten Frau nehmen will. Schwanger, wandert sie aus und gelangt zu den Missionaren in Kumasi.

Akua, die übrigens 1889 geboren wird, ist ihre Tochter. Doch auf ihr lastet ein Fluch. Sie zündet ihr aus an. Zwei Kinder sterben, Asamoah rettet das Baby Yaw.

Yaw ist also das gerettete Kind. Er wird Geschichtslehrer, und er hat ein Hausmädchen, Esther. Sie reden über die Unabhängigkeit des Landes. Sie besuchen die Feuerfrau Akua, seine Großmutter. Sie heiraten.

Marjorie ist ihre Tochter. Und da sie in den USA lebt, ist davon auszugehen, dass Yaw ausgewandert ist. Sie lebt in Alabama (!). Macht so ihre Erfahrung mit nicht einmal verdecktem Rassismus. Sie trägt ein Gedicht in ihrer Schule vor, das offensichtlich den Sklavenhandel thematisiert.

Der amerikanische Zweig der Familie:

Esis Vater Big Man, also ein Asante, hält Sklaven und verkauft sie an die Briten. Sie selber gerät allerdings in Gefangenschaft und wird im Cape Coast Castle von einem Soldaten vergewaltigt. Und so gelangt sie mit gemischter Nachkommenschaft nach Amerika.

Ness, hellhäutig, wurde 1796 verkauft. Sie wurde mit Sam verheiratet, da die Sklavenbesitzer offenbar geregelte Verhältnisse bevorzugten. Doch sie vollziehen ihre Ehe nicht, also innerer Widerstand. Dann zerschlägt aber Sam das Mobilar, und Ness sagt dem Master, sie sei es gewesen. Sie wird mit Peitschen dafür blutig geschlagen, aber das tut ihrer Ehe gut. Sie bekommen ein Kind, Kojo, und fliehen zusammen mit einer Asante-Freundin, nach einer erneuten Auseinandersetzung mit dem Plantagenbesitzer. Ness und Sam werden von den sie verfolgenden Bluthunden aufgespürt, der Sohn Kojo und Aku bleiben unentdeckt.

Kojo Freeman lebt in Baltimore. Mit Anna verheiratet, mit der er 7 Kinder hat. Sie sind „frei“, aber Kojo hat gefälschte Papiere, Anna echte. Immer wieder tauchen Leute auf, die nach entlaufenen Sklaven suchen. Der Bürgerkrieg bricht aus. Anna ist plötzlich verschwunden. Kojo geht nach New York, um Anna zu suchen. Aber das ist zwecklos. (Denn sie wurde offenbar nach Alabama verbracht…)

H heißt Kojos und Annas 8. Sohn. Er ist offenbar straffällig geworden und muss nun in einer Mine arbeiten (bis 1889). Nach seiner Freilassung hat er keine Chancen auf Arbeit und arbeitet wieder in der Mine, jetzt auf eigene Rechnung. Seine Frau Ethe verlässt ihn, weil er sie mit dem Namen einer Geliebten gerufen hatte. Doch sie kommt zurück.

Willie ist die Tochter von H und Ethe. Sie tut sich mit Robert Clifton zusammen, und sie ziehen nach Harlem. Finden keinen Job. Werden rassistisch gedemütigt (Robert solle Willie auf dem Klo vögeln, während ein Weißer zusieht und onaniert.)

Sonny ist also der Sohn, der in solchen Umständen entstand. Er hat mehrere Freundinnen und ist ein reines Arschloch. Er lernt Amasie Zulema kennen, eine begnadete Sängerin, die aber total heroinabhängig ist. Sie bekommt ein Kind von ihm. Er ist auch heroinabhängig, wird aber bei einem Besuch bei der Mutter (Willie) „gedreht“.

Marcus, der Sohn von Sonny und Amasie, macht seinen PhD in Stanford, arbeitet über schwarze Strafgefangene. Er lernt auf einer Party in San Francisco Majorie kennen und hat das Gefühl: Er wurde gefunden! (Meine liebe Yaa Gyasi, hier hast du wirklich etwas dick aufgetragen!) Sie fahren zusammen nach Ghana. Marcus fürchtet das Wasser, Majorie das Feuer. Am Ende ist Feuer am Strand. Und beide sind im Wasser.

Sie hängt ihm ihre Halskette um (die noch von Maame stammt!) und sagt: „Welcome home.“

Schöner geht’s nimmer.

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Dieter Henrich: Ins Denken ziehen. Eine philosophische Autobiografie. C.H.Beck, München 2021

Der Titel dieser sog. Philosophischen Autobiografie (eine Versammlung mehrerer Gespräche, die zwei Wissenschaftler, der eine sozusagen bei Karl-Jaspers zu Hause, der andere ein leitender Archivar in Marbach, mit Dieter Henrich über die Jahre geführt haben) ist, um es mit einem Lieblingswort des Autors zu umschreiben, sehr „luzide“ und – um es mit meinen eher bescheidenen Worten zu sagen – vielbedeutend. „Ins Denken ziehen“ kann zunächst suggerieren, es gehe in diesem Buch um einen, der auszog, das Denken zu lernen. In die Welt ziehen, sich aufmachen zu etwas Neuem, das wird mitgedacht. Zugleich aber drängt sich der Gedanke auf, es gehe um mehr, nämlich um einen Anspruch, um Verantwortung für andere. Denn man verzieht sich nicht allein in eine neue Gedankenlandschaft, sondern zieht andere mit. Die Botschaft dahinter also: Grundanliegen der Philosophie sollte es sein, die Menschen ins Denken zu ziehen, sie zu Philosophen zu machen. Am Ende ist jeder Mensch ein Philosoph. Wer hätte gedacht, dass sich hier eine Parallele zu Josef Beuys auftut, für den jeder Mensch ein Künstler ist. Der Mann mit dem Verstand eines Wunderkinds und der Mann mit dem Hut – zwei Brüder im Geiste… Ich habe jedenfalls versucht, die beiden unter einen Hut zu bringen, verstanden?

Wer würde mir nach dieser Einleitung noch glauben, ich habe mich ernsthaft mit diesem letzten von mehreren „Alterswerken“ von Henrich auseinandergesetzt? Doch Dieter Henrich sei Zeuge dafür, dass ich kein Leichtfuß bin: Er schrieb mir im August:

Lieber Herr Hoppenkamps,

haben Sie Dank für Ihre Vorstellung als Blogger und die Aufnahme meines Klosterman-Buches in Ihre Rezensions-Galerie in Gestalt einer kompetenten Skizze!

Ziemlich  bald im September sollte ich wieder in München sein und Ihr erstes Schreiben mit noch mehr von Leo Läufer und über unsere Begegnung ehedem in der Hand haben.

Freundlich grüßt

Dieter Henrich

So will ich also sachlich und kompetent skizzieren, worum es in diesen Buch geht. Prolog und Epilog sind Randgebieten seiner Existenz gewidmet, nämlich Religion und Kunst. Oder auch: seiner Kindheit und seinen „letzten Gedanken“ (Hölderlin, Beckett). Dazwischen liegen Stationen, die meist durch einen Ort etikettiert werden können. Es begann in Marburg, dann zog ihn Gadamer mit sich nach Heidelberg. Es folgte eine Emanzipation in Berlin und eine Etablierung in Heidelberg, von wo es ihn allerdings sehr oft in die USA zog, wo er sich in vielen Gastprofessuren als maßgeblicher Interpret des deutschen Idealismus einen Namen erwarb, bis er sich 1981 in München niederließ und sich erneut Fragen der Konstellationsforschung zuwandte: um einen Text zu verstehen, muss man sein „Umfeld“, seine Konstellationen, kennen.

Natürlich habe ich mich sehr für das Kapitel interessiert, in dem Dieter Henrich über seine Zeit in Heidelberg spricht. Denn er war es ja, der mich nach Heidelberg zum Studium gelockt hatte mit einem Aufsatz, den ich gelesen hatte. Ich habe ein paar Seminare von ihm besucht, mich später dann eher Ernst Tugendhat zugewandt, da ich als inzwischen gewordener Linguist an dessen sprachanalytischen Vorlesungen interessiert war. Bei Tugendhat habe ich auch meine Staatsexamensarbeit über „Bedeutung und Sprechhandlung“ geschrieben.

Ich erinnere mich vage daran, dass 1969 oder 1970 ein Dozent in Heidelberg sich das Leben nahm. Henrich schildert nun, dass Tugendhat nicht an der Beerdigung teilgenommen hat und dies als Affront angesehen wurde, da die Vorlesungen dieses Kollegen von Studenten massiv gestört worden waren und man vermutete, dass es einen Zusammenhang gebe zwischen den Störungen und dem Selbstmord.

Henrich wird auf S. 132 gefragt:

Welche Gründe hat Tugendhat für sein Fortbleiben geltend gemacht?

Ich kenne keine. Sein Auftreten war damals für uns in Heidelberg ein großes Problem, da er sich als Dekan stark mit den Studenten identifizierte. So gerieten viele Fakultätssitzungen unter seiner Leitung zum reinen Chaos. Denn er ließ nicht nur öffentlich tagen, sondern die Mitglieder Fakultät saßen durcheinander gewürfelt mit den Anführern der Studenten, so dass man sich quer durch Studentenriegen beraten musste. Eine absurde Situation.

Die nicht hätte sein müssen.

Tugendhat hat mit seinem Verhalten wirklichen Schaden angerichtet. Aber ich dachte an seine Jugend als Emigrant und hielt ihn damals trotz allem für aufrichtig und vor allem für einen bedeutenden Philosophen in spe und war froh, dass er da war. Wir kamen gut miteinander aus.

Tja, Dieter Henrich teilt hier richtig aus, beschwichtigt aber sogleich („kamen gut miteinander aus“). Ich kann bestätigen, dass Tugendhat „sich stark mit den Studenten identifizierte“. Aber hat sich Dieter Henrich wirklich in dessen Lage versetzt? Er erwähnt zwar, dass Tugendhat Emigrant war. Dessen Familie musste vor den Nazis nach Südamerika fliehen. Und dann kommt der ganz in der europäischen Tradition verwurzelte Ernst nach Deutschland zurück, weil er gehofft hat, der Spuk sei komplett vorbei, und erkennt:

Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren!“

Wie es die Studenten skandierten. Und um diese braune Mauschelei in den Gremien zu verhindern, benutzt der Dekan die Sitzordnung. Genial.

Ich gestehe: Bloße Vermutungen. Aber ich bin GottseiDank völlig frei, sie hier zu artikulieren. Dies sind ja nicht nur Reflexionen, sondern auch Reflexe.

Eine Rezension wie mit der Flex, also einem Winkelschleifer, bei dem, wenn man nicht acht gibt, schon mal etwas zu viel abgeschliffen werden kann. Sorry, Henry. Geht manchmal schräg daneben. Auch namentlich…

Ich möchte meine Überlegungen mit einem Zitat aus dem Buch (S. 214) beenden, das einen Gedanken enthält, dem ich mich gern anschließen möchte.

Der Vorteil meiner Disposition in der Zeitsituation ist, dass ich, wie ich hoffe, sagen zu dürfen, nie ins flache, fadenscheinige Argumentieren geraten bin. Man muss sich so weit als möglich hüten, auf eine Weise zu argumentieren, die man später nur noch bedauern kann.“

Sorry, Dieter, for quoting this.

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Sigrid Damm: Christiane und Goethe. Eine Recherche. Insel Verlag Frankfurt a.M. und Leipzig 1998

Ein schönes Stück Fleisch“ nannte Thomas Mann Christiane Vulpius, Geliebte, Haushälterin und Ehefrau von
Johann Wolfgang von Goethe. „Eine geistige Null“ urteilte Romain Rolland. Damen der höfischen Gesellschaft von Weimar, z.B. die berühmte Charlotte von Stein und Schillers adlige Frau, bezeichneten sie schlicht als „Hure“ oder bösartig als „Blutwurst“. Wer also war diese Frau? Und wer war der Mann, der wegen ihr sein Palais in Weimar vorübergehend verlassen musste, um mit ihr vor den Toren Weimars in einem Gartenhaus zu wohnen?
Sigrid Damms Recherche bringt Licht in die Verhältnisse dieses merkwürdigen Paares.

1786 hat Goethe Christiane zum ersten Mal getroffen, und zwar bei der Erledigung einer Angelegenheit ihres Bruders, der Goethe um Beistand gebeten hatte. Aber nichts ist da passiert… Erst 1788, nach Goethes Italienreise, während der er, auf die 40 zugehend, zum ersten Mal sexuelle Liebe erfahren hat, passiert es.

Zur Erinnerung: Wer kennt nicht Willkommen und Abschied, dieses Sturm-und-Drang-Gedicht auf die Tochter des Pfarrers von Sesenheim, die Goethe während seines Studiums in Straßburg öfters aufsuchte. Zur Erinnerung:

ER:

Ganz war mein Herz an deiner Seite,
Und jeder Atemzug für dich.“

SIE:

Ein rosafarbenes Frühlingswetter
Lag auf dem lieblichen Gesicht.“

Wenn ich als Student las, dass diese Pfarrerstochter Goethes große Liebe während seiner Straßburger Zeit war, habe ich mir immer vorgestellt, wie diese beiden die lauen Abende in der Rheinaue heißblütig verbrachten. Aber mehr als ein tiefer Atemzug, ein gerötetes Gesicht und ein wenig Petting waren da wohl nicht drin.

1774 landete Goethe bekanntlich seinen Coup, den Werther, und wurde von einem begeisterten jugendlichen Herzog nach Weimar gelockt, wo er allerdings nach circa 10 Jahren glaubte, sich eine Auszeit nehmen zu müssen, zumal ihm das Gesülze seiner (platonischen) Geliebten, Frau von Stein, ein wenig auf den Wecker ging. Wie damals üblich, reiste er nach Italien, wo der etwa 38-Jährige sich allerdings zwei Jahre (1786 – 1788) herumtrieb, bzw. seine Ruhe fand bei einer heißblütigen Italienerin, mit der er unter südlicher Sonne auch die Liebe fand (eine heimliche, versteht sich).

Er kehrte im Sommer 1788 nach Weimar zurück, und bei einem Spaziergang in den Parkanlagen an der Ilm trifft er Christiane Vulpius und PENG. Es hat sofort gefunkt. Italien hatte seine Sichtweise nachhaltig verändert. Christiane war offensichtlich eine sehr sinnliche Frau.

Goethe war 1775 nach Weimar gekommen, da ist Christiane 10 Jahre alt. Ihr Vater ist Jurist, aber ein armer Schlucker im Staatsdienst, der seine Stelle wegen eines Amtsvergehens verliert. Christiane muss arbeiten, in einer kleinen Manufaktur für Putz- (Schmuck-) Mittel. Christianes Bruder studiert auch Jura, hat aber auch literarische Ambitionen und wird von Goethe unterstützt. Christiane und Goethe, man kennt sich also. Aber erst nach der sexuellen Initialzündung in Italien springt ein Funke über: Man trifft sich, die junge Arbeiterin und der fast 40-jährige italiengestärkte Junggeselle – und sofort werden die beiden ein Paar, fast ein Jahr heimlich, dann öffentlich. Goethe muss zur Strafe vor die Tore der Stadt ziehen. Ende 1779 wird der Sohn August geboren, alle weiteren Kinder sterben sehr früh (nicht passende Rhesusfaktoren?).

Erst im Sommer 1792 ziehen sie in das Haus am Frauenplan ein. Wer dieses Haus heutzutage besichtigt, kann sich eines Gruselns nicht erwehren. Es ist bombastisch-.ungemütlich, ganz im Gegensatz zu Schillers Haus in Weimar, das man möbliert sofort übernehmen würde.

1794 beginnt die Freundschaft mit Schiller. Für Christine bemüht sich Goethe um eine Witwenrente. Die ersten etwa 10 Jahre seiner wilden Ehe mit der Vulpius sind für Goethe äußerst produktiv. Es folgen Jahre der Anspannung. Stress mit Schiller, dessen Theaterstücke in Weimar übrigens weitaus besser ankommen als die von Goethe. Goethe erkrankt schwer, Kuraufenthalte, teilweise er und Christiane getrennt. Napoleons Sieg, Franzosen im Haus am Frauenplan. Christiane wirft sich ihnen entgegen. Goethe heiratet sie! Dafür nimmt er sich für sich heraus, allein monatelang in Kur zu fahren und sich jungen Frauen zu widmen. Das Leben nach dem bürgerlichen Gesetz und sein Bemühen, Christiane in der Weimarer Gesellschaft Anerkennung finden zu lassen, kompensiert der „Alte Knabe“ mit dem Genuss von Frischfleisch.

Das letzte Drittel ihres Zusammenlebens verläuft für Christiane suboptimal. Nach der Völkerschlacht bei Leipzig is das Leben in Weimar wieder unsicher geworden. Doch ihr Hochzeitstag wird 1813 in Karlsbad „im Stillen gefeiert“, und er widmet ihr sein Gedicht Gefunden:

Ich ging im Walde
So für mich hin,
Und nichts zu suchen,
Das war mein Sinn.

Im Schatten sah ich
Ein Blümchen stehn,
Wie Sterne leuchtend,
Wie Äuglein schön.

Ich wollt es brechen,
Da sagt es fein:
Soll ich zum Welken
Gebrochen sein?

Ich grub’s mit allen
Den Würzlein aus.
Zum Garten trug ich’s
Am hübschen Haus.

Und pflanzt es wieder
Am stillen Ort;
Nun zweigt es immer
Und blüht so fort.

Goethe hatte sie, als er das Gedicht schrieb, vor genau 25 Jahren „gefunden“ und sich mit ihr heimlich in seinem Gartenhaus an der Ilm getroffen. Es ist wohl anzunehmen, er h a t sie anfangs „gebrochen“, aber wie durch ein Wunder ist der Stengel dann wieder zusammengewachsen (Er konnte sie auf elegante Weise nicht loswerden, und so behielt er sie halt. Außerdem wollte er es diesen ganzen Hofschranzen einmal zeigen…). Zum 25-jährigen Gedenktag dieses jungfräulichen Brechens genehmigt sich der Meister also die poetische Rationalisierung einer prekären Lust- und Lebenssituation – der Hochmeister des Rationalisierens schlechthin!

Nach seiner Italienreise, nachdem er Christiane zu seiner Geliebten gemacht hatte, hat Goethe die Römischen Elegienherausgebracht, mit unverhohlenen Anspielungen auf seine Lusterlebnisse. 1814 veröffentlichte er den ebenso erotisch getränkten West-östlichen Divan. Diesmal ist die 30-jährige Marianne von Willemer der Jungbrunnen für den 65-jährigenn Altmeister. Er tritt mit ihr in eine Art persischen Sängerwettstreit. Und es ist wieder mal eine tiefe Leidenschaft, die ihren poetischen Ausdruck sucht – diesmal allerdings die Leidenschaft zu der Frau eines anderen.

Goethe war von der Begierde getrieben, die Pyramide seines Daseins so hoch als möglich in die Luft zu spizzen (frei nach S. Damm und ihrem nicht identifizierten Zitat). Er war in der Wahl seiner Mittel nicht zimperlich. Christianes Rolle dabei wird von S. Damm so zusammengefasst:

Christianes Energie kam in vielfacher Weise Goethes Leben und Schaffen zugute, als körperliche Beglückung, Sicherheit, Rückhalt, Behagen, Versorgtwerden, als Freiheit, den Aufenthalts- und Schreibort, unbesorgt um Haus und Besitz, zu wählen und nach Monaten, halben Jahren zurückzukehren.“

Die öffentlichen Verwalter des heutigen Diskurses um die Beziehung der Geschlechter urteilen wahrscheinlich: Was für eine asymmetrische Beziehung! Was für ein Patriarchalismus! Das wäre heute undenkbar!

Ich aber sage Euch: Ist es nicht!

Im guten wie im schlechten Sinne.

In diesem Sinne…

 

57

Dieter Henrich: Das Ich, das viel besagt. Fichtes Einsicht nachdenken. Vittorio Klostermann, Frankfurt a.M. 2019.

Dieter Henrich, einer meiner Lehrer an der Universität Heidelberg vor mehr als einem halben Jahrhundert, hatte 1966 eine Abhandlung über Fichtes ursprüngliche Einsicht herausgebracht, die neue Ansätze zu einer Philosophie des Selbstbewusstseins entscheidend mitgeprägt hat. Diese Abhandlung kam nun vor drei Jahren erneut auf den Markt,und zwar im Kontext wesentlicher Nachgedanken zu Fichtes Einsicht vom Autor ebendieser Abhandlung. Diese Nachgedanken sind einerseits historisch orientiert, da wichtige Positionierungen zur „alten“ Schrift bedacht werden. Doch ist die neue Schrift, verfasst im Alter von etwa 92 Jahren, weit mehr als eine Replik auf von anderen Gedachtes, da Henrichs eigene weiterführende Überlegungen zu Fragen des Selbstbewusstseins verbunden werden mit skizzenhaften Ausführungen zu der Frage, was es eigentlich bedeutet: ein menschliches Leben zu leben. Dabei verzeichnen wir immer wieder das Erstaunen des Philosophen über Paradoxien der menschlichen Existenz, z.B. die Tatsache, dass das „Individuellste“, das wir haben, nämlich das Bewusstsein unserer selbst, zugleich das Allgemeinste ist, das alle Menschen verbindet.

Ich möchte in meiner „Würdigung“ dieses hoch ausdifferenzierten „Alterswerkes“ nicht auf Einzelheiten eingehen, die der interessierte Zeitgenosse selber aufsuchen kann, wenn er denn das Buch einmal in die Hand nehmen sollte. Ich möchte vielmehr eine stark vereinfachende Skizze von Fichtes ursprünglicher Einsicht versuchen und dann einen Link anbieten zu der von Fichte im Jahre 1797 veröffentlichten Fassung seiner Wissenschaftslehre, die das A kund O des Kosmos ist, in dem wir uns hier bewegen. In dieser nur etwa 14 Seiten langen Fassung spricht Fichte den Leser direkt an und fordert ihn auf, auf dem gewiesenen Pfad selbständig mitzudenken.

Beginnen wir mit einer Frage, die Henrich sich gleich zu Beginn seiner ursprünglichen Abhandlung stellt: Wie kann man sich das Ich vorstellen? Das Ich ist zunächst das, was sich von Objekten eine Vorstellung macht. Einerseits. Das sich aber andererseits auch eine Vorstellung von eben diesem Ich machen kann, das sich eine Vorstellung macht. Das Ich tritt also in einer doppelten Rolle auf: Als Subjekt einer Tätigkeit UND als etwas Getätigtes.

Man könnte auch sagen: Das Ich-Subjekt tritt (im zweiten Fall) zu sich in Beziehung und erkennt sich so selber. Für das Subjekt dieser Reflexion gilt also die Gleichung: Ich = Ich. Und hier ist das Problem: Ich = Ich soll einerseits durch Reflexion zustande kommen. Aber wenn das Subjekt der Reflexion nicht von vornherein die Gleichung Ich = Ich in sich hätte, könnte kein Selbstbewusstsein zustande kommen. Eine Einheit des Selbstbewusstseins kommt nur zustande, wenn das Ich-Subjekt schon voll und ganz das ist, was durch die Reflexion zustande kommen soll. (Etwas banal formuliert: Wie sollte das Ich, das auf sich selber reflektiert („trifft“), wissen, dass das Ich, auf das es trifft, dasselbe ist wie am Anfang der Bewegung, wenn es nicht von Anfang an dabei gewesen wäre?)

Die Philosophen vor Fichte haben sich mit dieser Paradoxie, mit dem Zirkel der Reflexionstheorie, nicht weiter befasst. Für Descartes, Leibniz und auch noch für Kant ist das Ich als „philosophischer Schlussstein“ etwas von „vollendeter Klarheit“ und das „Vertrauteste für alles Erkennen“, so Henrich. Nun aber gelte es, zwei Fragen zu KLÄREN: 1. Was ist das Ich? 2. Woraus kann es verständlich gemacht werden? Zwischen diesen Fragen klaffe ein Abgrund. Und diesen zu überwinden, genau das sei Fichtes Anliegen gewesen. Oder anders formuliert: Was Selbstbewusstsein ist, muss vollständig beschrieben und interpretiert werden!

Dieser Aufgabe hat sich Fichte in immer wieder neuen Anläufen verschrieben. Henrich fasst deren Quintessenz in drei Formeln:

1. Ich setzt sich schlechthin.

2. Ich setzt sich als setzend.

3. Ich ist Kraft, der ein Auge eingesetzt ist.

Der letzten, metaphorisch geprägten Formel ist ein großer Teil von Henrichs Nachgedanken gewidmet. Der Abgrund zwischen den weiter oben genannten Arbeitsfragen lässt sich letztlich wohl nicht anders als metaphorisch auffüllen. Wenn endliche Wesen ans Unendliche heranreichen, hilft nur noch Poesie, in der offenbar mehr gesagt werden kann als in rationaler Sprache.

 

56

Alan Sillitoe: A Tree on Fire. Grafton Books, London 1986 (1967)

Warum nimmt jemand im Jahr 2021 ein Buch aus dem Jahr 1986 zur Hand und liest es dann auch noch, das vor über 50 Jahren geschrieben und im Jahre 1986 als Paperback noch einmal veröffentlicht wurde? Ich hatte es 1987 auf Mallorca entdeckt, im Hotel Leo (ja, so hieß das Hotel wirklich), in einer Art Hotelbücherei, es ausgeliehen, musste es aber wegen meiner Abreise halbgelesen wieder abgeben, kaufte es aber in der Flugzeughalle, um es zu Ende lesen zu können. Damals war das Buch offenbar irgendwie populär.

sillitoe

Meine damalige Freundin oder Geliebte, der Status wurde nie richtig geklärt, hatte Mallorca schon nach drei Tagen wieder verlassen, da wir uns ständig stritten. Ich hatte also, da es Winter war, viel Zeit zum Lesen. Der Name des Autors, Alan Sillitoe, hatte mich gereizt, denn als eingefleischter Anglist (Bruno von Lutz) kannte ich seine Erzählung The Loneliness of the Long Distance Runner. Mich hat diese Story fasziniert, da die Frage nach der Würde des Menschen darin so radikal angegangen wird. Ein jugendlicher Kleinganove, der nie eine Chance im Leben hatte und wohl auch keine bekommen würde, sitzt wegen eines Diebstahldeliktes im Knast, und man erkennt, dass er ein phantastischer Langstreckenläufer ist. Also lässt man ihn trainieren, da die Gefängnisleitung darauf hofft, dass er zur Ehre der Anstalt Preise gewinnen wird. Im entscheidenen Wettkampf gegen angesehene Gegner liegt der junge Mann wenige Meter vor dem Ziel weit vor den anderen, doch er hält inne und lässt die anderen an sich vorbeiziehen. Das heißt, er lässt sich nicht instrumentalisieren, er begehrt auf und bewahrt seine Würde. Ein Sieg hätte bedeutet, er hätte seine Würde verloren. Diese Geschichte ist deshalb so beeindruckend, weil sie eine Art Allegorie ist für den allgemeinen Würdeverlust sowohl in den kapitalistisch-demokratischen als auch in den autokratischen Gesellschaften à la China. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Die Würde wird dem Menschen heute oft nicht durch andere Menschen genommen, viele Menschen nehmen sie sich selber. Viele haben das Menschsein einfach nicht gelernt. Aber das ist ein anderes Thema und ein weites Feld…

Ich schaue mir das Cover des Paperbacks an: Im bildlichen Gestaltungsteil sehen wir einen Schnuller und zwei Gewehrpatronen. Um die Bedeutung des Schnullers zu verstehen, braucht man nur den ersten Satz des Romans zu lesen:

With four week-old Mark wrapped in his woolen shawl she went out to the upper deck.“

Wir erfahren, dass hier von Myra die Rede ist, die mit ihrem Baby, dessen Vater, Frank Dawley, in Algerien geblieben ist, um gegen die Franzosen zu kämpfen. Um die Bedeutung der Patronen zu verstehen, muss man tiefer in das Buch eindringen. In den Teilen II und IV werden die kämpferischen Zustände in Algerien thematisiert. Sie können aber auch einen Hinweis auf das böse Ende Johns, des Bruders des Protagonisten des Romans, Albert Handley, sein, der den Vater des Babys, Frank, in Teil V aus Algerien herausholt und nach England bringt, sich dann aber umbringt. Mandy, die verrückte Tochter Handleys, erzählt dem Spätheimkehrer Frank, Myra, seine frühere Geliebte, sei zu Onkel Johns Beerdigung gefahren.

Uncle John? Which Uncle John?“

She stared at him. „Uncle John. I don’t suppose you knew. He blew his brains out. What few he had. Those who blow their brains out never had any to blow out. But by the time the know it they’re dead.“

Mit diesen Kommentaren zum Cover des Buches habe ich schon die halbe Geschichte erzählt. Wer die andere Hälfte kennen lernen will, möge bei Google nachsehen. Die ist auch voller Kuriositäten: ein Hund „Eric Blodaxe, the pride and prime of the bulldog breed.“ Eine Tochter Mandy, die von dem Mann schwanger war, der später mit Myra nach Algerien fuhr und dort einfach verschwand. Ein Schwiegersohn, der ein großes Bild aus dem Atelier Handley stiehlt, um seine Frau zu beeindrucken. Und warum heißt dieser Mittelteil einer Trilogie nun A Tree on Fire? Nachdem Handley den Diebstahl seines akuten Bildes bemerkt, gerät er in eine Spirale der Selbtreflexion:

I’m an artist whatever bad happens must turn into something good if I’m to survive and win. I’ll find who took it, and break whatever backbone is responsible before I’ll let anyone set fire to the tree I’ve grown into.

Lohnt es sich, so ein Buch heute noch zu lesen? Finden Sie’s raus!

 

55

Christoph Ransmayr: Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten. S.Fischer, Frankfurt a.M. 2021

Ich achte Christoph Ransmayr für einige seiner Bücher nachgewiesenermaßen sehr (siehe meine Rezensionen in diesem BLOG), habe mir vor kurzem sein neuestes Werk gekauft, da ich Lust hatte auf abgelegene Thematik und sprachliche Brillanz, also der Verfolgung des Vermögens, Dinge, die absonderlich sind, so darzustellen, dass sie im Detail absolut glaubhaft erscheinen. Hätte ich die Verlagsreklame für das Buch und Pressezitate auf der Rückseite des Einbandes vorher gelesen, ich hätte mir dieses Buch vermutlich keineswegs gekauft.

Der Verlag schreibt:

Ein Langboot kentert in den Kaskaden eines Weißen Flusses. Fünf Menschen ertrinken. Der „Fallmeister“, ein in den Uferdörfern geachteter Schleusenwärter, hätte dieses Unglück verhindern müssen.“

Es wird nirgendwo in dem Buch genau beschrieben, was da eigentlich passiert ist. Es wird aber darauf abgehoben, dass der Vater ein Mensch war, der, im 23. Jahrhundert lebend (denn in diesem scheint die Geschichte zu spielen), absolut auf die Vergangenheit fixiert war. Diese Thematik bleibt jedoch nur angedeutet und ist nicht eingebettet in die Konstruktion der Erzählung.

Als er ein Jahr nach der Katastrophe verschwindet, beginnt sein Sohn zu zweifeln: War sein jähzorniger, von der Vergangenheit besessener Vater ein Mörder?“

An keiner Stelle des Romans wird deutlich, was das Motiv für einen solchen Mord hätte sein können. Der Sohn macht sich zwar auf die Suche nach einem Motiv, doch was er findet, steht in keinem Zusammenhang mit dem, was er vorher beobachtet hat.

Die Suche nach der Wahrheit führt ihn durch eine düstere, in Kleinstaaten zerfallene Welt.“

Was der Erzähler aber in Wirklichkeit sucht, ist nicht so sehr die Wahrheit über seinen Vater, sondern seine an Osteoporose leidende Schwester (eine mit Glasknochen), zu der er ein inzestuöses Verhältnis unterhalten hatte bis zu ihrer Flucht, ja sie war offensichtlich vor ihm geflohen! Ich muss das jetzt hier sagen, verraten, denn Sie werden ja nach meiner Rezension das Buch eh nicht lesen wollen, bei ihrem Wiedersehen umarmt er sie gegen ihren Willen, wobei er sie schlicht erdrückt, als er das Glas kaputt macht. Unser Erzähler wird also zum Mörder, da er sich ihrer gegen ihren Willen körperlich in einer Weise genähert hatte, die zu ihrem Ableben führte. Der Polizei hat er weiß-Gott-was weisgemacht: Er hat sie so an einer Treppe drapiert, dass es den Anschein haben konnte, sie sei gestürzt und dabei zu Tode gekommen.

Von all dem schweigt jedoch der Buchdeckel, zu Recht, da diese Geschichte nicht zu der sonstigen Handlung des Romans zu passen scheint, es sei denn, der Autor habe es darauf angelegt, möglichst viele interessante, also reizvolle Elemente in das ansonsten etwas blasse, wenn auch dekorativ beschriebene Geschehen einzufügen, um uns einen dramatischen Mix anzubieten, was natürlich in gewisser Weise einer billigen Anbiederung nahe kommt.

Die Suche nah der Wahrheit führt ihn (den Sohn) durch eine düstere, in Kleinstaaten zerfallene Welt.“

Ach ja, der Roman kommt recht dystopisch daher. Der Vater ist nur der Vergangenheit zugewandt; das Wasser ist im 23. Jahrhundert knapp geworden, so dass eine globale Kriegssituation herrscht; Wüste breitet sich aus und Meeresufer werden vom Wasser verschluckt; Wasseringenieure sind die Zaren der Zeit, sie dürfen alles, sind mit Privilegien überhäuft; Europa ist zerfallen in kleinste Kleinstaaten, Amerika scheint es nicht viel besser zu gehen. Ransmayr schließt sich damit einigen anderen zeitgenössischen Autoren an, die sich mit solchen dystopischen Szenarien gegenseitig zu überbieten suchen und offenbar glauben, dass die Ausmalung dessen, was demnächst so schrecklich für uns sein wird, auf die Waage gelegt wird bei der großen Preisfrage, wer so etwas am schönsten beschreiben kann.

Virtuos und mit großer Sinnlichkeit erzählt Christoph Ransmyr von menschlicher Schuld und Vergebung.“

Sinnlich wird es in diesem Roman, als die glasknochene Schwester bei einem Badegang vor dem Bruder aus dem Wasser auftaucht und sich ihm in die Arme wirft. Und ein wenig sinnlich wird es auch kurz bevor der Bruder die Schwester in seinen Armen erdrückt. Aber ja, um Schuld scheint es ja doch zu gehen. Immerhin hat der Bruder die Schwester totumarmt. Und um Vergebung geht es wohl auch, als dem Sohn klar wird, dass seine Mutter ihrem „Fallmeister“ offenbar nicht mehr böse ist.

Dass der Roman nicht das Gelbe vom Ei ist, ist offenbar auch dem Verlag aufgegangen. Denn auf dem rückseitigen Buchdeckel ist nun folgendes Zitat vermerkt:

Was für einen Kunst! Weltliteratur.“

Dieses Zitat von einen gewissen Andreas Platthaus aus der FAZ bezieht sich allerdings auf „Cox oder Der Lauf der Zeit“, einem Buch das aber schon vor etwa 5 Jahren erschienen war. Mag sein, dass das Weltliteratur war. Aber was hat das mit dem neuen Roman zu tun? Vielleicht hat der Autor mal ein goldenes Ei gelegt. Und das wird nun wieder hervorgekramt?

Von vielen wird er, endlich, für den größten Gegenwartsautor deutscher Sprache gehalten. (…) Eine Entdeckung und Offenbarung.“

Dieses Zitat auf dem Buchdeckel ist von Melania Mazucco, die für La Repubblica schreibt.

Melania

Eine Entdeckung ist Ransmyr ja wohl nicht, da er schon lange auf dem Markt ist. Aber warum nennt sie ihn eine „Offenbarung“? Vielleicht hängt das ja damit zusammen, dass Melania wie Rapunzel ihr langes Haar herunterlässt und dabei offenbar etwas sieht, was anderen verborgen ist: ihren Märchenprinzen…

 

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Fichtes Briefe. Insel-Verlag, Leipzig 1919

Fichtes Briefe. Ausgewählt und herausgegeben von Ernst Bergmann. Insel-Verlag, Leipzig 1919

Nach einer Beschäftigung mit Jean Paul, insbesondere mit dem Titan und der Clavis Fichtiana, war ich neugierig auf Fichte geworden. Dessen nach Jean Paul gedanklich-sprachliches Abenteuerertum um den Satz Ich bin ich und die Erfindung eines groß geschriebenen Ichs, das den guten Schoppe bekanntlich in den Wahnsinn getrieben hat, ist bei Jean Paul derart liebevoll-sarkastisch verarbeitet, dass ich der Sache, also Fichte, einmal näher auf den Grund gehen wollte. Und da man eine Philosophie manchmal besser über die Bekanntschaft mit deren Autor als über dessen Schriften kennenlernen kann, nahm ich einen Band zur Hand, der bisher ein absolutes Nischendasein unter meinen Büchern gefristet hatte, nämlich Fichtes Briefe, veröffentlicht in MDCCCXIX.

Fichte hatte sich während der Befreiungskriege gegen Napoleon, in denen ja praktisch zum ersten Mal deutsche „Volksheere“ gegen den äußeren Feind kämpften, mit seinen Berliner „Reden an die deutsche Nation“, bei denen er angeblich mit einem umgegürteten Schwert im Hörsaal erschien, politisch engagiert. Seine Reden wurden mit Begeisterung aufgenommen, zumal er ein glänzender Rhetoriker war. Angeblich hatte er eine ähnliche Wirkung zur Zeit des 1. Weltkriegs, wenn wir dem Herausgeber seiner Briefe glauben schenken dürfen.

Mehr als irgendein anderer Philosoph aus der großen deutschen Vergangenheit ist Fichte mit seinem hohen Idealismus während des Weltkrieges dem deutschen Volk nahe getreten. Seine Idee des wahrhaften Krieges schwebte unserer akademischen Jugend vor, als sie in den ersten Augusttagen des Jahres 1914 aus den Hörsälen der Universität auf den Exerzierplatz zog.

Nichts von einem solchen Pathos ist indes in seinen Briefen zu finden, in denen er sich sehr akribisch um eine klare Kommunikation bemüht, deren oberstes Prinzip es zu sein scheint, den anderen genau zu verstehen und auch genau verstanden zu werden. Die Briefe zeichnen sich aus durch Direktheit der Ansprache und auch eine gewisse Kompromisslosigkeit, die manchen wohl auch als Schroffheit erschienen ist.

Fast die Hälfte aller Briefe geht an Johanna Fichte, geb. Rahn. Ein guter Teil geht an Vater und Bruder, die weiteren Briefe gehen an Kant, Goethe, Schelling und Schiller. Seiner Verlobten und Frau wendet er sich in liebevoller Besorgnis zu, seinen Bruder maßregelt er sehr deutlich, an Kant wendet er sich nicht nur in wissenschaftlichen Dingen, Goethe erfährt Hochachtung, Schiller auch, aber deutlich abgestuft, und mit seinem jüngeren Kollegen Schelling ringt er um das richtige Verständnis seiner Wissenschaftslehre. Jedem also das Seine. Aber schauen wir uns das einmal näher an.

Die ersten Briefe an Johanna Rahn wurden in Zürich verfasst, wo sich beide 1790 aufhielten. Johannas Vater besaß dort ein größeres Handelsgeschäft, sie war eine Nichte Klopstocks. Fichte hatte in Zürich die Stelle eines Hauslehrers bei einem Gastwirt, und es ist überliefert, dass er nicht nur dessen Töchter unterrichtete, sondern auch beständig bemüht war, auf die Erziehungstätigkeit der Eltern Einfluss zu nehmen, was natürlich nicht immer gut ankam. Man muss sich vorstellen, dass die Briefe an Johanna aus dieser Zeit nicht etwa postalisch zugestellt wurden, sondern durch Boten von Tür zu Tür gebracht wurden oder auch in Gesellschaft heimlich zugesteckt wurden. Und so schreibt er im Frühjahr 1790:

Meine teuerste Freundin!

Kein Wort über die Begier, mit der ich Ihren Brief wie ein Dieb und ungeschickt genug zu mir steckte, mit ihm nach Hause eilte, mich auf mein Zimmer einschloß und ihn nicht, wie ich sonst wohl pflege, mit Heißhunger verschlang, sondern mit langsamem Genusse, Zug um Zug hinunterschlürfte!

Fichte hatte jedoch nicht vor, auf ewig in Zürich Hauslehrer zu bleiben und machte sich Hoffnung auf eine Stelle an einen Hofe. Es stand also eine Trennung von Johanna bevor. Er schrieb ihr jedoch, dass er ihr den Tag seines Abschieds nicht mitteilen werde, um keine Erinnerungen an einen schmerzlichen Abschied mitnehmen zu müssen. Sie werde also nach einem bestimmten Treffen in der nächsten Zeit nicht wissen, ob es das letzte sei. Aber bevor er abreist, findet eine heimliche Verlobung statt. Wohin die Reise gehen wird, scheint er indes noch nicht zu wissen.

Bern oder Kopenhagen, Lissabon oder Madrid oder Petersburg ist mir in Absicht auf mich gleich; ich glaube auch, daß mein Körper so ziemlich alle Klimate verträgt. Wahre Winterskälte, wie zum Beispiel die sächsische, ist mir nie sehr drückend gewesen; aber die scharfen Winde vor Zürich waren es mir zuweilen…Ich kann mich mit der hiesigen Kocherei und vielleicht auch mit dem hiesigen Weintrinken nicht vertragen.Geräuchertes, Gesalzenes, Seefische, Bier, voila, ce qui faut à mon estomac! Von dieser Seite aus also würde ich von Kopenhagen wenig befürchten.

Offenbar hat Johanne ihn gefragt, warum er denn nicht in Bern eine Stelle suche. Das ja nicht so weit wie Kopenhagen. Dem setzt er entgegen, Reise sei Reise, egal wie lang sie auch sei, und die Post von Kopenhagen nach Zürich sei eben so sicher wie die von Bern. Und er schließt diesen Gedanken ab in ganz philosophischer Manier:

So schließt mein Verstand, und ich kann ihn nicht widerlegen, so gern dies täuschende Herz auch es möchte.

Dieser Satz spiegelt eigentlich recht gut Fichtes Verhältnis zu Johanna wider. Er versichert ihr seine innigste Liebe und Treue und tut genau das, wozu sein Verstand ihn drängt. Johanna musste immer wieder zurückstecken. Doch als er eine Professorenstelle in Jena erhalten hatte, schrieb er ihr:

Wenn Du mit Papachen kommen wirst, so werden wir uns mit der Wohnung anfangs etwas eng behelfen müssen. Auf den Winter habe ich – durch ein ganz besonderes Glück bei dem hiesigen allgemeinen Mangel an Wohnungen für Familien – eine Wohnung im Vorschlage, die sehr gelegen ist und die den einzigen Mangel hat, daß sie etwas teuer ist.

Doch Fichte weiß Abhilfe:

Schadet nichts. Schreibe ich das Jahr lang zwei Bogen mehr, so ist die Sache gemacht.

Also gab es schon 200 Jahre vor den Wohnungshaien internationaler Immobiliengesellschaften eine große Wohnungsnot in Jena.  Fichte musste mit Johanna und Papachen mit einer überteuerten 40 qm Wohnung vorlieb nehmen, in die er mit den Worten einlädt:

Kommt nur bald, Ihr lieben, treuen, guten Seelen, und hütet Euch vor Verlust.

Also, Papachens Firma hatte Pleite gemacht, und Johanna hat zu retten versucht, was es zu retten gab. Weitere Verluste konnte man sich nicht leisten. Denn, wie wir aus späteren Briefen erfahren, ist die Wohnung in Jena von Papas Erbe gekauft worden. Trotzdem hat Fichte in dieser Zeit viele, viele Bögen geschrieben…

In einem Brief vom 21. Juli 1794 stimmt Fichte seine Frau darauf ein, wie es sein wird, mit ihm zu leben. Er schreibt ihr, es werde nicht einfach sein, aber immer noch besser als mit anderen Gelehrten, die abends weit weniger entspannt als er nach Hause kommen oder ihr Stehpult verlassen:

Meine Teuerste!

Vom Spekulieren ermüdet, wende ich mich zu Dir, um ein wenig mit Dir zu plaudern, und freue mich, daß die Zeit heranrückt, wo ich, vom Spekulieren ermüdet, mündlich mit Dir plaudern werde. Ich sage, vom Spekulieren ermüdet; denn auf andere Zeit rechne nur nicht. Mein Tagewerk, das Geschäft meines Lebens, in welchem ich mit Glück arbeite, ist mir das erste. Daß ich dann, wenn ich brav gearbeitet habe, um nichts schlimmer bin, weißt Du schon aus Erfahrung. Du hast also vor den Frauen anderer Gelehrten das voraus, welche ihre Männer auch nicht sehen, als wenn sie nicht mehr arbeiten können, dann aber sie verdrießlich und übelaufgeräumt sehen.

Und in dem, was er dann weiter schreibt, erhalten wir eine Anschauung davon, wie die Gelehrten jener Zeit ihre Tage und Abende verbracht haben:

Ich habe mir bei Jena schon ein Lieblingsplätzchen gewählt, wo es mir einigemal sehr wohl gefallen hat. Da wollen wir so miteinander hinspazieren… und die Mondscheinabende dort zubringen. Aber dieses halbe Jahr über geht es nur Sonnabends, denn die anderen Tage muß ich früh um sechs Uhr lesen, also um vier Uhr aufstehen und mithin abends zu rechter Zeit zu Bett gehen.

Machen wir einen Sprung in der Zeit, da hier natürlich nicht das Leben Fichtes dargestellt werden kann. Fichte war wegen der politischen Umstände (Napoleon) nach Königsberg geflohen und erhielt dort eine Professur, für die er offenbar ein gewisses Gehalt erhielt. Aber:

Ich habe zwar hier durchaus nichts denn meinen Gehalt, und durch Arbeit ist hier nichts zu verdienen. Die Zumutung, die Kollegia bezahlen zu sollen, ist hier eine unerhörte Neuerung gegen alles Herkommen und die akademische Freiheit und wird mit Fenstereinwerfen und Periieren erwidert. Da ich nun aber gleichwohl nicht umsonst zu lesen gedenke, so werde ich diesen Sommer, ungeachtet ich vier Kollegia angeschlagen habe, dennoch gar nicht lesen, sondern desto fleißiger für mich selbst arbeiten.

Man muss sich das also so vorstellen: Die Studenten brauchten bisher für die „Kollegia“ keine Gebühren bezahlen. Das ist nun aber offenbar geändert worden. Und aus Protest über diese Zumutung werfen sie bei den Professoren die Fensterscheiben ein und periieren, also ziehen bedrohlich ums Haus herum. Die 68er-Studenten waren dagegen doch der reinste Kindergarten. In Heidelberg haben sie zwar, als der Rektor die Uni verschloss, um weitere Teach-ins oder Sit-ins zu verhindern, die schwere Eichentür aus den Angeln gehoben und anschließend in den Neckar geworfen. Aber mir ist nicht bekannt, dass man beim Prof. Conze die Scheiben eingeschlagen hat.

Als Fichtes Bruder Gotthelf im Frühjahr 1795 den Wunsch äußert, zu ihm nach Jena zu ziehen, stelle Fichte für ihr ein detailliertes Erziehungsprogramm zusammen, und als der Bruder glaubt, dem Genüge getan zu haben, schreibt Fichte ihm klipp und klar:

Endlich aber verhindert es besonders meine jetzige Lage ganz und gar, Dich, ehe Deine Sitten mehr Feinheit haben, in mein Haus zu nehmen.Ich habe meine sehr triftigen Gründe, zu wollen, daß nichts, was mir angehört, auf irgendeine Art dem Tadel des Publikums ausgesetzt sei. – …Ferner weiß ich sehr sicher, daß Du die schöne Rammenauische Sprache noch immer nicht abgelegt hast, und daß diese erst weg wäre, wünsche ich gar sehr.

Auch heute tun sich die Sachsen aus der Oberlausitz noch etwas schwer mit der Sprache, oder?

Im April 1791 macht Fichte sich Hoffnung auf eine Anstellung bei einem polnischen Grafen in Warschau. Die dünkelhafte Gräfin und der stolze Fichte passten indes nicht zusammen, und so tritt er die Rückreise nach Deutschland an, macht jedoch einen Abstecher nach Königsberg, eine kleine Schrift „Kritik aller Offenbarung“ in der Tasche, die er gerade mal in vier Wochen geschrieben hatte. Im Juli schreibt er an Kant:

Verehrungswürdiger Mann!

Denn andere Titel mögen für die bleiben, denen man diesen nicht aus der Fülle des Herzens geben kann. Ich kam nach Königsberg, um den Mann, den ganz Europa verehrt, den aber in ganz Europa wenig Menschen so lieben wie ich, näher kennen zu lernen.

Dann weist er darauf hin, dass er sich zwar Empfehlungsschreiben für einen Besuch beim Meister hätte besorgen können, er es aber vorziehe, sich selber zu empfehlen – mit o.g. Schrift, die er Kant zukommen lässt. Er bekommt die „Audienz“. Aber am 1. September schreibt er noch einmal, und diesmal wählt er eine ganz andere Anrede. Kant hatte seine Schrift mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen und sie sogar einem Verleger empfohlen. Dem abgewiesenen Hauslehrer Fichte, der vergeblich nach Polen gereist war, ist nämlich das Geld ausgegangen, und da er in Königsberg niemanden kannte, wandte er sich, nur noch ein paar Groschen Barschaft in der Tasche, an Kant, um ihn anzupumpen.

Ew. Wohlgeboren verzeihen gütigst, daß ich abermals lieber schriftlich als mündlich mit Ihnen reden will.

Aber dieses Mal treibt ihn nicht die Ehrfurcht vor dem großen „Mann“ an, sondern die pure Verzweiflung, in wenigen Tagen ohne jede Geldmittel aus dem Gasthof geworfen zu werden.

Ich habe noch zwei Dukaten, und selbst diese sind nicht mein; denn ich habe sie für Miete und dergleichen zu bezahlen. Es scheint also kein Mittel übrig, mich zu retten, wenn sich nicht jemand findet, der mir Unbekanntem bis auf die Zeit, da ich sicher rechnen kann, wieder zu bezahlen, das ist bis Ostern künftigen Jahres, gegen Verpfändung meiner Ehre und im festen Vertrauen auf dieselbe, die Kosten der Rückreise vorschieße.

Fichte empfindet eine tiefe Beschämung, da er ja einen Teil der Ehre, die er als Pfand einsetzt, durch diesen Akt einbüßt. Aber es hilft alles nichts, denn

Ich kenne niemand, dem man dieses Pfand, ohne Furcht, ins Angesicht gelacht zu werden, anbieten dürfte, als Ihnen, tugendhafter Mann.

Und dann stellt er sich noch als aufmerksamen Schüler Kants da, indem er quasi den Kategorischen Imperativ zitiert:

Ich habe die Maxime, niemand etwas anzumuten, ohne untersucht zu haben, ob ich selbst vernünftigerweise bei umgekehrtem Verhältnisse eben das für jemand tun könnte.

Kant lehnte es ab, ihm Geld zu leihen, besorgte ihm indes eine Stelle als Hauslehrer beim Grafen von Krockow in der Nähe von Danzig, und es war sein Glück, dass er sich mit der Gräfin diesmal ausgezeichnet verstand. In weiteren Briefen an Kant bediente sich Fichte in der Regel der Anrede

Wohlgeborener Herr,

Höchstzuverehrender Herr Professor!

Bei der Korrespondenz mit Goethe und Schiller dreht es sich meist um Dinge technischer Natur, was bestimmte Veröffentlichungen angeht. Die Briefe an Goethe enthalten Anreden von Verehrungswürdiger Mann bisHochwohlgeborener Herr! Hochzuverehrender Herr Geheimer Rat! Die Briefe an Schiller enthalten keine förmliche Anrede, sind im Ton gelegentlich maßregelnd, ja sogar drohend. Fichte hat den Eindruck, Schiller habe ihn nicht verstanden und entrüstet sich vehement darüber, dass dieser ihm Verworrenheit der Begriffe vorwirft. Er wirft seinerseits Schiller vor, zwar ein recht ordentlicher Historiker zu sein, während seine philosophischen Schriften, statt auf abstrakte Begriffe zu setzen, in einer Flut von Bildern ertrinken.

Philosophisch am ergiebigsten sind die Briefe an Schelling. Sie setzen sich mit der Kantschen Philosophie auseinander sowie mit Differenzen in der Auffassung eines Transzendentalen Idealismus. Doch schon nach zwei Jahren der Korrespondenz kommt es auch zwischen ihnen zu Verwerfungen. Fichte glaubt, dass Schelling ihn nicht verstehe. Und er entrüstet sich darüber, dass der so garstige Dinge über ihn und an ihn schreibt. Inhaltliche Differenzen seien das eine, meint Fichte. Aber:

Ihr Schreiben hat noch einen zweiten Teil, dessen Berührung mir schmerzhaft ist. Wie kommt es doch, daß Sie sich nicht mitteilen können, ohne zu beleidigen, und daß Sie die Ihnen gegenüber so gern feige und falsch denken mögen? (15. Oktober 1801)

Schelling hatte Fichte offenbar „Klatscherei“ vorgeworfen. Der wehrt sich, indem er darauf verweist, dass ihm durchaus zu Ohren gekommen sei, wie sehr Schelling ihn bei seinen Vorlesungen in Jena verspotte, er aber nie darauf eingegangen sei. Er sagt Schelling: Sie sind im Grunde ein guter Mensch, und ich werde ewig Ihr wärmster Freund sein, werde Sie aber, wenn Sie wieder mal ausrasten, mit Nichtbeachtung bestrafen:

Fällt es Ihnen aber wieder ein, mich mit aller Vergessenheit dessen, was wir beide sind, zu behandeln, so werde ich Sie bedauern, ruhig sein und warten, bis Sie sich wieder besinnen.

Am Ende seines letzten Briefes an Schelling entpuppt sich Fichte als ein wahrer Meister einer Art doppelten Kommunikation. Man stelle sich die beiden vor, wie sie sich an einem Tische sitzend miteinander unterhalten. Während Fichte mit unschuldiger Miene nette Artigkeiten sagt, tritt er ihm unter dem Tisch kräftig ans Schienenbein. Fichte kündigt Schelling eine neue Schrift an, die zu Ostern 1802 erscheinen soll, in der es wohl auch um strittige Punkte zwischen ihnen geht. Aber Fichte sagt ihm durch die Blume: Reg Dich bloß nicht darüber auf, denn es geht dabei gar nicht um Deine Wenigkeit (wörtlich gemeint), ich setzte mich mit einem mir ebenbürtigen Gegner, nämlich Spinoza, auseinander. Und versichert ihm am Schluss nicht seine Hochachtung und Liebe, sondern sagt lediglich, der Brief drücke sie aus, so dass man solches nicht am Schluss noch einmal sagen müsse…

Ich habe vor – nicht etwa aus Schonung gegen Sie (ich bin nicht so kleindenkend, um zu glauben, daß Sie derselben bedürfen) – sondern um Anstoß zu vermeiden, über diesen Punkt, den ich allerdings erörtern muß, gar nicht Sie, sondern lediglich Spinoza zu meinem Gegner zu machen; und es wird dann von Ihnen abhängen, fortzufahren oder einzulenken, wie Sie selbst es gutgetan finden.

Ich hoffe, mein teuerster, verehrter Freund, dieser ganze Brief spricht so deutlich meine Achtung und Liebe für Sie aus, daß es keiner besonderen Versicherung derselben zum Schlusse bedarf.

Ganz der Ihrige

Fichte,

 

53

Jean Paul: Titan. In: Sämtliche Werke Band 3, München 1999

Ich empfehle Jean Pauls Roman ausdrücklich in diesen Zeiten der Pandemie, in denen man viel Zeit totschlagen muss. Mithin bereit ist, einmal Dinge zu tun, auf die man sonst nicht gekommen wäre.

Wer kennt das nicht: Ein Bekannter erwähnt ein neues Buch oder bringt einen abseitigen Schriftsteller ins Gespräch. Und dann ist schon mal schnell eine Bestellung aufgegeben, und ein paar Tage später kommt ein kleines oder großes Bücherpaket ins Haus. Handelt es sich um ein einzelnes Buch, kann es durchaus leicht geschehen, dass man sich damit noch am gleichen Abend zurückzieht und – es liest. Ist es jedoch eine etwas umfangreichere Lieferung, kann es passieren, dass man unversehens eine Gesamtausgabe in Händen hält. Aber was macht man jetzt mit der?

Vor genau 20 Jahren stand ich vor genau dieser Frage, als ich eine Gesamtausgabe der Werke von Jean Paul auspackte. Ich hatte, obwohl Germanist, von diesem Autor noch kein Wort gelesen. Ich hatte natürlich gehört von „Siebenkäs“, einem gewissen „Hesperus“, auch „Titan“ war mir zwar kein Begriff, aber immerhin ein Wort, das mir irgendwie mit einem gewissen, dem Vernehmen nach etwas exzentrischen Jean Paul in Verbindung zu stehen schien. Was habe ich mit dieser Gesamtausgabe also gemacht? Nun, was man mit Büchern halt so macht, ich habe sie ins Regal gestellt, irgendwo am Rande, wo sie nicht störten.

Und da habe ich sie nun nach 20 Jahren wieder entdeckt, als ich sinnend vor meinen Büchern stand und mir überlegte, ob ich nicht einmal neues Terrain erkunden sollte. Dieses Verhalten deutet übrigens auf eine gewisse akute Risikobereitschaft hin. In der Pandemie bin ich so sehr damit beschäftigt, jedes Risiko zu vermeiden, dass es mir schon recht langweilig wurde. Ich stand also vor meinen Büchern und sagte mir plötzlich: Jetzt will ich doch mal was riskieren! Und richtete sogleich meinen Blick auf die Reihe leinener Einbandrücken, deren oberstes Wort „Jean“ war. Diese (unbewusste) Zielgerichtetheit wurde indes sogleich gekontert durch einen absolut wahllosen Griff in die beige Farbe der gleichgeschalteten Bücherbände. Mein Mittelfinger (!) der linken Hand legte sich auf die obere Seite der engen Furchen der zusammengepressten Papierblätter eines beliebigen Bandes, ich zog meine Hand zurück und fing den wahllos erwählten Band mit Daumen und kleinem Finger derselben Hand auf, fasste das Buch dann mit meiner rechten Hand und hielt mir den Buchrücken in dem mir gemäßen Leseabstand vor die Augen. Ich las:

Jean Paul – Sämtliche Werke – Abteilung 1 – Band 3 – Titan – Komischer Anhang – Clavis Fichtiana

Wie die Jungfrau zum Kinde, so bin ich auf den Titan gekommen. Vielleicht wollt Ihr noch wissen, was das mit Risikobereitschaft zu tun hat? Nun, wenn ich einmal ein Buch angefangen habe, dann lese ich es bis zum letzten Buchstaben. In der Nachkriegszeit sagte man uns, zu recht: „Brot wirft man nicht weg!“ Ich habe das verallgemeinert und verinnerlicht: „Bücher knabbert man nicht an, um sie dann wegzuwerfen!“ Habe ich ein Buch einmal begonnen, lese ich es bis zum manchmal bitteren Ende. An diesem Verhalten kann man den Unterschied zwischen Wahrscheinlichkeit und Hoffnung verdeutlichen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Buch, das schlecht anfängt, nach 50 Seiten doch noch besser wird, tendiert zu Null. Aber ich kann einfach die Hoffnung nicht aufgeben. Nehme ich also nicht nur ein Buch in die Hand, sondern öffne es auch noch und fange gar an, darin zu lesen, dann ziehe ich das auch durch, egal, was da noch kommen könnte.

Risikobereitschaft? Ich wäre sogar bereit, das einen Nervenkitzel zu nennen. Also genau das, was wir gerade brauchen…

Skurril? Dann schaut Euch doch mal an, was ich dazu in Bezug auf mein Fernsehverhalten in Corona-Zeiten geschrieben habe.

Die Sache hat auch etwas damit zu tun, dass man sich selber treu bleibt. Darum bin ich auch für Laschet, diesen scheinbaren Looser. Der Söder würde jedes Buch, das ihm nach ein paar Sätzen nicht gefällt, in die Ecke feuern. Laschet würde lächeln und sagen: Na und, das ist halt so! Und weiterlesen.

Wollt Ihr jetzt wirklich noch was darüber erfahren, wie mir der „Titan“ gefallen hat? Verdammt schwere Lektüre, wenn man keine Ahnung von Fichtes Philosophie hat. Aber Gottseidank kenne ich mich da ein wenig aus… Aber selbst denjenigen, die nicht alles verstehen, aber einen Sinn für Poesie haben, empfehle ich, dieses Buch zu lesen, selbst wenn das dann so sein würde, als „lese“ man eine Partitur, ohne Noten lesen zu können.

 

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Marco Missiroli: Treue. Klaus Wagenbach, Berlin 2021

Christine Westermann hat vor ein paar Wochen auf WDR 2 im Buchtipp ein aus dem Italienischen von Esther Hansen übersetztes, bei Klaus Wagenbach 2021 erschienenes Buch des Italieners Marco Missiroli besprochen, von dem mir ein von der Rezensentin aufgegriffener Gedanke in Erinnerung geblieben ist, nämlich ein dem Buch entnommener Satz, dass man, um sich treu bleiben zu können, gelegentlich auch mal untreu sein müsse. Leider wird dieser Gedanke, von dem ich zuerst dachte, dass er sehr abenteuerlich sei und ich gerne wissen wollte, wie denn dessen Ausführung gestaltet werden könnte, im Buch zwar wie ein leiser Paukenschlag in einer ansonsten gemäßigten Oper aufgeführt, ohne indes verfolgt zu werden und der Leser sich im Großen und Ganzen mit Fragen ehelicher Treue, also relativ banalen Gegenständen, die Lesezeit vertreiben muss.

Das Buch beginnt wie gemäß einer literaturwerkstattmäßigen Anleitung für Romaneinstiege. Dialogisch beginnen, mit einfachen Sätzen den Leser in eine Fragehaltung versetzen und zugleich klein portioniert etwas von dem auftragen, was man das Gerüst der Geschichte nennen könnte.

Deine Frau ist mir gefolgt.“

Das ist die erste Zeile des Romans „Treue“, der aber eher auf Untreue als auf Treue verweist.

Meine Frau.“

Das ist jemand erstaunt und fast sprachlos.

Bis hierher.“

Und dann wird die Person, die hier den Eröffnungsschlag macht, auch wenigstens mit Namen eingeführt:

Sofia sah ihn an: „Professore?“

Eine Frau berichtet einem Professor also, dass dessen Frau ihr gefolgt sei.

Damit ist das Beziehungsgerüst des Romans also festgezurrt. Und zwei Zeilen später steht:

Carlo Pentecoste trat ans Fenster und erkennte Margheritas amarantroten Mantel……Carlo drehte sich wieder zu seinen Studenten um…“

Damit ist klar: Es geht in diesem Buch um einen Professor mit Namen Carlo Pentecoste, dessen Frau Margherita heißt und offenbar dazu neigt, jungen Studentinnen ihres Mannes  nachzuspionieren. Warum wohl?

Der Leser braucht nicht lange zu warten, um eine Antwort darauf zu erhalten. Denn es wird nun erzählt, dass Sofia in der zweiten Reihe des Hörsaals Platz genommen hat, und während sie Block und Knabbersachen auspackt, ergreift der Erzähler die Chance, in medias res zu gehen:

Sie wirkte jünger als zweiundzwanzig, mit ihrem zierlichen Gesicht und denn grazilen Bewegungen, weswegen ihre Hüften umso mehr verwunderten. Sie sah ihn mit der gleichen Besorgnis an wie zwei Monate zuvor, als beide beim Rektor einbestellt waren, weil eine Studentin aus dem ersten Semester sie in der Toilette im Erdgeschoss überrascht hatte: er über ihr, seine Hände zärtlich an ihrem Hals oder so ähnlich, die Studentin hatte erst die eine Version erzählt, dann eine andere, dann unzählige, die am Ende alle das Gerücht erhärteten, dass es zwischen Professor Pentecoste und einer seiner Studentinnen zu einer uneindeutigen Annäherung gekommen war.“

Sollte jemand von einem Buch über „Treue“, das ja notwendigerweise auch deren möglichen Bruch, also die „Untreue“ thematisieren muss, nun erwarten, mit delikaten Schilderungen über untreuemäßige Begebenheiten versorgt zu werden, so muss ich leider sagen, dass er da sehr enttäuscht sein wird. Denn die oben angeführte Schilderung der den Roman anstoßenden Begebenheit gehört schon zum Gewagtesten, das uns zugemutet wird („seine Hände zärtlich an ihrem Hals…“). Wenn man einmal absieht von der Schilderung einer Art Gegenszene, in der geschildert wird, wie nun Margherita ihrerseits ihr Schicksal in die Hand nimmt, bzw. sich von den aufmerksamen Fingern der Hände eines Masseurs inspirieren lässt, das nächste Mal in einem Badeanzug bei ihm zu erscheinen, damit das Massagespiel der Hände, genauer des kleinen Fingers einer dieser Hände, der ja etwas abstehen könnte, an ihren Oberschenkeln seine Unschuld verlieren würde.

Leider stellt sich heraus, dass der Massagebadeanzugsmeister schwul ist. Aber man bleibt Freunde. Weil es auch um die Rettung der Mutter geht, die der Hilfe eines kundigen Physiotherapeuten bedarf. Carlos und Margherita ziehen indes in eine neue teuere Eigentumswohnung im Herzen von Mailand, bekommen ein Kind. Atempause. Der Roman lässt eine erzählerische Lücke und setzt einige Jahre später wieder ein, nachdem man es sich in der durch Betrug billig erworbenen Wohnung gemütlich gemacht hat. Margheritas schwuler Freund wird in blutigen Schaukämpfen zusammengeschlagen, der Professor verliert seine Anstellung, Margheritas Firma geht in einem ausländischen Immobilienimperium auf, aber was macht Sofia? Sie ist ja vor Jahren schon nach Rimini abgehauen und hilft ihrem Vater in dessen Eisenwarenhandlung. Als Carlos ein Bewerbungsgespräch für einen Posten als Marketingdirektor erfolgreich überstanden hat, setzt er sich in einen Zug und fährt nach Rimini.

In einer griechischen Tragödie käme nun die Peripetie. Die Helden der Antike gingen glorreich unter. Mit Donnerschall. Aber wir lesen nie davon, dass einer den Schwanz eingezogen hätte.

Das Norditalien des 21. Jahrhunderts liegt auf einem anderen Stern. Davon legt das Buch Treue Zeugnis ab. Und wer das Buch noch nicht gelesen hat, mag nun fragen, was es mit der Peripetie auf sich hat und das Buch kaufen. Der Insider (der Belesene) mag milde schmunzeln ob des verdeckten Hinweises auf einen eingezogenen Schwanz. Er kann das Buch eh nicht mehr zurückgeben. So wie ein Orgasmus nicht zurückgenommen werden kann.

Womit ich endlich das thematisiert habe, was im Buch nicht genannt wird, aber als stille Glut unter der aschenen Erzählung lodert.

Insgesamt also eine ziemlich verklemmte Angelegenheit… Was man aber auch ganz anders interpretieren kann: Ein Buch über Frauen, die in der miesen Welt ihren Mann stehen, und einen Mann, der  in dieser Welt etwas verloren umherirrt. Verfasst von Marco Missiroli, einem Mann, der eine feministische Perspektive usurpiert. Und so gesehen wird es plausibel, wenn Christine Westernann dieses Buch als lesenswert durchgehen lässt.

Aufgrund meiner Sozialisation und meines Alters bin ich allerdings geneigt, dies als Verrat oder Anbiederei  zu betrachten.  Er mag vielleicht sogar Recht haben, aber es besteht der Verdacht, hier  schließe sich jemand dem Mainstream an.

 

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Ernst Dronke: Berlin. Die Andere Bibliothek, Berlin 2019

Dronke

Dieser zum ersten Mal im August 1846 erschienene und Georg Herwegh gewidmete Band über Berlin und über preußische und deutsche Zustände in den Jahren des 19. Jahrhunderts, die man einmal den „Vormärz“ nennen sollte, zeichnet sich vor allem aus durch das vorbehaltlose Engagement des Autors für das soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben seiner Zeit – und zwar aus einer kompromisslos radikal-sozialistischen, ja kommunistischen Perspektive.

Hier nun ein paar Stichwörter zu Aspekten, denen nachzugehen sich lohnen möchte:

– ausführliche Schilderung der Armut der Berliner Arbeiterklasse, wobei Armut oft mit Verbrechen Hand in Hand geht. Doch sind Verbrechen nichts anderes als eine Waffe der Notwehr, die dem Proletariat durch die Besitzenden aufgezwungen wird.

– Natürlich werden die Kriminellen bestraft. Aber Strafe verbessert nichts und niemanden. Eine Verbesserung kann nur durch die Besserung der „bewegenden Verhältnisse“ (p. 89) erreicht werden, also durch die Abschaffung der gesellschaftlichen Ungleichheit.

– Was für eine Rolle spielt die Moral in einem solchen Ungleichheitssystem? Dieser Begriff fällt zusammen mit den Begriffen der Macht und des Reichtums. Heißt: Wer Reichtum hat, hat auch die Macht, hat auch die absolute Definitionsgewalt im Reich der Moral. Markanter Satz: „Die Ehe ist der privilegierte Ausdruck der Geschlechtsliebe, während die Prostitution der unprivilegierte, der unmoralische desselben ist.“ (p. 89)

– Der Staat dient den Reichen dazu, die Nichtprivilegierten zu unterdrücken. Diese Verhältnisse können nur durch eine Abschaffung des Privatbesitzes beseitigt werden.

. Immer unter dem Schirm solcher Prämissen werden die wesentlichen Bereiche des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens beleuchtet, in großer Anschaulichkeit und mit zahlreichen Detailschilderungen. Ich erspare mir hier, Einzelheiten zu benennen und empfehle die Lektüre des Buches aufs Wärmste…

– Luther bekommt auch sein Fett ab. Er ist schuld an der Deutschen Obrigkeitsgehorsam. Die Reformation hat den Menschen zwar so etwas wie den Aberglauben genommen, ihnen aber nichts dafür als Ersatz gegeben, so dass sie nun schlimmer dran sind als vorher.

– Über den Rechtsbegriff des Liberalismus: „Es gibt nur ein wahres Recht, das der freien Persönlichkeit jedes einzelnen; dies aber ist durch die Schranken des Staates und Privateigentums der Menschheit entzogen. Indem sich also die Liberalen auf den Rechtsstaat berufen, haben sie weder das Volk noch die Einzel-Freiheit im Auge. Auch abgesehen von der Lächerlichkeit, das Recht von der Gewalt zu trennen und dennoch den Staat fortbestehen zu lassen, arbeiten auch die Konstitutionellen nur auf die Vertretung des Besitzes in der Herrschaft hin.“ (p. 267f.) Erinnert an Ernst Bloch.

– Bemerkenswert, was er zur Kunst zu sagen hat. Und zum Verhältnis Altertum und Christentum. „Die Götter der alten waren lebendige, wahre menschliche Gestalten.“ (p. 341) Das Christentum aber hat das Leben und die Kunst verdrängt: „Das, was bei den Alten Kraft gewesen war, wurde Schwäche; statt des männlichen Mutes erhob man die weibliche Demut auf das Schild, und statt des Selbstgefühls wurde die duldende Feigheit zum Ideal gemacht.“ (p. 343) Das sind Sätze, die von Friedrich Nietzsche sein könnten. Im Grunde erweist sich hier Dronkes Grundeinstellung jenseits aller radikalsozialistischen Gebetsmühlen (von denen das Buch nicht frei ist…) als eine lebensphilosophisch motivierte, man könnte auch sagen: humanistische.

 

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George Eliot: Middlemarch. Wordsworth Editions Limited, Ware 2000 (1871)

Die gegenwärtige Pandemie verschafft dem Buch von George Eliot, das doch im guten alten Stil behäbiger Psycho- und Liebesromane des 19. Jahrhunderts daherzukommen scheint (Das Buch ist in Wirklichkeit das witzigste und geistreichste, das ich in letzter Zeit gelesen habe!), eine überraschende Aktualität, zumindest was einen, aber zentralen Erzählstrang angeht, nämlich den Dr. Lydgate betreffenden, welcher nämlich ein junger Arzt ist, der versucht, in einer fiktiven englischen Stadt namens Mittlemarch Methoden anzuwenden, die bei vielen Bürgern den Verdacht erwecken, er tue da etwas, was angesichts der damals üblichen Methoden schlicht ungeheuerlich sei.

Seit vielen Monaten schon kursiert das Gerücht in Sozialen Netzwerken, Bill Gates habe vor, bei der Impfung gegen das Corona-Virus einen Mikrochip implantieren zu lassen. Gottseidank ist die Anhängerschaft dieser abstrusen Theorie überschaubar. Nicht so überschaubar war hingegen im England der Jahre um 1820, also der Jahre, da unsere Roman spielt, die Anzahl derjenigen, die aus heutiger Sicht einer ebenso abstrusen Theorie anhingen, nämlich der, dass die Ärzte Cholerakranke ins Hospital verbrachten und sie dort töteten, um anatomische Experimente an ihnen durchführen zu können. In vielen Städten, vor allem aber in Liverpool, kam es deswegen zu massiven Aufständen, in denen immer wieder auch gewaltsam dagegen protestiert wurde, dass Ärzte sogar angeblich Leichen vom Friedhof stahlen, um sie dann sezieren zu können.

Allerdings beschränken sich die Ähnlichkeiten zwischen heutigen Verschwörungstheoretikern und denen vor 200 Jahren auf den formalen Aspekt, dass man gewaltsam gegen etwas, das sich im medizinischen Bereich abspielt und das man ablehnt, protestiert,. Ich würde also nicht einen historisierenden Schluss ziehen, der so aussehen könnte: So wie sich pathologische Untersuchungen als legitime und durchaus nützliche Vorgänge etabliert haben, so wird man in beschleunigten Zeiten wie der unserigen vielleichte nicht erst in 200, sondern schon in 20 Jahren zu der Auffassung gelangt sein, beim Impfen würden Mikrochips unter die Haut gespritzt…

Anyway. Kommen wir jetzt zum Roman als solchen. Ich habe ja schon auf eine ganze Reihe von Kapiteln in Begleitung meiner Lektüre reagiert und einige Aspekte kommentiert. Wir haben bereits die Szene kennengelernt, in der sich der Arzt Dr. Lydgate fast ohne eigenes Zutun und eigentlich wider Willen mit Rosamunde, der Tochter des Bürgermeisters, verlobt. Der Arzt entstammt vermeintlich einer wohlsituierten Familie, auf die es Rosamunde eigentlich abgesehen hat, von der sie aber bitter enttäuscht wird, als die ihr und ihrem Mann nicht helfen können, nachdem der Arzt und seine anspruchsvolle junge Frau tief in Schulden geraten sind. Rosamunde entwickelt sich zu einem regelrechten lieblichen, aber unerbittlichen Hausdrachen, der den armen Lydgate total beherrscht. Lydgate lässt sich vom Bankier Bulstrode dazu überreden, ohne Entgelt in einem Hospital mitzuwirken, und da er ab und zu eine Leiche „abzweigt“, die er nach neuesten Erkenntnissen sezieren möchte, gerät er ins Fadenkreuz der Middlemarcher. Außerdem hat er die für Ärzte seines Zeitalters völlig ungewöhnliche Angewohnheit, Medizin nicht selber zu mischen und zu verabreichen, sondern Rezepte für den Apotheker auszustellen. Das hat für ihn den unerwünschten Nebeneffekt, dass seine Patienten gar nicht einsehen, wofür er überhaupt Geld verlangt, da bislang die vom Arzt selber verabreichten Mittel das monetäre Maß aller Dinge waren.

Man könnte Lydgate als den eigentlichen männlichen Helden dieses Romans bezeichnen. Der weibliche Heldenpart ist Dorothea zugedacht, der das gesamte erste Buch gewidmet ist. Sie heiratet einen doppelt so alten Geistlichen, der schon seit dreißig Jahren Material für ein Buch sammelt, das nie fertig wird. Doch als dieser alte Herr Dorothea einen Heiratsantrag macht, willigt sie ein, da sie erstens etwas naiv ist und zweitens ein liebendes Herz besitzt. Eine fatale Kombination, denn die Ehe läuft nicht so gut, nicht zuletzt auch deswegen, weil ein junger Verwandter des Herrn Casaubon, Will Ladislaw, die Bühne betritt, und natürlich sind er und die junge Dorothea füreinander bestimmt. Der Roman bezieh einen Großteil seiner Spannung aus den unklaren Verhältnissen. Denn jeder bemüht sich, den Normen der Zeit gemäß zu handeln, und das wäre ja an sich kein Problem, wenn es nicht die uneingestandene Liebe zwischen den beiden jungen Leuten gäbe. Und so mäandert die Erzählung zwischen Nähe und Ferne der beiden, bis der alte Herr stirbt. Und das Glück könnte jetzt seinen Lauf nehmen, wenn nicht das Testament Casaubons die Bestimmung enthielte, dass Dorothea das ganze von ihm ererbte Vermögen verlöre, wenn sie Will heiratete. Der frühe Tod dieses eifersüchtigen und rachsüchtigen Alten eröffnet also ein Spannungsfeld der ganz eigenen Art…

Ein ähnlicher Schuft ist jedoch auch ein anderer, dessen Namen ich schon erwähnt habe. Der Herr Bulstrode, Lydgates Gönner, gilt allgemein als ein sehr geschäftstüchtiger, aber auch frommer Mann. Niemand ahnt, wie er zu seinem Vermögen gekommen ist. Und als er in die Gefahr gerät, dass sein großes schwarzes Geheimnis bekannt wird, bedient er sich wieder des Doktors und reißt den mit ins Verderben.

Wie es am Ende ausgeht, weiß aber jedes Kind. Am Ende werden die Guten belohnt und die Bösen bestraft. Der Autorin gelingt es indes, dies alles ohne kitschiges Pathos zu erzählen. Öfters verweilt sie, vor allem, bevor es ans eigentliche Erzählen geht, um in einer äußerst humorvollen und tiefgründigen Weise über ihre Helden nachzudenken, so dass man den Eindruck gewinnt, dass sie quasi deduktiv aus theoretisch-psychologischen Axiomen heraus den Charakter ihrer Figuren entwickelt.

Ach, und noch etwas ist mir aufgefallen, eine stilistische Eigenart, für die im deutschen Sprachraum vor allem Thomas Mann bekannt ist. Eliot bedient sich gewisser Leitmotive wie in der Musik, um Eigentümlichkeiten ihrer Figuren zu markieren. So lässt sie Herrn Brooke, den Onkel Dorotheas, den letzten Halbsatz einer „Ansprache“ wiederholen. Oder noch markanter: Rosamundes Stimmungen werden oft nur angedeutet durch eine kurze Beschreibung der Stellung ihres Halses:

Nennen Sie sich ein ungebildetes Mädchen aus der Provinz?« fragte Lydgate und sah sie dabei mit einem Blick an, in welchem sich eine so rückhaltlose Bewunderung malte, daß Rosamunde vor Vergnügen errötete. Aber sie blieb ungeziert ernsthaft, drehte ihren schlanken Hals ein wenig, und berührte mit den Fingerspitzen ihre wunderbaren Haarflechten, eine ihr zur Gewohnheit gewordene Bewegung, die sich grade so niedlich ausnahm wie das Spielen eines Kätzchens mit seiner Pfote.“ (Kap. 16)

Sechs Wochen sind reichlich, sag‘ das, Rosamunde,« fuhr Lydgate dringend fort, indem er ihre Hände los ließ und seinen Arm sanft um sie schlang.

Sofort stutzte sie mit der einen ihrer kleinen Hände ihr Haar zurecht, während sie durch eine Wendung des Halses ihrer nachdenklichen Stimmung Ausdruck gab, und sagte dann ernst:

»Es müßten noch das Leinenzeug weggelegt und die Möbel aufgestellt werden; aber das könnte Mama besorgen, während wir fort sind.“ (Kap. 36. Wie töricht von Lydgate, dem es vor der Hochzeit nicht schnell genug gehen konnte!)

Rosamunde war eben damit beschäftigt, sich vor Tische das Haar zu machen, und das Bild ihres Gesichts im Spiegel zeigte keine Veränderung ihrer liebliche im Spiegel zeigte keine Veränderung ihrer lieblichen Züge; nur der lange Hals war etwas seitwärts geneigt. Lydgate, der, die Hände in den Taschen, auf und abgegangen war, blieb jetzt neben ihr stehen, als ob er eine Zusage erwarte.“ (Kap. 58)

Rosamunde machte eine Wendung mit dem Halse und stutzte ihr Haar zurecht, indem sie dabei aussah wie das Bild milder Gleichgültigkeit. Das nächste Mal aber, wo Will sie in Abwesenheit Lydgate’s besuchte, sprach sie mit schlauer Miene davon, daß er seine Drohung, nach London zu gehen, noch nicht ausgeführt habe.“ (Kap. 59)

O, wenn Du wie die Wrenchs leben willst!« sagte Rosamunde mit einer kleinen Wendung ihres Halses, »aber früher hast Du mit Widerwillen von einer solchen Art zu ist leben gesprochen.“ (Kap.64)

Ja, wohl. Gewiß höre ich Dich,« antwortete Rosamunde, indem sie den Hals wie ein graziöser Schwan auf die Seite neigte.

Lydgate warf den Kopf ohne alle Grazie heftig in den Nacken und ging, da er sich seiner selbst nicht sicher fühlte, zum Zimmer hinaus. Rosamunde dachte bei sich, er werde immer unerträglicher. Daß sie ihm eine neue Veranlassung zu seinem peremptorischen Auftreten gegeben habe, fiel ihr nicht ein.“ (Kap. 75)

Ihr Schwanenhals und sein Hals, der sich ohne Grazie wütend nach hinten bäumt – eine halshafte Verdichtung des Endes einer Beziehung…

Ich will zum Schluss noch einmal auf Parallelen zu heute zurückkommen. Da wäre zunächst einmal der schon erwähnte Bezug zur Cholera. Ich fand es bemerkenswert, dass die Erzählerin erwähnt, dass es, als in Middlemarch ein Fall von Cholera bekannt wurde, sofort eine Versammlung gab, in der über den Ankauf eines Grundstücks beraten wurde, das als Friedhof für die zu erwartenden Toten eingerichtet werden sollte.

In unseren Tagen spricht man ja häufig davon, dass man auch die Chancen sehen müsse, die in einer solchen Ausnahmesituation liegen. Im Augenblick sieht es allerdings so aus, dass ja nun leider viele Freiheiten eingeschränkt werden müssen. Mitten in der Cholera-Epidemie in England wurde hingegen im Jahre 1832 der Great Reform Act durchs Parlament gebracht, der den Engländern und Einwohnern von Wales mehr demokratische Rechte bescherte. Zum Beispiel stieg die Anzahl der Wahlberechtigten von 435.000 auf 652.000. Auf die politische Situation wird im Roman explizit und teilweise sogar detailliert Bezug genommen.

Und schließlich soll auch nicht unerwähnt bleiben, dass auch die Erweiterung des Eisenbahnnetzes ausführlich thematisiert wird, teilweise in der gewohnt humoristischen Weise, z.B. in der Schilderung einer Szene, in der aufgebrachte Landbesitzer oder Pächter mit Mistgabeln gegen einen Vermessungstrupp vorgehen, der sondieren soll, wo die Eisenbahnschienen verlegt werden können. Die Eisenbahn galt vielen als Teufelszeug. So wie vor einigen Jahren bei uns die Startbahn West…

 

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Ilja Leonard Pfeijffer: Grand Hotel Europa. Piper Verlag, München 2020

Der niederländische Autor Ilja Leonard Pfeijffer ist in den Niederlanden wohlbekannt, er soll zu den führenden Autoren des Landes gehören. Ich hatte bisher nie von ihm gehört und habe mich auf eine Lektüre eingelassen auf Grund einer positiven Rezension in der Süddeutschen Zeitung. Volltreffer!

Pfeijffer ist verliebt ins Schreiben und man ist als Leser schnell bereit, ihm liebevoll zu folgen. Der Titel des Buches entpuppt sich als beziehungsreiche und kompakte Verdichtung dessen, was in diesem Roman abgehandelt wird.

Nach der Lektüre assoziiert man leicht den Titel „Grand Hotel Europa“ mit dem geläufigen Schlagwort von der „Festung Europa“. Dieses Unterthema wird gleich im ersten Abschnitt des ersten Kapitels angeschlagen. Der Erzähler, ein gewisser Ilja Leonard Pfeijffer aus den Niederlanden, trifft bei seiner Ankunft im Grand Hotel Europa naturgemäß zuerst auf einen Piccolo, der ihm den Koffer tragen soll. Sie rauchen jedoch zuerst einmal gemeinsam eine Zigarette, und bei dem sich entspinnenden Gespräch erfahren wir einiges über den Erzähler (kommt direkt aus Venedig, hat vorher ein paar Jahre in Genua gewohnt, ist Schriftsteller), zugleich aber auch schon ein wenig über den Piccolo, einen junger Mann, der sich offenbar in Afrika aufgemacht hatte, die Wüste zu durchqueren und dann per Boot nach Italien geflohen ist. Abdul wird noch häufig mit dem Erzähler zusammensitzen und diesem seine Geschichte erzählen. Kurz gesagt: Es geht in diesem Roman unter anderem um das europäische Migrationsproblem, zu dem Pfeijffer eindeutig Stellung bezieht: Migranten sind nicht das Problem, sondern die Rettung Europas.

Grand Hotel Europa ist aber auch mit Hinblick auf Thomas Manns Roman Der Zauberberg, der ja auch in einem Hotel spielt, eine Metapher für einen Zustand Europas, demzufolge es für diesen Kontinent keine Zukunft gibt, da er nur aus Vergangenheit besteht und der aber versucht, daraus Kapital zu schlagen, indem er mit der Vergangenheit sein großes Geschäft macht.

Und damit wären wir bei einem weiteren Unterthema, vielleicht sogar dem wichtigsten in diesem Roman, nämlich dem Tourismus, der ja längst eine entscheidende und manchmal sogar die einzige Einnahmequelle für viele Regionen und Städte ist. Pfeijffer reist offenbar viel. Und da liegt es nahe, dass sein Verleger ihm eines Tages den Vorschlag unterbreitet hat, über Tourismus zu schreiben. Der Entstehungsprozess des Romans wird genüsslich und ausschweifend in die Erzählung integriert. Der „gebürtige“ Altphilologe Pfeijffer belässt es indes nicht dabei, von den Kuriositäten der touristischen Industrie zu berichten, sondern reichert das Thema an durch Ausflüge in die Kunstgeschichte.

Womit wir beim vierten Unterthema wären. Durch einen einfachen Trick wird nun dieses anspruchsvolle Thema „interessant“ gemacht. Es gibt offenbar ein Bild von Caravaggio, das verschwunden ist, auf dem er sich selber als Maria Magdalena porträtiert hat. Dieses Bild soll nun aufgespürt werden, und so wird die Kunstgeschichte zu einer spannenden Jagd nach einem verschollenen Bild.

Aber dieser Krimi ist zugleich noch etwas anderes, nämlich der Aufhänger für eine phantastische Liebesgeschichte. Und wenn man den letzten Sätzen des Romans Glauben schenken darf, dann ist diese Liebesgeschichte die eigentliche, die treibende Kraft dieser Erzählung. Diese Liebesgeschichte hat einen Namen: Clio. Das ist die Frau, die er in Genua kennenlernt und mit der er nach Venedig geht, als sie dort einen Job in einem Museum bekommt. Sie lieben sich und sie streiten miteinander. Pfeijffer erprobt sein erzählerisches Talent in immer wieder neu ansetzenden Schilderungen ihres Liebeslebens. Den Lover muss man sich dabei als ein wenig übergewichtig vorstellen, lange Haare, eher nicht der sportliche Typ (ein Ebenbild des Autors). Sie ist dagegen der schlanke Typ, sehr schön anzusehen, „ihr Hintern rund wie ein Apfel und ihre kleinen Brüste feste, knackige Kirschen“.

Ich zitiere das nur, um anzudeuten, woran ihre Beziehung zu zerbrechen droht. Denn eines Tages treffen Ilja und Clio eine frühere Geliebte von Ilja, die einen wahren Atombusen wie eine Monstranz vor sich hinträgt. Dieses Treffen besteht nur aus einem kurzen Wortwechsel, doch in ihm sind tausend Fallen. So kann Clio Ilja später unterstellen, er habe mit diesem Atombusen geflirtet, und es scheint, die Kirschträgerin ist eifersüchtig auf die Monstranz. Die wichtigste Spätfolge dieses Streits ist jedoch, dass Ilja Venedig verlässt und Unterschlupf sucht im Grand Hotel Europa, um hier in der Abgeschiedenheit niederzuschreiben, was ihm in Venedig begegnet ist.

Oder auch in Skopje. Dort hin reist Ilja ohne Clio. Nach ausführlichen Beschreibungen der Stadt werden genau so ausführlich die Auseinandersetzungen zwischen Mazedoniern und Albanern geschildert. Mit seiner „Reiseführerin“ Elena flieht er davor aufs Hotelzimmer. Und hier bricht diese unbändige Erzählfreude sich wieder Bahn:

Sie war groß und hatte lange Giraffenbeine, außerdem verfügte sie über einen exquisiten birnenförmigen Hintern. Ihr Körper war mit einem hauchzarten blonden Fell überzogen, und ihre Brüste waren stolz wie die einer Sphinx, rund und voll und aus bestem Carrara-Marmor geschaffen. – Die Penetration geschieht fast unbeabsichtigt… Während sie mir eine unvergleichliche Aussicht auf ihre sich in der Blüte des Lebens befindlichen Brüste bietet, zwingt sie mir unentrinnbar ihren Rhythmus auf… Als wir uns erschöpft in den Armen liegen, schlage ich ihr vor, dass sie mich angesichts der Umstände, in denen wir gerade verkehren, vielleichte ab jetzt doch besser duzen sollte.

Doch das geschah alles nicht. Weder erhob ich mich, noch setzte ich mich neben sie auf den Bettrand, um sie zu trösten. Ich dachte an Clio.Verdammt soll ich sein, wenn das nicht stimmt!

Niederländische Erzähler haben offenbar eine gewisse Affinität zu Obst, insbesondere zu Äpfeln und Birnen, und zu erotischen Schilderungen. Sie begnügen sich nicht mit der Darstellung dessen, was ihre Protagonisten in erotischer Hinsicht erleben, sondern fügen dem noch hinzu, was sie hätten erleben können.

 

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César Aira: Die Wunderheilungen des Doktor Aira. Matthes & Seitz, Berlin 2020

Am 2. Dezember berichtete der NDR, dass in München das Corona-Virus bei einem Hund nachgewiesen wurde. Ich habe mich natürlich gefragt, ob dann wohl demnächst alle Hunde im Freien eine Atemschutzmaske tragen werden. Der Matthes & Seitz Verlag Berlin hat dieses Szenario vorweggenommen. In diesem Jahr hat er nämlich ein Buch herausgegeben, das im Titel gewisse Bezüge zur Medizin aufweist, und prompt hat er den medizinisch klingenden Titel auf dem Buchumschlag mit einem Cocker Spaniel mit Mundschutz unterlegt. Dieses einerseits prophetische, andererseits der aktuellen Situation geschuldete und zugleich kommerziell bedingte Vorgehen habe ich hier bildlich dokumentiert.

Das 100-Seiten lange, kleinformatige Büchlein enthält drei Kapitel, die etwa so überschrieben werden könnten: Erster Versuch, misslungen – Literarisches Intermezzo – Zweiter Versuch, na endlich! Dr. Aira ist also ein Arzt, dem der Ruf anhaftet, ein Wunderheiler zu sein. Ob er selber daran glaubt, ist nicht eindeutig zu beantworten. Es besteht aber die Gewissheit, dass sein Leben sich von Grund auf änderte, als er in seiner Kindheit, zur Zeit einer schrecklichen Polio-Epidemie, in der alle Hunde aus der Stadt verbannt wurden, von den Praktiken eines Fotografen namens El Loco hörte, der, da ja der örtliche Tierarzt nicht zu den Hunden konnte, die männlichen Welpen mittels eines Verfahrens kastrierte, das bemerkenswert war:

Die Methode von El Loco war von beispielhafter Absurdität, bestand sie doch in einer recht langen Abfolge von Penizillin-Impfungen, die dem Hundehalter verabreicht wurden, woraufhin sich das Tier in Abwesenheit kastriert fand… El Locos Methode kam bald darauf im Zuge eines Skandals, der hohe Wellen schlug, außer Gebrauch (wenn denn jemals von ihr Gebrauch gemacht worden war). Auf einem Hof nahe der Stadt wurde nämlich ein Hund ohne Kopf geboren, ein Cockerspaniel, dessen Körper am Hals aufhörte und der trotzdem lebte und zu einem erwachsenen Tier heranwachsen konnte.

Also, im ersten Kapitel finden wir Dr. Aira auf einem Spaziergang durch die Straßen der Stadt. Er spricht mit Bäumen und macht sich etliche Gedanken, wiederholt etwa über „Blamagen“.

Die Blamagen waren Stillstände der Zeit, in ihnen stockte alles. Es waren nur Erinnerungen, verwahrt im einbruchsichersten aller Tresore, einem, den kein Fremder zu öffnen vermag… Sie sind ein unvermeidlicher Betriebsunfall unserer Vergesellschaftung, und die einzige Lösung ist das Vergessen.

Sein Gedanken- und Fortgang wird jedoch unterbrochen, da ein Krankenwagen mit heulenden Sirenen heran rast, zwei Ärzte springen heraus und fordern ihn auf mitzukommen. Im Wagen liegt ein offenbar Todkranker, der nur noch durch eine Wunderheilung gerettet werden könne, sagen die Ärzte. Doch Dr. Aira wittert eine Falle seines Widersachers Dr. Actyn, eines klassischen Mediziners, der schon oft versucht hat, ihm, dem Wunderheiler, eine Falle zu stellen. Er lehnt also rigoros eine Behandlung ab und hört beim Aussteigen, wie ihm der vermeintlich Verstorbene nachzischt: „Arschloch!“

Der zweite Teil ist sozusagen ein retardierendes Moment in dem dramatischen Überlebenskampf von klassischer und paranormaler Medizin. Dr. Aira macht sich seine Gedanken, wie er am besten die Herausgabe seiner Wunderheilungsheftchen bewerkstelligen könne. Nicht nur praktische, sondern auch theoretische Gedanken, solche allerdings auch über praktische Dinge:

Dinge. Konkrete Dinge, die man in die Hand nehmen, in einer Schublade verstauen konnte. Immer sang die Welt ein Loblied auf „die jungen Leute, die ihr Ding tun“, und das mit Recht. Denn neunundneunzig Prozent vom Wert der Dinge, der ihnen eigenen Schönheit, steuert die Zeit bei. Ein Kamm dient nur zum Kämmen (einem Kahlen nicht einmal dazu). Aber ein Kamm von vor zweihundert Jahren verkauft sich in einem Antiquitätengeschäft als Kostbarkeit, und ein Kamm von vor zweitausend Jahren wird in einem Museum ausgestellt und ist unbezahlbar. Darum lohnt es auch, in der Jugend Dinge zu tun, denn die Möglichkeit besteht, dass wir sie im Alter von zeitlicher Patina verschönert sehen. Dinge, die man später macht, bleiben künftigen Generationen vorbehalten, und sie entgehen einem.

Im dritten Teil schließlich wiederholt sich der erste Teil in gewisser Weise, allerdings in einem anderen Setting, einem höllisch hektischen Verlauf und mit einem fulminant anderen Ausgang. Mehr möchte ich nicht verraten.

Dies ist übrigens eines der Bücher, die erst beim zweiten Lesen ihre volle Pracht und Wucht entfalten. Die Themen sind vom Sprengmeister César Aira so gesetzt, dass am Ende alles explodieren kann. Aber das merkt man erst, wenn man das Buch ein zweites Mal liest. Bei einem Preis von 16 € bedeutet das: Der Leser/Käufer bezahlt am Ende für eine Lektüre nur 8 €. Oder anders gesagt: Er geht mit einem Ticket zweimal ins Theater.

 

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Fang Fang: Wuhan Diary. Tagebuch aus einer gesperrten Stadt. Hoffmann und Campe, Hamburg 2020

Fang Fang Wuhan Diary

Fang Fang, eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Chinas, hat während der totalen Absperrung ihrer Heimatstadt und der umliegenden Provinz Hubei täglich Berichte über den Alltag und die Entwicklung der Epidemie veröffentlicht, obwohl sowohl ihr WeChat-Account als auch ihr BLOG zeitweise gesperrt worden sind. Eine andere Schriftstellerin hat die täglichen Berichte auf einem ihr zugänglichen „öffentlichen Account“ täglich publiziert. Diese wurden schließlich von Millionen Chinesen regelmäßig gelesen und auch kommentiert.

Fang Fang hat sechzig Tage, vom 25. Januar 2020 bis 24. März, solche Berichte verfasst, in denen sie etwa nach folgendem Schema verfährt:

Sie beginnt oft mit einer kurzen Schilderung der Wetterlage, die sie meist mit einer Erwähnung des Virus verbindet. Am 24. Februar etwa schreibt sie: „Noch immer strahlender Sonnenschein, es ist sehr warm. Die Wärme gibt einem das Gefühl, die Kraft der Sonnenstrahlen könne das Virus besiegen. Der Hibiskus im Hof schält sich aus den Knospen. Obwohl ich mich kaum um ihn gekümmert habe, sprießen sie kräftig und üppig.“ Man kann getrost davon ausgehen, dass diese Wetterlagen nicht willkürlich gewählt sind. In diesem Fall soll wohl deutlich werden: Man kann nichts betrachten, ohne an das Virus denken zu müssen, das Virus hat sich also tief in die Gedanken der Menschen eingenistet. Aber die Natur scheint sich um das Virus nicht zu kümmern. Sie ist stärker als dieser Teufel. Die Natur kommt auch ohne den Menschen zurecht.

Dann geht sie den Alltag der Menschen in Wuhan ein und schildert, teilweise anhand von Berichten über ihren ganz persönlichen Alltag, wie die Menschen mit der Katastrophe umgehen, besser: in der Katastrophe ihr Leben fristen. Niemand darf das Haus oder den Wohnblock verlassen, also muss die Besorgung der zum täglichen Leben notwendigen Dinge organisiert werden. Das übernehmen meist freiwillige Helfer, die den Eingeschlossenen Essen besorgen.

Dann folgen meist Berichte zur medizinischen Situation in der Stadt, in der 9 Millionen Menschen eingesperrt sind. Sie lässt sich fast täglich von einem Arzt, der im Zentralkrankenhaus arbeitet, die neuesten Zahlen, aber auch die neuesten Erkenntnisse über das tödliche Virus übermitteln, schreibt auch in ihrem täglichen Bericht Dinge ab, die sie per Email von anderen erhält.

Und schließlich widmet sie einen nicht unerheblichen Teil ihrer täglichen Berichte Reflexionen über das, was ihr zugetragen wird. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Frage, warum 20 Tage lang nichts unternommen wurde, um das Virus zu bekämpfen. Am 1. Januar wurde zwar der Markt, der als Ausgangspunkt für die Krankheit gilt, geschlossen. Aber erst am 20. Januar wurde öffentlich bekannt gegeben, dass eine Mensch-zu-Mensch-Übertragung möglich sei. Am 23. Januar wurde Wuhan abgeriegelt. Fang Fang verlangt immer wieder, dass die an dieser Verschleppung der Gegenmaßnahmen Schuldigen, also der Leiter des Zentralkrankenhauses und der verantwortliche Parteisekretär, entlassen und zur Rechenschaft gezogen werden.

Fang Fang konnte schon wegen des Ausgangsverbotes nicht an den Orten sein, an denen sich die Katastrophe in voller Wucht manifestierte. Dennoch gelingt es ihr teilweise durch lakonische Hinweise, das ganze Ausmaß des menschlichen Leids zu verdeutlichen. Mehrfach wird ein Haufen von Handys erwähnt, die in einem Krematorium in einem Raum auf einem großen Haufen liegen und nach der Katastrophe offenbar ausgewertet werden sollen, um die Namen von Toten zu erfahren. Oder sie erwähnt, dass über 1 Million Menschen in der Stadt sind, von außerhalb kommen, aber die Stadt nicht verlassen dürfen. Zunächst hat man sich um die nicht gekümmert, bis diese schließlich in Straßenunterführungen Unterschlupf suchten und von dort schließlich in Quartiere eingewiesen wurden. Oder sie deutet an, dass nicht wenige Erkrankte stundenlang vor einem Krankenhaus warten mussten, oft abgewiesen wurden, dann von Krankenhaus zu Krankenhaus zogen, um irgendwo aufgenommen zu werden. Viele starben auch einfach zu Hause, ohne dass solche Fälle in die Corona-Statistiken eingingen.

Und immer wieder wird betont, dass niemand die Verantwortung übernehmen will. Im Jahr 2003, nach der SARS-Epidemie, traten ein paare Verantwortliche zurück. Aber heute? „Aber hier in Hubei immer noch kein Einziger! Bewundernswert! Das Spaßige an der Sache ist: Früher haben sie sich gegenseitig die Verantwortung zugeschoben, die Beamten den Experten, die Experten den Beamten. Jetzt sind sie sich alle einig: die gesamte Verantwortung kann man den Amerikanern in die Schuhe schieben.“ (S. 329)

Entsprechendes ist natürlich aus den USA zu berichten. Donald Trump spricht ja nur von dem „China-Virus“.

Fang Fang weist auf ein Dilemma hin, das auch bei uns entstehen könnte. Sie fragt einen befreundeten Arzt: „Müssen sich sämtliche normalen Patienten zunächst einem Bluttest unterziehen, um zu überprüfen, ob sie an Covid-19 erkrankt sind, und werden sie erst danach behandelt?“ Werden solche „normalen“ Patienten erst ein paar Tage isoliert, kann es durchaus passieren, dass sie während dieser Zeit sterben, da notwendige Behandlungen aufgeschoben werden. Nimmt man sie jedoch „sofort an die Reihe“, wird das medizinische Personal (und andere Patienten) in Gefahr gebracht.

Ich möchte auf ein letztes Problem eingehen, das mit der chinesischen Kultur zu tun hat. Fang Fang schildert die Situation einer Frau, die einem Leichenwagen hinterher weint, in dem ihre verstorbene Mutter liegt. Sie wird auf Grund der allseitigen Katastrophe nie erfahren, was mit der Asche ihrer Mutter geschieht. Und Fang Fang kommentiert: „Für Söhne und Töchter einer Kultur, die dem Tod mehr Gewicht beimisst als dem Leben, gibt es keinen größeren Schmerz.“ (S.. 46) Für die meisten Kranken und ihre Familienangehörigen sei das kaum auszuhalten. „Aber was bleibt uns übrig? Der Satz >>Landet das Staubkorn einer Epoche auf dem Kopf eines Einzelnen, wird es zum Berg<<, der mir früher leicht über die Lippen ging, erhält dieses Mal eine ungleich tiefergehende Bedeutung.“ (S. 46)

Dem zitierten Sprichwort begegnen wir auf S. 299 noch einmal. Dort geht es darum dass Li Wenliang, der Arzt der schon am 30. Dezember auf die Gefahr, die von einem neuen Virus ausging, aufmerksam gemacht hat und deshalb von der Polizei verwarnt wurde, den Mund zu halten. Es muss sich wohl um die Zhongnan-Polizeistation gehandelt haben, wie aus dem folgenden Zitat hervorgeht. Am 19. März kam jedenfalls eine Untersuchungskommission zu dem Ergebnis, dem Arzt sei kein Fehler vorzuwerfen. Fang Fang sagt nun, Li Wenliang sei kein Held gewesen, er habe nur das getan, was ein anständiger Mensch tun müsste. Und bei ihrer herausragenden Erinnerung an diesen Menschen spiele das behördliche Untersuchungsergebnis keine Rolle! Ich finde, in dieser Feststellung spiegelt sich eine ungeheuer gefestigte innere Haltung wider.

Aber Fang Fang wäre wohl nicht Fang Fang, wenn sie nicht auch zu dieser ernsten Angelegenheit noch ein witziges Nachspiel böte. Sie schreibt also weiter in Bezug auf die schändliche Behandlung des Arztes, der schon früh gewarnt hatte und im Dienst gegen das Virus sein Leben ließ: „Die Jüngeren sind allerdings weniger nachsichtig als ich, sie sind wütend. Am Nachmittag hinterlässt ein junger Mensch einen Kommentar auf meinem Blog: >>Das Staubkorn einer Epoche, das aufs Haupt der Zhongnan-Polizeistation gefallen ist, ist ein Kochtopf.<<

Na ja, habe ich gedacht, wird wohl witzig sein. Dann habe ich meine chinesische Frau mit dem Kontext vertraut gemacht, also auch mit dem ursprünglichen Sprichwort und der Situation, in der es abgewandelt wurde, und ihr dann mit Hilfe meines Translators das abgewandelte Sprichwort auf Chinesisch lautlich vorgespielt. Meine Frau hat daraufhin so laut gelacht, dass meine Kater sich hinter dem Ofen verkrochen. Aber was daran so witzig war, konnte sie mir leider nicht restlos erklären. Eine wahrscheinlich unbedeutende Instanz eines „cultural gap“…

 

 

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Richard Russo: Chances are. New York 2019

Der Song mit diesem Titel wurde von Stillman/Allen verfasst und durch Johnny Mathis‘ Version zum Hit, der in den 90er Jahren noch von z.B. Liza Minnelli gecovert wurde. Hier ein paar Zeilen:

Chances are ‚cause I wear a sillly grin
The moment you come into view
Chances are you think that I’m in love with you

Just because my composure sort of slips
The moment that your lips meet mine
Chances are you think my hart’s your Valentine

In the magic of moonlight when I sigh, hold me close, dear
Chances are you believe the stars that fill the skies are in my eyes

In Russos Roman geht es in mehrfacher Hinsicht um „Chancen“, um Glück haben und glücklich sein. Der schnulzige Song als Buchtitel steht schon einmal in einem provozierenden Kontrast zur Widmung dieses Buches:

For those whose names are on the wall

Damit sind die Namen derer gemeint, die in Washington auf einer großen Wand als Gefallene des Vietnamkrieges verzeichnet sind. Wer in den Jahren um 1969 in einer Lotterie  eine niedrige Zahl zugewiesen bekam, wurde zum Militär eingezogen und musste mithin in aller Wahrscheinlichkeit nach Vietnam. Die drei Protagonisten des Romans Lincoln Moser, Teddy Novak und Mickey Girardi, sitzen 1969 in einer kleinen Bude eines Studentenwohnheims und verfolgen auf einem kleinen Schwarz-Weiß-TV die Ziehung der Lottozahlen…

Sie alle drei sind in Jacy Calloway verliebt, und jeder verspricht sich eine Chance, obwohl niemand sie jemals gedatet hat. Sie waren halt alle nur Freunde.

Eine-Chance-Haben wird jedoch auch thematisiert im Kontext der calvinistischen Tradition in den USA, der zufolge ja nur der eine Chance im Leben hat, der von Gott dazu ausersehen ist. Lincoln ist offenbar der von Gott Auserwählte, während Teddy resigniert, da er kein Glück im Leben hat, oder kein Glück im Leben hat, weil er resigniert. Aber das läuft ja auf das Gleiche hinaus. Lincoln wird Immobilienmakler und kommt glimpflich durch die Krise im Jahre 2008. Teddy wird beim Basketball dermaßen gemobbt, dass er durch einen Sturz impotent wird. 

Oh Ironie des Schicksals. Die vier Freunde verbringen nach ihrem College-Abschluss 1971 ein gemeinsames Wochenende in einem Haus der Familie Moser in Cape Cod, genauer, auf der Insel Martha’s Vineyard. Dort entscheidet sich Jacy für Teddy, bis sie merkt, dass es mit ihm nichts wird. Nach diesem Wochenende verschwindet Jacy früh am Montag und hinterlässt eine Nachricht, dass sie es hasst, sich zu verabschieden. Lincoln sagt daraufhin: „That’s that, then!“ Und er meint damit, dass es das dann wohl war. Sein heimlicher Traum, kurz vor seiner Verlobung mit Anita vielleicht doch noch Jacy zu gewinnen, den er sich indes niemals selber zugestehen würde, ist damit verflogen. No chance! Und Teddy, der zwar potentiell Spritzige, aber in gewisser Weise, also potenzmäßig Mittellose in echten Liebesdingen, lässt einen Seufzer der Erleichterung fahren. Nur Mickey hält sich raus.

Die drei Freunde treffen sich nun im September des Jahres 2015 erneut auf der Insel in Lincolns Haus. Mickey kommt auf einer Harley Davidson angereist, er wohnt ja in der Nähe, Teddy reist an von seinem College, wo er als Publisher einem religiösen Verlag vorsteht, Lincoln reist aus Las Vegas an. Von Mickey erfährt man zunächst sehr wenig. Teddy macht eine Sentimental Journey zu der Stelle, wo er fast…, und Lincoln beginnt eine Recherche nach dem Verbleib von Jacy, über die man nach ihrem Verschwinden in 1971 nichts mehr gehört hat. Die Handlung, oder vielmehr die erzählerische Technik gleicht nun einem Krimi, da es um die Frage geht: Wo ist Jacy abgeblieben, bzw. wer hat sie um die Ecke gebracht und womöglich auf dem Grundstück des Ferienhauses der Familie Moser vergraben?

Ich will hier nicht in die Details der Handlung eingehen, sondern nur ein paar kleine Details erwähnen, die mir Spaß gemacht haben. 

Z. B. zur besonderen Aufmerksamkeit empfehlen das Gespräch, das Teddy über sich ergehen lassen muss mit Jacy’s Verlobtem, der wissen will, was vor Jacy’s spurlosem Verschwinden auf dieser Insel passiert ist, einem Jurastudenten, der Teddy nach allen Regeln der Juristenkunst „grillt“ und am Ende anfängt zu heulen, weil er es nicht verwinden kann, dass seine Verlobte ihn einfach verlassen hat, ohne Wenn und Aber, ohne Punkt und Komma.

Oder was sagt (2015) der etwas einfach gestrickte Nachbar mit der Trump-Flagge im Vorgarten zu Teddy, der gerade ein Manuskript redigiert, dem aber die Blätter fortgeflogen sind, von denen der Trump-Fan eines aufhebt und Teddy mit den Worten reicht: „I mean, how bored would a man have to be to commit thoughts like this to paper?“ 

Oder der folgende Dialog, den Mickey mit seinem Vater führen könnte, in Gedanken zumindest. Der dort ansetzt, wo Mickey seinem Vater sagen würde, er wäre wegen eines Mädchens nicht nach Vietnam gegangen, hätte sich also nach Kanada abgesetzt:

     Okay, sure, his father would agree. That’s fine, but there’s this other thing.
What other thing?
This war.
It’s stupid, Dad.
They’re all stupid. That’s not the point.
What is?
The point is, if you don’t go, somebody goes in your place, capisce? Look around right here, this diner. Half a dozen guys you age in here. A couple right over there in that booth. Which one should go in your place? Point him out teo me, because I can’t tell.
The point is nobody should go.
Yeah, but somebody will. Some poor bastard is going.
And you think it should be me?
No. In fact, I’d go in your place, if they had any fucking use for a middle-aged pipefitter with a bum ticker.      

Weitere interessante Themen sind „Gewalt gegen Frauen“, „Glauben vs. Wissen“ oder auch „Sich-selber-etwas-Vormachen“:

„Yet what was his own life but a web of lies.“ Sagt Mickey, der lebensstarke Musiker.

Nichts ist, wie es scheint. Oder?

 

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Karl Immermann: Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken. Athenäum, Düsseldorf 1972 (1839)

Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen hat von 1720 bis 1797 gelebt, war eine Zeit lang in der russischen Armee, wo er an langen geselligen Abenden sein Erzähltalent entdeckte, kehrte auf sein Gut in Bodenwerder an der Weser zurück, und nachdem seine aus Russland importierte Frau gestorben war, heiratete er ein 20-Jährige, die ihn nicht nur betrog, sondern auch finanziell ruinierte. Jemand, der in Kassel Münzen gestohlen hatte und nach England floh, publizierte einige von Münchhausens Geschichten unter dessen Namen, wurde damit sehr erfolgreich, und Gottfried August Bürger hat diese Geschichten dann 1786 ins Deutsche übersetzt, was den „Lügenbaron“ zwar nicht wieder reich, aber berühmt machte.

Karl Immermanns Münchhausen knüpft also noch relativ zeitnah an diese im Grunde schon sehr alte Tradition von Lügengeschichten an, gab das ihm doch einerseits die Möglichkeit zu unterhaltsamer Satire auf einige seiner Zeitgenossen, vor allem auf den Fürsten Hermann von Pückler-Muskau, anderseits auch Gelegenheit, sein eigenes Talent zu Phantasieren zu erproben. Ein drittes kommt hinzu: Immermann war ausgebildet als Jurist, hat diesen Beruf auch neben einer schriftstellerischen Tätigkeit und seinem Engagement als Intendant in Düsseldorf ausgeübt und kam damit häufig mit den alltäglichen Angelegenheiten der Menschen in Berührung. So zerfällt sein Münchhausen in zwei Teile. Zum einen sind da diese unglaublichen Erzählungen und Projekte (Steine aus Luft bauen) zu nennen, die einem angeblichen Enkel Münchhausens in den Mund gelegt werden, zum anderen ein tiefer erzählerischer Einblick in das bäuerliche Leben in Westfalen, wobei dieser Teil aber auch von einer feinen gesellschaftsbezogenen Kritik durchzogen wird, sowohl das Bild des reichen, aber biederen Bauern als auch den Geisterglauben seiner Zeit, letzteres in Münchhausener grotesker Übertreibung, aufspießt.

In Anlehnung an eine englische Erzähltradition (Sterne) macht Immermann selber auch manchen Unsinn in seinem Münchhausen. Er beginnt mit dem 11. Kapitel, und nach dem 15. Kapitel fügt er eine Korrespondenz des Herausgebers mit dessen Buchbinder in, in welcher über die Gründe und Umstände dieser Anordnung reflektiert wird, um dann mit dem 1. Kapitel fortzufahren. Oder dem Vierten Teil des Buches stellt er einen Brief an Ludwig Tieck voran, den nicht nur der „Herausgeber“, sondern auch Immermann selber sehr geschätzt hat.

Ist das Buch heute noch lesenswert? Das Buch ist durch seinen Witz und seine sprühende Phantasie sehr unterhaltsam, und wer sich für die Lebensverhältnisse der Menschen vor nunmehr 200 Jahren interessiert, erhält manch interessanten Hinweis. In manchen Grundzügen hat es mich auch an das früher besprochen Buch von Italo Calvino „Der Baron auf den Bäumen“ erinnert: Dass jemand in jungen Jahren auf einen Baum klettert und dann bis zu seinem Tod die Wipfel er Bäume nicht mehr verlässt, könnte auch in einer Geschichte Münchhausens stehen. Und überhaupt: Sind nicht alle (literarischen) Geschichten Lügengeschichten?

 

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Clive Hamilton, Mareike Ohlberg: Die lautlose Eroberung. Wie China westliche Demokratien unterwandert und die Welt neu ordnet. Deutsche Verlagsanstalt, München 2020

Clive Hamilton ist Professor für öffentliche Ethik in Canberra und Mareike Ohlberg, offenbar eine der „profiliertesten deutschsprachigen Chinaexpertinnen“ (das bedeutet ja wohl nach allgemeinem Sprachgebrauch, dass sie nicht unbedingt zu den wirklich profilierten Chinaexperten gehören muss…) legen ein Buch über China vor, das zunächst von drei Verlagen aus Angst vor chinesischen Repressionen abgelehnt wurde.

Wenn man diese Ansage auf dem Bucheinband vor der Lektüre liest, bekommt man als in China-Angelegenheiten noch etwas unbedarfter Leser leicht den Eindruck, hier werde ein wenig übertrieben, um die Verkaufszahlen des dann doch noch in Melbourne, kurz darauf auch in München in deutscher Übersetzung erschienenen Buches zu befördern. Wenn man dann aber ein paar Kapitel gelesen hat, wundert man sich, dass das Buch überhaupt erscheinen konnte. Denn es wird sehr überzeugend dargestellt, dass die Chinesische Kommunistische Partei auf der ganzen Welt mitmischt, wenn immer chinesische Interessen tangiert werden.

Diese Partei ist eine leninistische Partei, die aus dem Niedergang der UDSSR vor allem gelernt hat, dass ein großes Land nur dann zusammengehalten werden kann, und dass sie nur dann die Macht behalten kann, wenn das Land autoritär geführt wird. Doch die KPCh hat weiterreichende Ziele:

„Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) ist entschlossen, die internationale Ordnung zu verändern und die Welt nach ihren Vorstellungen zu gestalten.“ Natürlich spielt dabei die wirtschaftliche Macht des erstarkten Chinas eine wichtige Rolle. Aber entscheidender noch ist ein ideologischer Aspekt, nämlich die Aufrechterhaltung des Kalten Krieges, der langfristig China zur wichtigsten globalen Macht machen und zugleich die Macht der Partei im eigenen Land zementieren soll. Diesem Ziel dienen vor allem zwei Konstrukte: Das Projekt einer „Neuen Seidenstraße“ und die Propagierung der Idee, alle chinesischen Institutionen und Menschen müssten sich einer „Einheitsfront“ unterwerfen, ein Begriff aus der marxistisch-leninistischen Wissenschaft, der im Prinzips nichts anderes als eine absolute Gleichschaltung bedeutet.

Es soll nun in diesem Buch der Nachweis geführt werden, dass Teile der politischen Eliten in der ganzen Welt der Strategie der Einheitsfront erliegen und sich im Sinne der KPCh instrumentalisieren lassen. In vielen Bereichen der Wirtschaft der USA, Europas oder Afrikas sitzen Chinesen in Schlüsselpositionen, und häufig handelt es sich dabei um Soldaten der Roten Armee, also um Parteikader. Es wird skrupellos spioniert, Druck ausgeübt, auch im kulturellen Bereich (Wenn eine Uni den Dalai Lama einlädt, werden der Uni Fördermittel gestrichen oder die chinesischen Studenten, die die Uni mit ihren Studiengebühren mitfinanzieren, „abgezogen“.), im Medienbereich wird dafür gesorgt, dass nur solche Meinungen publiziert werden, die im Sinne der Einheitsfront sind. Und schließlich wird ein Schlaglicht geworfen auf die „Verdrängung Taiwans von der internationalen Bühne“ und den Export der chinesischen Definition von „Terrorismus“.

Was den letzten Punkt betrifft, so sieht es ganz so aus, als habe der Mann, der sich zur Zeit amerikanischer Präsident nennen darf, den Strategen der chinesischen roten Kalten Krieger über die Schulter geschaut. Denn auch in den USA sollten ja nun  friedliche Demonstranten als Terroristen gelten, wenn es nach dem Willen des obersten militärischen Führers ginge. Aber zum Glück sitzen ja in den oberen Rängen des Militärs noch ein paar Leute, denen man noch ein wenig Verstand attestieren kann. Wurde doch heute Abend eine Fachfrau in den USA vom Tagesthemensprecher gefragt: „Müssen die Militärs die Verfassung vor dem Präsidenten schützen?“

Solange eine solche Frage an einen Korrespondenten in Peking als völlig undenkbar erscheint, sammeln die USA bei mir immer noch Punkte…

 

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Reisebilder: Heinrich Heine und der Graf von Platen

Beitrag Nr. 5

Zum besten der Literatur will ich … jetzt vom Grafen August von Platen-Hallermünde etwas ausführlicher reden. Ich will dazu beitragen, daß er zweckmäßig bekannt, und gewissermaßen berühmt werde, ich will ihn literarisch gleichsam herausfüttern, wie die Irokesen tun mit den Gefangenen, die sie bei späteren Festmahlen verspeisen wollen.

Da der Graf sich selber für einen der größten Dichter deutscher Sprache hielt, ist diese einleitende Anmerkung Heines natürlich eine saftige Ohrfeige, ja viel mehr. Denn wie wir sehen werden, wartet Heine mit der Verspeisung nicht auf eine spätere Gelegenheit, sondern verschlingt ihn sofort mit Haut und Haar.

Der Standpunkt, von wo ich den Grafen Platen zuerst gewahrte, war München, der Schauplatz seiner Bestrebungen, wo er, bei allen, die ihn kennen, sehr berühmt ist, und wo er gewiß, so lange er lebt, unsterblich sein wird.

Das sitzt! So lange er lebt, ist er unsterblich. Eine Platitüde, die platt macht.

Heine erwähnt, dass es Leute gibt, die den Grafen kritisieren. Sein Freund Doktor Lauterbacher z.B. geriet immer in Wut, wenn sich der Graf in der Erlangener Promenade den Leuten in den Weg stellte und, mit einem Lorbeerkranz auf dem Haupte, seine Gedichte zitierte. Aber es gibt auch Leute, die besser von ihm reden.

Andere haben besser von dem armen Grafen gesprochen, und … sie lobten besonders seine Zuvorkommenheit gegen Jüngere, bei denen er die Bescheidenheit selbst gewesen sei, indem er mit der liebreichsten Demut ihre Erlaubnis erbeten, dann und wann zu ihnen aufs Zimmer kommen zu dürfen, und sogar die Gutmütigkeit so weit getrieben habe, immer wieder zu kommen, selbst wenn man ihn die Lästigkeit seiner Visiten aufs deutlichste merken lassen.

So etwas ging damals nicht, und schon gar nicht in unseren Tagen, wo ein NO ein NO ist! „Gutmütigkeit“… Ja, ja, heute ist es noch genau so: „Es wird am Ende gut für Dich sein!“ Sagte Harvey Weinstein.

Der Graf hat offenbar poetisch auf solche Zurückweisungen reagiert, wenn er sich in der Praxis auch keine Zurückhaltung auferlegte, wie Heine ja suggeriert:

Deine blonde Jugend, süßer Knabe,
Verschmäht den melancholischen Genossen.
So will in Scherz ich mich ergehn, in Possen,
Anstatt ich jetzt mich bloß an Tränen labe,
Und um der Fröhlichkeit mir fremde Gabe
Hab ich den Himmel anzuflehn beschlossen.“

Platen will jedoch nicht immer fröhlich sein, sondern er bekundet auch, sich „an den Sitten rächen“ zu wollen. Das kann ja bloß bedeuten, dass er den Kampf gegen die verbotene homosexuelle Liebe aufnehmen will. Doch Heine ist sich sicher:

Ich zweifle, daß er sich an der verhaßten „Sitte“ tatsächlich gerächt habe, obgleich er in seinen Liedern schmachtet, sich solcher Rache hinzugeben; ich glaube vielmehr an die verletzenden Kränkungen, beleidigenden Zurücksetzungen und Abweisungen, wovon er selbst so rührend singt. Ich bin überzeugt, er betrug sich gegen die Sitten überhaupt weit löblicher, als ihm selber lieb war, und er kann vielleicht, wie General Tilly, von sich rühmen: Ich war nie berauscht, ich habe nie ein Weib berührt und habe nie eine Schlacht verloren. Deshalb sagt von ihm der Dichter:

„Du bist ein nüchterner, modester Junge.“

Heines Witz versteht sich von selber. Aber leicht wird hier übersehen, dass er hier nicht nur boshaft spricht, sondern auch mit einem Funken Mitleid (so sagt er übrigens in Zusammenhang der zitierten Stelle selber, nur ist das hier ernst gemeint!) bezüglich der Schmerzen verschmähter Liebe.

Es folgen nun ein paar Überlegungen zu Platens Begabung als Poet. Er spricht ihm eine natürliche Begabung ab, seine Gedichte sind „Zwang“, Platen weiß nicht, dass beim wahren Dichter das Wort ein Ereignis ist, keine Tat. Und Heine steht mit seinem Urteil nicht allein da:

Er ist kein Dichter, sagt sogar die undankbare männliche Jugend, die er so zärtlich besingt. Er ist kein Dichter, sagen die Frauen, die vielleicht – ich muß es zu seinem Besten andeuten – hier nicht ganz unparteiisch sind, und vielleicht wegen der Hingebung, die sie bei ihm entdecken, etwas Eifersucht empfinden, oder gar durch die Tendenz seiner Gedichte ihre bisherige vorteilhafte Stellung in der Gesellschaft gefährdet glauben.

Es folgt eine Auseinandersetzung mit einem weiteren Aspekt der Platenschen Persönlichkeit. Heine wirft ihm Heuchelei vor, also Unehrlichkeit. Denn eigentlich sei er kein Mann, sondern ein Weib! Weil seine Liebe einen passiven Charakter habe. (Oh Gott, wie kommt das heute an…)

Danach setzt sich Heine damit auseinander, dass er dem Grafen mangelnde poetisch Kraft vorwirft. Als Bild dient ihm der Vogel Strauß: schönes Gefieder, aber fliegen kann er nicht. Einen ähnlichen Mangel attestiert er ihm in Bezug auf seine Dramen, denen es an „Gestalten“ mangelt.

Die Gestalten, die ich meine sind nämlich jene selbständigen Geschöpfe, die aus dem schaffenden Dichtergeiste, wie Pallas Athene aus dem Haupte Kronions, vollendet und gerüstet hervortreten, lebendige Traumwesen, deren mystische Geburt, mehr als man glaubt, in wundersam bedingter Beziehung steht mit der sinnlichen Natur des Dichters, so daß soches geistige Gebären demjenigen versagt ist, der selbst nur, als unfruchtbares Geschöpf, sich ghaselig hingibt in windiger Weichheit.

Heine geht sodann auf eine gewisse Prahlsucht des Grafen ein, ferner auf sein Verhältnis zum Katholizismus. Wollte der Graf gar ins Kloster gehen?

der Graf Platen werde Mönch und ginge ins Kloster. Böse Zungen meinten, daß ihm das Gelübde der Armut und die Enthaltung von Weibern nicht schwer fallen würde. … Leider haben meine Gedichte eine andere Tendenz, und daß Pfaffen und Knabensänger nicht davon angesprochen werden, konnte mich zwar betrüben, aber nicht befremden. …Auch andere erzählten mir, daß mich der Graf hasse und sich mir als Feind entgegenstelle; – und das war mir auf jeden Fall angenehmer, als hätte man mir nachgesagt: daß mich der Graf Platen als Freund hinter meinem Rücken liebe.

Nach dieser delikaten Zweideutigkeit folgt noch eine längere Auseinandersetzung mit Platens „Ödipus“, einem antikisierenden Drama, das nichts anderes als eine Polemik gegen Immermann und Heine ist, an deren Ende Heine wortgewaltig alle Racheengel beschwört, die sich auf Platen stürzen werden, um ihn für seinen Frevel, sich an Immermann und ihn selber rächen zu wollen, zu bestrafen. Und das Ganze endet mit einem Zitat aus dem Don Quixote, Bd II, Kap. 33:

Ach! sie fressen, ach! sie fressen,
Womit meistens ich gesündigt.

Ein Schwanengesang auf das Lorbeerblatt des Grafen, das ja gelegentlich unter seinem Rockschoß sichtbar wurde…

 

Heinrich Heine: Reisebilder

Beitrag Nr. 4

Wie bereits gesagt: Damals wie heute gab und gibt es immer wieder Polemiken unter Schriftstellern, und gelegentlich endet das auch in einem Shitstorm. Das letzte Kapitel Nr. XI des dritten Teils der Reisebilder (Die Bäder von Lucca) ist definitiv ein solcher. Doch dieser Sturm kündigt sich in Kapitel X durch ein äußerst witziges, aber dennoch schon echt aggressives Grollen und Grummeln, man könnte auch sagen ein äußerst unterhaltsames Gumpeln, an. Er bedient sich nämlich in diesem vorstürmischen Geplänkel der Person des Marchese Gumpelino und auch dessen Diener Hirsch-Hyaninth, hält sich also noch in einem weitgehend fiktionalen Raum, nämlich der Reise zu den Bädern von Lucca, auf. Dennoch ist völlig unverkennbar, dass Heinrich Heine hier schon ganz auf den Grafen Platen zielt, wenn er gewisse Eigentümlichkeiten des Marchese und seines Dieners ins kritische Visier nimmt, und das geschieht vor allem in Hinblick auf dessen vermeintlicher allergrößter Dichtkunst und auf das Fehlen einer Charaktereigenschaft, auf einen lächerlich sich darstellenden Mangel an EHRLICHKEIT. Letzteres ergibt sich indes aus dem zeitbedingt sich ergebenden Widerspruch zwischen Sitten der Zeit und Neigung des Grafen zum männlichen Geschlecht. Eine Polemik gegen einen schwulen Dichter in der heutigen Zeit wäre in dieser Form undenkbar, zumal diese Polemik sich u.a. auch über dessen schwules Gebaren lustig macht.

Es wäre indes verfehlt, Heine deswegen geschlechtsorientierungsbezogene Vorurteilshaftigkeit vorzuwerfen. Denn bei aller Polemik wird doch deutlich, dass sie sich nicht gegen das Schwulsein an sich richtet, sondern gegen die Art Weise, wie hier ein Mensch damit umgeht, nämlich unehrlich und lächerlich. Nehmen wir ein Beispiel aus der heutigen Zeit. Ich weiß nicht sehr viel vom Leben des Fußballstars Maradona. Aber nehmen wir einmal an, ein solcher Star würde permanent von sich behaupten, der größte Star aller Zeiten zu sein, er würde zudem als alternder Star mit Schmerbäuchlein immer noch versuchen, die tollsten Pirouetten zu drehen, sich auch noch aufspielen als Besserwisser gegenüber anderen Stars, – ein solcher Mensch würde sich doch zum Narren machen und als Gegenstand einer satirischen Polemik eignen. Dem Journalisten oder Schriftsteller, der sich diesem Gegenstand in dieser Form widmet, könnte deswegen aber doch nicht vorgeworfen werden, er verunglimpfe den Fußball!

Kommen wir nun zu einigen Beispielen aus dem X. Kapitel, um das bisher Gesagte zu veranschaulichen. Zu Beginn erleben wir, wie der Diener Hirsch-Hyazinth auf dem Boden des Zimmers sitzt und mit weißer Kreide „Füße“ auf den Boden malt. Versfüße sind ja die kleinsten metrischen Einheiten der Poesie (Jambus (kurz lang), Trochäus (lang kurz), etc.), und wie oben schon angedeutet, hat Platen größtes Gewicht darauf gelegt, dem Leser klarzumachen, wie die Füße in seinen Gedichten verteilt sind. Er hat gelegentlich sogar seine Gedichte, man könnte sagen, füßlich illustriert zur Demonstration seiner Kunstfertigkeit. (Ich konnte das bisher nicht überprüfen, sondern verlasse mich auf das, was Heine nahelegt…) Hier nun ein kleiner Abschnitt eines Dialogs zwischen dem Erzähler und Hirsch-Hyazinth:

Was sind das für sonderbare Figuren?“ frug ich ihn, als ich diesem Treiben eine Weile zugesehen.

Das sind Füße in Lebensgröße“, ächzte er zur Antwort, und ich geplagter Mann muß diese Füße im Kopf behalten, und meine Hände tun mir schon weh von all den Füßen, die ich jetzt aufschreiben muß. Es sind die wahren echten Füße von der Poesie. Wenn ich es nicht meiner Bildung wegen täte, so ließe ich die Poesie laufen mit allen ihren Füßen. Ich habe jetzt bei dem Herrn Markese Privatunterricht in der Poesiekunst. Der Herr Markese liest mir die Gedichte vor, und expliziert mir, aus wie viel Füßen sie bestehen, und ich muß sie notieren und dann nachrechnen, ob das Gedicht richtig ist.“

Natürlich ist der Diener ein Volltrottel (zumindest, was Poesie angeht!). Aber da der Leser Platen nun durch die Brille eines poetischen Volltrottels vorgeführt bekommt, wird dieser selbst zum volltrotteligen Poeten.

Doch Heine ist beileibe kein so harmloser Kritiker, wie dieser Ausschnitt noch zu glauben gestattet. Das nächste Zitat legt noch einiges drauf:

Und was haben sie denn jetzt in den Händen?“ frug ich den Markese.
Brillanten!“ antwortete er und überreichte mir das Buch.
Bei dem Wort „Brillanten“ sprang Hyazinth in die Höhe; doch als er nur ein Buch sah, lächelte er mitleidigen Blicks. Dieses brillante Buch aber hatte auf dem Vorderblatte folgenden Titel:
Gedichte von August Grafen von Platen; Stuttgart und Tübingen. Verlag der J.G.Cottaschen Buchhandlung. 1828.“
Auf dem Hinterblatte stand zierlich geschrieben: „Geschenk warmer brüderlicher Freundschaft.“ Dabei roch das Buch nach jenem seltsamen Parfüm, der mit Eau de Cologne nicht die mindeste Verwandtschaft hat, und vielleicht auch dem Umstande beizumessen war, daß der Markese die ganze Nacht darin gelesen hatte.
Ich habe die ganze Nacht kein Auge zutun können“ – klagte er mir – „ich war so sehr bewegt, ich mußte elfmal aus dem Bette steigen, und zum Glück hatte ich dabei diese vortreffliche Lektüre, woraus ich nicht bloß Belehrung für die Poesie, sondern auch Trost für das Leben geschöpft habe. Sie sehen, wie sehr ich das Buch geehrt, es fehlt kein einziges Blatt, und doch, wenn ich so saß, wie ich saß, kam ich manchmal in Versuchung -“

Heine spielt hier genial mit dem Assoziationspotenzial der Sprache, das es erlaubt, Bewertungen von einem Ding auf das andere überspringen zu lassen, als handele es sich um poetische Synapsen… Der in poetischen Angelegenheiten ungeschliffene Diener mag in praktischen Sachen durchaus urteilsfähig sein. Das Buch, das der Markese für brilliant hält, verliert für ihn jeden Wert, da es nur ein Buch ist. Also nüchtern betrachtet: „It‘s full of shit!“

An dieser Stelle wird aber auch der eigentliche Gegenstand dieses Kapitels eingeführt, und zwar mit einem Frontalangriff, ohne Vorwarnung:

Geschenk warmer brüderlicher Freundschaft“

Da diese Begriffe auch später öfter wieder benutzt werden, ist davon auszugehen, dass Heine hier sehr drastisch seinen Dichterkollegen als „warmen Bruder“ hinstellt und auch vor Andeutungen nicht zurückschreckt, die brutal deutlich sind. Der an dem gelesenen Buch haftende Geruch ist ja wohl der Körpergeruch des Grafen oder vielleicht sogar der Geruch einer Flüssigkeit, deren er sich bei der Trost spendenden Lektüre entledigt hat. Das wird noch gesteigert durch den Hinweis, dass „kein Blatt fehlte“. Wozu hätte man in jenen Zeiten denn ein Blatt aus einem Buch gebrauchen können, wenn es noch keine Papiertaschentücher gab und man im Bett saß und sich trösten musste, dass man wegen Durchfall nicht zur Geliebten gehen konnte? Die Lektüre hat ihn bewegt? Hier lügt der Markese. Er musste sich bewegen, also aus dem Bette steigen, da er ein starkes Abführmittel genommen hatte! Auch in dieser Hinsicht wäre ein Blatt Papier durchaus nützlich gewesen…

Oben wurde schon darauf hingewiesen, dass manche Wörter von Heine verdächtig oft benutzt werden. „Warm“ z.B. Heine zitiert aus einem Sonett von Platen, das an Shakespeare gerichtet ist (Bei Shakespeare ist durchaus eine Ambiguität zu verzeichnen in Bezug auf die Person, die in seinen Sonetten angesprochen wird: Mann oder Frau? Shakespeare belässt es dabei, während der Graf… s.u.).

Nicht Mädchenlaunen störten deinen Schlummer,
Doch stets um Freundschaft sehn wir warm dich ringen:
Dein Freund errettet dich aus Weiberschlingen,
Und seine Schönheit ist dein Ruhm und Kummer.

Und der Erzähler fährt fort:

Während der Makese diese Wort mit warmem Gefühl deklamierte, und der glatte Mist ihm gleichsam auf der Zunge schmolz…

Und lässt Hyazinth dann sagen:

Der eine ißt gern Zwiebeln, der andere hat mehr Gefühl für warme Freundschaft… Ich esse gern Zwiebeln, und eine schiefe Köchin ist mir lieber als der schönste Schönheitsfreund.“

Der Marchese achtet indes nicht auf das „Geschwätz“ seines Dieners und deklamiert (eine Ghasele von Platen):

Der Hoffnung Schaumgebäude bricht zusammen,
Wir mühn uns, ach! Und kommen nicht zusammen:
Mein Name klingt aus deinem Mund melodisch,
Doch reihst du selten dis Gedicht zusammen;
Wie Sonn und Mond uns stets getrennt zu halten,
Veschworen Sitte sich und Pflicht zusammen,
Laß Haupt an Haupt uns lehnen, denn es taugen
Dein dunkles Haar, mein hell Gesicht zusammen!
Doch ach! Ich träume, denn du ziehst von hinnen,
Eh noch das Glück uns brachte dicht zusammen:
Die Seelen bluten, da getrennt die Leiber,
O wärens Blumen, die man flicht zusammen!“

Heine/der Erzähler lässt Hirsch-Hyazinth diese Ghaselen kommentieren. Der Diener versteht nur Bahnhof. Aber ihm fällt etwas auf: Recht häufig endet eine Zeile mit „zusammen“. Da fällt ihm sein Schwager ein, der, wenn er Ghaselen schreibt, die Worte „von vorn“ und „von hinten“ abwechselnd dazusetzt. Und er kommt auf die kühne Idee: Was wäre, wenn man nach jedem „zusammen“ noch einmal abwechselnd „von vorn“ und „von hinten“ hinzufügen würde? Und er ist der Auffassung, die Poesie würde dadurch 20 Prozent stärker. Wir, die Leser, reagieren vielleicht verblüfft, weil Heine hier so unverblümt auf die sexuellen Praktiken Homosexueller verweist. Denn die warmen Brüder treiben es doch von hinten und von vorn, oder?

Ich möchte in Bezug auf dieses X. Kapitel noch auf zwei Aspeke eingehen.

1. Heine wird immer wieder wortschöpferisch tätig, wenn er auf den Grafen Platen eingeht. Ein Beleg:

Ohne auf dieses Geschätz zu achten, fuhr der Markese fort im Deklamieren von Gdhaselen und Sonetten, worin der Liebende seinen Schönheitsfreund besingt, ihn preist, sich über ihn beklagt, ihn des Kaltsinns beschuldigt, Pläne schmiedet, um zu ihm zu gelangen, mit ihm äugelt, eifersüchtelt, schmächtelt, eine ganze Skala von Zärtlichkeiten durch liebelt, und zwar so warmselig, betastungssüchtig und anleckend, daß man glauben sollte, der Verfasser sei ein manntolles Mägdlein.

2. Heine benutzt am Ende von Kapitel X Hyazinth als sein Sprachrohr, indem er ihn eine Anekdote erzählen lässt, in der es um das geht, was er eigentlich sagen möchte. Es geht ihm in der Auseinandersetzung mit Platen um Ehrlichkeit. Platen sagt nicht, was er eigentlich sagen will. Er schreibt eindeutige Ghaselen, aber die einzelnen „Bilder“ bleiben zweideutig, unbekennerhaft, trotz schmachtendem Bekennertum. Schwankend, weibisch, wie man im Duktus jener Zeit sagen könnte, obwohl es ihm doch um Jünglinge geht. Hyazinth bricht jedenfalls eine Lanze für „Ehrlichkeit“. Das Wort kommt auf den letzten zwei Seiten des Kapitels mindestens fünfmal vor. Und dieser Begriff ist wohl auch der Schlüssel zu dem letzten Kapitel (XI) der Bäder von Lucca, in dem Heine schließlich seinen vernichtenden Shitstorm entfacht, nicht über Bande der Fiktionalität, sondern direkt, indem er quasi den fiktionalen Schonraum verlässt.

 

Heinrich Heine: Reisebilder

Beitrag Nr. 3

Heinrich Heine hat bei späteren Auflagen seiner Reisebilder erwogen, die Kapitell X und XI aus Die Bäder von Luccawegzulassen, hat es dann aber nicht getan, da dies wohl einem Eingeständnis gleichgekommen wäre, dass an dem Vorwurf, er sei mit seiner Kritik an Platen über das Ziel hinausgeschossen, etwas dran sei. Dabei geht es nicht nur in diesen beiden Kapiteln um Platen, sondern man kann sagen: Die Bäder von Lucca sind insgesamt eine Antwort auf Platens Lustspiel Der romantische Ödipus, das eine polemische Auseinandersetzung mit Immermann und Heine war. Heine will mit den Bädern von Lucca einfach zeigen, dass er sich weit besser mit Polemik auskennt als sein adliger Möchtegerndicherkollege.

Hier wird wieder ganz deutlich, dass offenbar eine beträchtliche Anzahl von schriftstellerischen Veröffentlichungen nicht „an-und-für-sich“ gesehen werden sollten, sondern als Momente einer oft weit verzweigten Auseinandersetzung zwischen auf dem Markt der Journale und verlegten Bücher konkurrierenden Individuen. Und daran kann man wiederum ersehen, dass das, was heutzutage in den Social Media passiert, auf Facebook oder in vielen Foren, sich nicht all zu sehr von dem unterscheidet, was schon vor 200 Jahren gang und gäbe war. Aber es lohnt sich, in solche Auseinandersetzungen vor 200 Jahren hineinzuschauen, da man dort Witz und kenntnisreicher Phantasie begegnet, die man häufig im Internet vermisst wegen des Zeitrafferwahns der Produktionsmittel dieses Mediums.

Hauptgestalten der Bäder sind der Marchese Gumpelino und sein Diener Hirsch Hyanzinthos, wobei der erstere wohl auf Platen zielt (Dabei heißt der Marchese eigentlich Gumpel und ist Bankier in Hamburg, also in Lucca als Hochstapler unterwegs. Und Heine und er kennen sich…), während der letztere modelliert ist nach einem Hamburger jüdischen Lotterieverkäufer. Heine kann es Herrn Gumpel nicht verübeln, dass er sich nun „Marchese“ nennt, denn seine Nase berechtigte ihn geradezu dazu:

Ich will nichts Schlimmes von dieser Nase sagen; im Gegenteil, sie war von der edelsten Form, und sie eben berechtigte meinen Freund, sich wenigstens einen Markese-Titel beizulegen. Man konnte es ihm nämlich an der Nase ansehen, dass er von gutem Adel war…

Heines Ansprechgegenüber ist eine „Mylady“, die er seit seinen Tagen in England zu kennen scheint und bei der auch der Marchese Gumpelino verkehrt. In Kapitel II geschieht es nun, dass Gumpelino gemeldete wird, während der Doktor (Heine) bei der Lady weilt.

Sehen Sie“, sagte Mylady, „das ist meine Lieblingsnase, und ich kenne keine schönere Blume auf dieser Erde.“

Diese Blume“, schmunzelte Gumpelino, „kann ich Ihnen nicht an den schönen Busen legen, ohne daß ich mein blühendes Antlitz hinzulegte, und diese Beilage würde Sie vielleicht in der heutigen Hitze etwas genieren.“

Heine macht sich in den zwei Passagen über zwei Dinge lustig: Über den Adel und über die aufdringlich-schwülstige Komplimentiersucht eines Marchese, der mangels aufrichtiger, also empfundener Gefühle nur Peinlichkeiten hervorbringt. Beides zielt also auf den schwulen Dichter-Grafen August von Platen.

Damit ist also das Thema dieses Buches vorgegeben, ist sozusagen bestimmt, worauf das alles hinauslaufen soll. Doch Heine mäandert Kapitel für Kapitel an diesem und jenem vorbei, das ihm interessant erscheint (z.B. Rothschilds Hühneraugen…), um dann in Kapitel X den Zentralangriff massiv vorzubereiten, dessen Vorbereitung wiederum in Kapitel IX geschieht, einem Generalangriff auf die Religion, an dessen Ende jedoch berichtet wird, dass der Marchese just in dem Moment eine Einladung seiner Geliebten erhält, als er soeben ein Abführmittel genommen hatte, durch das er wohl die ganze Nacht von anderen Aktivitäten als den durch das Mittel gewünschten abgehalten wird. Sein Diener hatte ihm dieses Mittel besorgt, und der ist natürlich nun an allem schuld.

Ich wollte, Hirsch“ – schrie wütend der Markese, dessen Unruhe den höchsten Grad erreicht hatte – „ich wollt, dein Pieper von der Fuhlentwiete und sein Posaunenengel von der Kaffeemacherei, und du und die Gudel, Ihr hättet mein Glaubensalz im Leibe!“

Was wollen Sie von mir, Herr Gumpel?“ – versetzte Hyazinth, nicht ohne Anflug von Hitze – „Was kann ich dafür, daß Lady Maxfield just heut Nacht abreisen will und Sie just heute invitiert? Konnt ich das voraus wissen? Bin ich Aristoteles? Bin ich bei der Vorsehung angestellt?…“

Aber Hirsch, was soll die Frau von mir denken, wenn ich nicht komme? Sie wartet jetzt auf mich, sie harrt sogar, sie zittert, sie glüht vor Liebe -“

Sie hat einen schönen Fuß“ – sprach Hyazinth in sich hinein und schüttelte wehmütig sein Köpflein. In seiner Brust aber schien es sich gewaltig zu bewegen, unter seinem roten Rocke arbeitete sichtbar ein kühner Gedanke –

Herr Gumpel“ – sprach es endlich aus ihm hervor – „Schicken Sie mich!“

Bei diesen Worten zog eine hohe Röte über das bläßliche Geschäftsgesicht.

Bemerkenswert sind hier drei Dinge: 1. Diese wunderbare Steigerung in den Worten: sie wartet, sie harrt sogar; sie zittert, sie glüht vor Liebe. 2. Die sehr versteckte Anspielung auf Platen, der seinen Dichtungen gelegentlich ein Schema des Versmaßes beigab, also der „Füße“, auf deren Regelverlass er setzte. Dass die Dame vor Liebe glüht, verbindet Hyazinth damit, dass sie schöne Füße hat, dass sie dem Markese/von Platen also gefällt, weil sie so poetisch ist. Hyazinth indes hat einen anderen Blickwinkel: 3. Er sieht die Sache eher pragmatisch und findet die Dame geil. Das ist schon daran zu erkennen, dass er seinen steifen Schwanz („ein kühner Gedanke“) nicht unter Kontrolle hat.

An dieser Stelle wird schon deutlich, dass Heinrich Heine sich nicht scheut, sexuelle Ereignisse bei ihrem Namen zu nennen. Zwar poetisch verkleidet, aber in der Sache ganz hart.

 

Heinrich Heine: Reisebilder

Beitrag Nr. 2

Ich möchte zunächst auf den Rahmen eingehen, in den das bisher zu den Reisebildern Gesagte einzuordnen ist.

Der erste Teil Die Harzreise erschien bereits im Jahre 1824. Er ist eine Mischung aus Landschaftsschilderungen, Beschreibung von Örtlichkeiten, Naturgedichten und politisch-satirischen Einlagen (Spott über Göttingen z.B.). Daneben werden aber auch Begegnungen geschildert, deren Nachhall auch in kleinen Gedichten zu finden ist.

Von dem Bettchen, wo sie schlummert,
Zög ich leise die Gardinen,
Leise küßt‘ ich ihre Stirne,
Leise ihres Munds Rubinen.

Oder ein Gedicht angesichts des Flüsschens Ilse beginnt so:

Ich bin die Prinzessin Ilse,
Und wohne im Ilsenstein;
Komm mit nach meinem Schlosse,
Wir wollen selig sein.

Heine übersetzt alles, was er zu fassen kriegt, in eine oft sinnlich-spielerische Poesie, angetrieben von einer unbändigen Phantasie!

Es folgt im ersten Teil der Reisebilder der Bericht Die Nordsee, teils Stimmungsgedichte mit wechselhaftem Inhalt, teils spitzzüngige Betrachtungen zu Literatur und politischem Zeitgeschehen, insbesondere auch zu Napoleon. Den Abschluss bilden eine ganze Reihe von Xenien seines – wie Heine schreibt – „hohen Mitstrebenden“ Karl Immermann, von denen wir hier einen Abschnitt mit der Überschrift zitieren.

Östliche Poeten

Groß mérite ist es jetzo, nach Saadis Art zu girren,
Doch mir scheints égal gepudelt, ob wir östlich, westlich irren.

Sonsten sang, bei Mondenscheine, Nachtigall seu Philomele;
Wenn jetzt Bülbül flötet, scheint es mir denn doch dieselbe Kehle.

Alter Dichter, Du gemahnst mich als wie Hamelns Rattenfänger;
Pfeifst nach Morgen, und es folgen all die lieben, kleinen Sänger.

Aus Bequemlichkeit verehren sie die Kühe frommer Inden,
Daß sie den Olympus mögen nächst in jedem Kuhstall finden.

Von den Früchten, die sie aus dem Gartenhain von Schiras stehlen,
Essen sie zu viel, die Armen, und vomieren dann Ghaselen.

Das sind – wohlgemerkt – Verse von Karl Immermann, nicht von Heine, der sich hier den alten Goethe und zwei Follower vorknöpft.

An dieser Stelle wird übrigens deutlich, dass die öffentliche Kommunikation damals wie heute sehr ähnlich funktionierte. Die literarischen und politischen Journale des 18. und 19. Jahrhunderts lassen sich durchaus mit Facebook oder Twitter vergleichen. Der eine schreibt etwas, ein anderer kommentiert, ein dritter schaltet sich ein und ein vierter, der sich angegriffen fühlt, leitet einen Shitstorm ein. (Etwas Ähnliches wurde ja im 18. Jahrhundert oft auch im brieflichen Verkehr von Schriftstellern zelebriert. Mit Vergnügen trat man sich gegenseitig auf die Füße und versuchte dabei immer noch eine Spur geistreicher zu sein als der andere. Siehe Reflexe und Reflexionen Nr. 31: Briefe deutscher Klassiker.)

Zurück zu den Xenien Immermanns: Mit „alter Dichter“ ist also Goethe gemeint (West-östlicher Divan 1819), mit den „kleinen Sängern“ sind Rückert (Östliche Rosen 1822) und Platen gemeint mit seinen Ghaselen (1821 und 1824). Ich zitiere hier aus einem Kommentar zu dieser Stelle:

Platen erkannte sich sofort in diesen Versen: Er schreibt in einem Brief am 12. März 1828 (an Fugger): „Daß die Epigramme auf mich und Rückert gehen, daß wir beide die >kleinen Sänger< sind, unterliegt keinem Zweifel. Daß Immermann sie gemacht, ist verzeihlich, daß aber Heine sie aufnimmt, sie vertritt, daß er mir Sotissen durch die dritte Hand sagt, ist nicht verzeihlich und ist nebenbei eine echt jüdische Handlungsweise. Überdies sind die >Reisebilder<, wie ich höre, ein sehr populäres Buch; er hat also vor ganz Deutschland meine Gedichte für etwas Gespieenes erklärt. (Heinrich Heine: Sämtliche Schriften 2, Hanser, S. 813)

Vielleicht komme ich später einmal zu einer weiteren Darstellung der Reisebilder. Ich übergehe hier ganz Ideen. Das Buch Le GrandDie Reise von München nach GenuaDie Stadt Lucca und die Englischen Fragmente und widme mich ganz dem zweiten Teil von der Reisebilder drittem Teil, der bezeichnenderweise Karl Immermannn gewidmet ist. Wir werden gleich sehen, warum. Denn Platens Polemik gegen Heine und auch Immermann war mit dem zitierten Brief an Fugger keineswegs erschöpft. In seinem Lustspiel „Der romantische Ödipus“ lässt er Immermann als Nimmermann auftreten, der dann auch sogleich vom getauften Heine als seinem Mitstrebenden spricht. Das Lustspiel ist voller platter Anspielungen, die ein ganz bestimmtes Ziel verfolgen, das auch im Brief an Fugger schon deutlich wird. Er kämpft zwar mit poetischen Waffen, doch die sind, was das Poetische angeht, stumpf. Ganz scharf sind sie jedoch, wenn sie auf den Menschen Heine zielen. Platens Judenhass ist blanker Rassismus.

Heine hat dem Teil der Reisebilder Die Bäder von Lucca zwei Kapitel hinzugefügt, die sich fast ausschließlich mit Platen beschäftigen und das Ziel verfolgen, diesen zu vernichten, das heißt, ihn als kompletten Heuchler zu entlarven. Um es noch etwas differenzierter zu sagen: Heine hatte was gegen den Adel. Und er hatte was gegen schlechte Poesie. Und er hasste Heuchelei. Das ergibt einen wunderbaren Mélange, woraus ein spöttisches Gemüt etwas machen kann. So ergab sich Heines Solo-Shitstorm, sprachlich genial, aber eindeutig unter der Gürtellinie, wie ich in einem dritten Beitrag zeigen möchte.

Heinrich Heine:
Die Bäder von Lucca: Motto und Widmung

Die Frage wird doch sein: Darf man einen schwulen Rassisten bei den Eiern packen?

Heinrich Heine: Reisebilder. Hoffmann und Campe: Hamburg 1826 – 1830

Beitrag Nr. 1

Die Reisebilder entstanden in einer Zeit, als Heine noch versuchte, in Deutschland eine (An-)Stellung zu erhalten, die es ihm ermöglicht hätte, finanziell unabhängig zu sein, in denen er indes kompromisslos die literarischen und politischen Umstände in Deutschland darstellte, und zwar in einer ebenso ätzenden wie unterhaltsam-geistvollen Art und Weise. Diese Texte könnte man in Bezug auf ihren Stil und Ausdruckskraft durchaus mit einer gewaltigen Welle vergleichen, die die Selbstgewissheiten und Heiligtümer der Zeit hinweg spülte. Diese Eigentümlichkeit bringt es nun mit sich, dass man nur sehr schwer einzelne Beispiele aus diesem Wellenreigen herausreißen kann, ohne den gewaltigen Gesamteindruck zu mindern oder gar zu zerstören. Ein Wort ergibt das andere, und ohne den Kontext mag das Eine oder Andere daher in seiner Isolation etwas merkwürdig oder gewollt erscheinen.

Ich will dies an einem Beispiel verdeutlichen. Der Graf von Platen hatte Heine massiv angegriffen und dabei nicht zuletzt immer wieder auf dessen Judentum rekurriert. Er hatte sogar ein ganzes Drama geschrieben als Antwort auf ein paar Zeilen von Immermann und Heine, nämlich den „Ödipus“. Heine geht darauf ein und bedauert, dass von Platen eigentlich eine gute Gelegenheit versäumt habe, den Ödipus in seinem Sinne neu zu schreiben. Er hätte doch den Ödipus seine Mutter töten lassen können, und dann seinen Vater heiraten! Natürlich eine Anspielung auf Platens Neigung zu jungen Männern. Aber aus dem Kontext gelöst klingt das in der Tat ein bisschen billig. Leider kann ich in einer solchen Rezension aber nicht den ganzen Kontext beibringen, in den eingebettet eine solche Bemerkung zu einer lauten Leserlache verleiten kann, da es außerordentlich witzig daherkommt.

Ich will ein anderes Beispiel aus dem religiösen Bereich anführen. In der Harzreise schreibt Heine:

An der Wand hing – eine Madonna, so schön, so lieblich, so hingebend fromm, daß ich das Original, das dem Maler dazu gesessen hat, aufsuchen, und zu meinem Weibe machen möchte. Freilich, sobald ich mal mit dieser Madonna verheiratet wäre, würde ich sie bitten, allen ferneren Umgang mit dem heiligen Geist aufzugeben, indem es mir gar nicht lieb sein möchte, wenn mein Kopf durch Vermittlung meiner Frau einen Heiligenschein oder irgend eine andere Verzierung gewönne.

In der katholischen und antisemitischen Zeitschrift „Eos. Münchner Blätter für Poesie, Literatur und Kunst“ (in der übrigens ein Lob auf Platens Gedichte ausgesprochen wurde) diffamiert nun ein gewisser Ignaz Döllinger Heine, indem er zu dem o.g. Zitat aus der Harzreise schreibt:

Wie zart und geschmackvoll und zugleich welche edle Dreistigkeit, welch kühner Freimut! Während andere seiner Stammesgenossen ihre israelische Abkunft sorgfältig zu verbergen suchen, gibt sich unser Herr Politiker ganz unverhohlen als Juden zu erkennen, und wählt für dieses sein Bekenntnis das passende Vehikel: Lästerung dessen, was dem Christen das Heiligste ist.

Meine (psychologisch motivierte) These in Bezug auf die folgenden Betrachtungen ist nun: Heine sagt sich:

Wenn Ihr unterstellt, die deutschen Juden wollten ihre israelische Abkunft sorgfältig verbergen, dann will ich Euch mal zeigen, was einer von Euch, nämlich dieser sich selber mit Lorbeer schmückende deutsche adlige Dichter von Platen, so zu verbergen hat, obwohl er es einerseits halbherzig, aber auch mit lüstriger Inbrunst in seinen Ghaselen  öffentlich macht.

Heines Ausfälle gegen Platen sind also nichts anderes als ein Kampf gegen Heuchelei. (In heutigen Zeiten würde sich dieser Kampf gegen Heuchelei wohl z.B. gegen die Verweigerung des Zugeständnisses, dass Zölibat und Missbrauch von Knaben in der Katholischen Kirche zusammenhängen, richten.) Sie haben – auch aus heutiger Sicht – wenig damit zu tun, dass sich hier einer über die sexuelle Orientierung eines anderen lustig macht. Eine Kritik dieser literarischen Vernichtung eines anderen, die sich auf so was stützen würde, griffe zu kurz.

 

42

Maja Göpel: Unsere Welt neu denken – Eine Einladung. Berlin 2020

Maja Göpels im März 2020 erschienenes Buch kann gelesen werden als eine Art wissenschaftliche Aufarbeitung der Anliegen von Greta Thunbergs  Fridays for Future.  Auf diese „größte Protestbewegung in der Geschichte der Menschheit“ weist die Autorin gleich zu Anfang ihres Buches hin, nachdem sie ausführlich eine Protestaktion von Mitgliedern von Extinction Rebellion schildert, die im Oktober 2019 in einer Londoner U-Bahn-Station durchgeführt wurde. In der morgendlichen Rushhour waren zwei Männer auf das Dach eines U-Bahn-Wagens geklettert und hatten ein Transparent entfaltet mit dem Schriftzug: „Business as usual = Death“, also Weitermachen wie bisher bedeutet den Tod. Und das Anliegen dieses Buches ist kein geringeres als wissenschaftlich zu belegen, dass diese Aussage todernst zu nehmen ist.

In neun Kapiteln legt Göpel dar, in welchen Bereichen unseres ökonomischen und gesellschaftlichen Lebens und in Bezug auf welche Werte und Denkgewohnheiten konsequente Veränderungen stattfinden müssen, wenn es gelingen soll, die Erde vor einer drohenden Unbewohnbarkeit zu bewahren.

Zunächst einmal müssen wir uns der Tatsache stellen, dass sich unsere Welt in den letzten fünfzig Jahren dermaßen rasant und radikal verändert hat, dass wir ohne Übertreibung sagen können: Wir leben heute in einer anderen Realität als noch vor 50 Jahren. Heute gilt als normal, was damals randphänomenal oder gar undenkbar schien. Mit dem Messinstrument des sog. Ökologischen Fußabdrucks lässt sich bestimmen, wie sich das Leben, das ein bestimmter Mensch führt, auf den Planeten niederschlägt. Als Apollo 8 Ende der Sechziger auf dem Mond landete, lebten 3,6 Milliarden Menschen auf der Erde, heute sind es 7,7 Milliarden. Diese 3,6 Milliarden Menschen haben der Erde nicht so viel genommen, wie sie hergab. Heute ist der ökologische Fußabdruck so beschaffen, dass dauerhafte Spuren der Zerstörung zurück bleiben. Wirtschaftliches Wachstum geschieht in den Begriffen der politischen Ökonomie durch Expansion und Extraktion. Diese „finden ein natürliches Ende, wenn der Natur mit ihren Ökosystemen die Fähigkeit genommen wird, sich verlässlich zu regenerieren“. Eine wesentliche Rolle spielt dabei der in den letzten 30 Jahren enorm gesteigerte Ausstoß von Kohlendioxid. Der in diesen Jahren erfolgte Ausstoß entspricht in seiner Menge dem gesamten von Menschen verursachten Ausstoß in der Zeit davor!

Im nächsten Kapitel setzt sich Göpel mit der Frage auseinander, welchen wirtschaftlichen Mehrwert die Natur für unser Leben leistet im Vergleich zu menschengemachten Formen der Wertschöpfung. Die Unterwerfung natürlicher Systeme unter menschliche Bedürfnisse führt zu deren Zerstörung, menschlichen Systemen hingegen fehlt ihrerseits die Nachhaltigkeit. Sind wir z.B. gezwungen, Bienenroboter die Bestäubung der Pflanzen machen zu lassen, da wir Bienen weitgehend vernichtet haben durch unser Wirtschaften, ist der Preis hoch, zu hoch, da biologische Resourcen uns ihre Dienste quasi kostenlos anbieten.

Der nächste Aspekt hat mit menschlichem Verhalten zu tun. Göpel führt hier den Begriff des homo oecononicus ein, der wesentlich ein Egoist ist, aber in der Ökonomie als Verhaltensmodell für den Menschen gilt. Göpel deutet an, dass im Buddhismus, der ja von einem ganz anderen Menschenbild ausgeht, Arbeit als etwas angesehen wird, das den Menschen darin unterstützt, seine Fähigkeiten, und dazu gehört auch seine Fähigkeit des miteinander Kooperierens, zu entwickeln. Ein Zeichen der Hoffnung sieht Göpel darin, dass die OECD ihren Leitspruch von „Bessere Politik für Wachstum“ zu „Bessere Politik für ein besseres Leben“ geändert hat.

Das führt zu einem weiteren Aspekt notwendigen Umdenkens, nämlich zum Begriff des Wachstums. Lange glaubten die Menschen, dass mehr zu produzieren auch viel positiven Nutzen stiftet. Göpel nimmt nun Rekurs auf das sog. Easterlin-Paradox, das besagt, dass ab einem bestimmten Sättigungsgrad ein Mehr keinen Mehrwert für den Menschen erbringt. Ganz abgesehen davon, dass wegen begrenzter Ressourcen ein ewiges Wachstum unmöglich ist, sprechen also auch psychologische Gründe gegen eine Idee vom unbegrenzten Wachstum. In diesem Zusammenhang räumt Göpel mit der Mär auf, dass es den Armen in der Welt durch die Vermehrung des Reichtums ja schließlich auch besser gehe.

Ein wichtiger Begriff im Zusammenhang mit Überlegungen zum technologischen Fortschritt ist der „Rebound-Effekt“. Man sollte meinen, dass durch eine Steigerung der Effizienz unter dem Strich weniger Energie verbraucht wird. Das Gegenteil ist der Fall. Und dieser Sachverhalt ist einer der wesentlichen Gründe für die mangelnde Nachhaltigkeit unseres Wirtschaftens. Solange wir indes die Einbettung von Technik in Umwelt und Gesellschaft nicht mitdenken, ist technologischer Fortschritt blind und führt zu zerstörerischen Fehlentwicklungen.

„Zu viele Leute geben Geld aus, das sie nicht haben, um Dinge zu kaufen, die sie nichte brauchen, um damit Leute zu beeindrucken, die sie nicht mögen.“ Mit diesem Zitat von Robert Quillen (Humorist) beginnt ein Kapitel über den Konsum. Ökonomisch-ökologisch gesehen ist das Hauptproblem hierbei, dass der Preis eines Produktes immer geringer ist als die wirklichen Kosten. Ein eindringliches Beispiel sind die Kosten für ein Flugticket, in das z.B. die Kosten für das verbrauchte Kerosin eingerechnet werden. Die Kosten dafür, das angefallene Kohlendioxid wieder aus der Erdatmosphäre zu entfernen, sind darin aber nicht enthalten. (Ein aktuelles Beispiel wären die Kosten, die durch Corona bei Arbeitern in Schlachthöfen entstehen, die sich ja keineswegs in den bestehenden Preisen für ein Schnitzel oder eine Leberwurst wiederfinden.)

Göpel ist ferner der Ansicht, dass ein reiner Kapitalismus oder Neoliberalismus die Probleme unserer Zeit nicht lösen können. Wir brauchen einen Staat als Vermittler zwischen Wirtschaft und Gemeinwohl. Dass der Staat dieser Rolle heute nicht gerecht wird, kann man z.B. ganz einfach am Steuerverhalten der größten Unternehmen erkennen, denen es möglich ist, Riesengewinne abzuschöpfen, ohne etwas oder genug für das Gemeinwohl zu tun. Ein anderes Beispiel sind die immensen Retouren im Onlinehandel. Würde der Staat kostenlose Retouren verbieten, würde deren Anzahl erheblich gesenkt werden können und damit auch eine Menge Abfall und Umweltbelastung vermieden werden können.

Die Frage der Gerechtigkeit hat gerade heutzutage eine globale Dimension, wenn es nämlich darum geht, wie die Chancen auf ein gutes Leben oder Leben überhaupt auf unserem Planeten verteilt sind. Wer darf z.B. wieviel Kohlendioxid verbrauchen, wenn dieser radikal beschränkt werden müsste? Dazu ein Zitat:

„Bill Gates, laut Forbes-Liste mit einem Vermögen von etwa 108 Milliarden Dollar einer der drei reichsten Menschen der Welt, hat so gesehen also in einem Jahr das Lebensbudget an Kohlendioxid von 38 Menschen verbraucht – alles, was sie für Heizen, Mobilität und Konsum noch ausgeben dürften, um die 1,5-Grad-Grenze nicht zu überschreiten.“

Göpel ist auf Gates nicht all zu gut zu sprechen, da der offenbar Großaufträge seiner Stiftung an Konzerne vergibt, von denen er wiederum Aktien besitzt… Sie führt ein Gedankenexperiment des amerikanischen Philosophen John Rawls an, der schon vor fast 50 Jahren auf ein „Gerechtigkeitsdilemma“ hinwies, das dadurch entsteht, dass die Reichen kein Interesse daran haben, an den Verhältnissen etwas zu ändern, und die Armen keine Macht dazu. Rawls schlug vor, folgende Frage zu stellen (aus der Position eines noch nicht geborenen Menschen): Wie würden Sie die Welt einrichten wollen, wenn Sie nicht wissen, welche Position Sie in ihr einnehmen werden? Auch 50 Jahre später sind wir der Beantwortung der Frage keinen Schritt näher gekommen, wie sich aus diesem Gedankenexperiment konkrete Handlungsschritte ableiten ließen, um das sich immens vergrößernde Gerechtigkeitsdilemma zu überwinden. Es sei denn, man sieht Ansätze wie die zu Vereinbarungen zur Rettung des Regenwaldes oder auch den Emissionshandel als ernst zu nehmende Kandidaten für Modelle der Veränderung an.

Die Autorin beschließt ihr Buch mit einem Appell an uns alle, die Zukunft neu zu denken, uns also von gewohnten Denkweisen zu befreien und den Kopf aus unser „Box“, in der wir feststecken, herauszuheben und und nach Mitstreitern in der Nachbarbox Ausschau zu halten.

Natürlich konnte ich hier auf einen großen Teil des theoretischen Unterbaus nicht eingehen, den die Autorin in anschaulicher Weise benutzt, ihre zahlreichen Beispiele und Anekdoten zu untermauern. In einem vorangestellten Beiwort zu diesem Buch wird die Autorin vorgestellt und werden die zahlreichen Funktionen dieser „gefragten Rednerin“ genannt. Man möchte ihr  vielleicht einmal begegnen und ist durchaus bereit, sich als von ihr eingenommen zu erklären.

 

41

Italo Calvino: Der Baron auf den Bäumen. München 1986

T. C. Boyle hat eine seiner Short Stories, die ich neulich gelesen habe, einem gewissen Italo Calvino gewidmet. Ich wurde neugierig und habe den Namen gegoogled, was mich auf eine schmerzliche Lücke meiner Kenntnis der europäischen Literatur aufmerksam machte. Dieser Italo Calvino ist nämlich einer der bekanntesten italienischen Schriftsteller, und mir wurde bald klar, warum Boyle ihm eine seiner Kurzgeschichten gewidmet hatte. Es ist diese unbändige Lust, Geschichten zu erzählen, die die beiden verbindet. Ich habe mir also einen Roman Calvinos besorgt, der typisch sein soll für dessen Erzählstil, obwohl ich angesichts des Titels einen gewissen Widerstand verspürte, konnte ich mir doch nicht vorstellen, wie jemand eine Geschichte von einem italienischen Baron des 18. Jahrhunderts durchziehen könnte, der sein Leben konsequent  auf Bäumen verbracht haben soll.

Natürlich ist dieser Roman voller Absurditäten. Denn wie sollte es möglich sein, dass ein Mensch sich ein Leben lang auf Bäumen aufhält. Dass konnte ja nur eintönig sein. Und wäre der groteske Umstand, dass dieser Mensch sich über weite Strecken nur auf Bäumen bewegt, nicht dazu angetan, beim Leser einen gewissen Unwillen zu erzeugen, dem Erzähler dabei zu folgen?

Calvino gelingt es jedoch, den Leser immer mehr in seinen Bann zu ziehen, weil er diese groteske Geschichte eines Barons von niederem Adel mit den großen historischen und philosophischen Ereignissen dieser Zeit zu verweben imstande ist, wobei Geschichte selber zu einer großartigen Groteske wird. Um dies zu erklären, versuche ich erst gar nicht, das Angedeutete weiter zu vertiefen oder zu beschreiben, sondern lasse Italo Calvino selber zu Wort kommen in folgendem längeren Zitat aus dem Buch. Der Baron auf den Bäumen bekommt nämlich Besuch von Napoleon, und sein jüngerer Bruder, der Chronist, gibt das so wieder:

Die Begegnung stand unter keinem guten Stern. Alles war von dem städtischen Festausschuß vorbereitet worden, damit wir gut abschnitten. Man hatte einen schönen Baum ausgewählt, es sollte eine Eiche sein, aber der am günstigsten gelegene war ein Nußbaum, und infolgedessen wurde der Nußbaum mit einigen Eichenblättern verkleidet und sodann mit der französischen und der lombardischen Trikolore sowie mit Kokarden und Schmuck behängt. Mein Bruder mußte sich auf ihm hinhocken: im Festgewand, aber mit seiner charakteristischen Mütze aus Katzenfell und mit einem Eichhörnchen auf der Schulter.

Alles war für zehn Uhr vorbereitet, und eine große Menschenmenge stand im Kreise herum, aber natürlich ließ sich Napoleon bis halb zwölf nicht blicken, zum großen Verdruß meines Bruders, der mit zunehmendem Alter an der Blase zu leiden begann und sich von Zeit zu Zeit hinter dem Stamm verstecken mußte, um sich zu erleichtern.

Der Kaiser erschien mit seinem Gefolge, dem die Zweispitze auf den Köpfen schwankten.

Es war Mittag, Napoleon schaute zwischen den Zweigen zu Cosimo hinauf, und die Sonne stach ihm in die Augen.

Er begann Cosimo mit vier improvisierten Sätzen anzureden: »Je sais très bien que vous, citoyen…« – und dabei hielt er sich die Hand vor die Augen – »… parmi les forêts …« – und dabei hüpfte er etwas nach links, damit ihm die Sonne nicht gerade in die Augen schien – »parmi les frondaisons de notre luxuriante… « – und dabei sprang er etwas nach rechts, weil Cosimo ihn durch eine zustimmende Verneigung abermals der Sonne ausgesetzt hatte.

Als Cosimo Bonapartes Unruhe bemerkte, fragte er ihn höflich: »Kann ich etwas für Euch tun, mon Empereur?«

»Ja, ja«, sagte Napoleon, »bleibt bitte etwas dort stehen, um mich vor der Sonne zu schützen, ja, so ist’s richtig, halt…!« Dann verstummte er, als hinge er einem Gedanken nach, und wandte sich an den Vizekönig Eugène: »Tout cela me rappelle quelque chose… Quelque chose que j’ai déjà vu…«

Cosimo kam ihm zu Hilfe: »Nein, Ihr wart das nicht, Majestät, das war Alexander der Große.«

»Ach ja, natürlich«, sagte Napoleon. »Die Begegnung zwischen Alexander und Diogenes. «

»Vous n’oubliez jamais votre Plutarque, mon Empereur«, bemerkte Beauharnais.

»Nur daß damals«, fügte Cosimo hinzu, »Alexander es war, der Diogenes fragte, was er für ihn tun könne, worauf Diogenes ihn bat, sich zu entfernen…«

Napoleon schnalzte mit den Fingern, als hätte er nunmehr endlich den Satz gefunden, den er suchte. Mit einem Blick auf die Würdenträger seines Gefolges vergewisserte er sich, daß sie ihm zuhörten, dann sagte er in ausgezeichnetem Italienisch: »Wäre ich nicht Kaiser Napoleon, so wäre ich am liebsten der Bürger Cosimo Rondò!«

Dann wandte er sich um und entfernte sich. Mit großem Sporengeklirr schloß das Gefolge sich ihm an.

„Wäre ich nicht Alexander, wollte ich Diogenes sein.“ Die Schlusspointe bei Calvino ist natürlich, dass Cosimo Rondò nicht Bürger, sondern Baron ist. Aber in Napoleons Kaiserreich konnte es nur Republikaner geben. Das war Napoleon der Revolution schuldig!

 

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T. C. Boyle: Sind wir nicht Menschen. Stories. Carl Hanser Verlag, München 2020

Der in diesem Frühjahr bei Hanser publizierte Band mit Erzählungen von T. C. Boyle enthält Geschichten, die entweder in amerikanischen Zeitschriften oder in einem früheren Erzählband bereits veröffentlicht wurden. Boyle überzeugt durch eine ungeheuer zwanglose Erzählweise, die nicht einmal einen besonders spektakulären Plot voraussetzt, sondern den Leser durch den fein gesponnenen Duktus mitreißt.

Die Struktur der Erzählungen ist dabei nahezu identisch. Irgendetwas Besonderes passiert, nicht was GANZ Besonderes, aber zumindest etwas, über das man sich aufregen könnte. Dann erzählt Boyle die näheren Umstände und die unmittelbaren Konsequenzen dessen, was dem einen oder der anderen zugestoßen ist. Und am Ende steht eine im Grunde „ganz einfache“ Auflösung, nein, ein Abschluss, der aber für den Helden der Geschichte kein Abschluss ist, vielmehr etwas, womit die Geschichte einfach aufhört, einfach so, also ein Abschluss de Erzählung. Aber damit könnte die Geschichte eigentlich erst richtig losgehen.

In der ersten Erzählung THE WAY YOU LOOK TONIGHT beginnt es damit, dass Todd Jameson von seinem Bruder Rob eine Email erhält mit einem Anhang, auf dem seine Frau Laurie nackt beim Sex mit einem anderen Mann zu sehen ist. Das wirft natürlich Fragen auf und führt zu Verwirrung und Verwerfung. Am Ende legt Todd sich zu seiner bereits schlafenden Frau ins Bett. Die Geschichte hört also hier einfach auf, und eine neue Geschichte beginnt – im Kopf des Lesers.

In DIE NACHT DE SATELLITEN findet der Held ein Stück Metall, das seiner Auffassung und den Umständen nach durchaus von einem aus dem Weltall abgestürzten Satelliten stammen könnte. Seine Freundin schmeißt das Ding weg, und sie kriegen Krach. Er haut ab, meldet sich aber am Schluss bei ihr telefonisch.

In SLATE MOUNTAIN muss ein älterer Bergführer eine Tour wegen eines Schneesturms abbrechen, aber seine Frau und der sie gesprächsweise begleitende ältere Herr gehen verloren. Am folgenden Morgen malt sich unser Bergführer aus, wie man eine Frau lebendig findet, während ihr Begleiter auf einer Bahre abtransportiert wird. Man träumt sich seine Rachegefühle und Wunschwirklichkeit zurecht…

DER MARLBANE MANCHESTER MUSSER PREIS ist für einen auch schon etwas älteren Schriftsteller bestimmt, der mit dem Zug zur Preisverleihung unterwegs ist. Dabei wird ihm von einem Pädophilen ein unterm Mantel nacktes Kind „untergeschoben“ („Können Sie mal kurz auf das Kind aufpassen?“), was dazu führt, dass nicht der inzwischen verschwundene Fremde verhaftet wird, sondern unser Schriftsteller. Er fährt also am nächsten Tag preislos wieder nach Hause, nicht ohne sich schnell fast noch in die Kellnerin der Bahnhofsgaststätte zu verknallen, als Entschädigung sozuagen…

In BIRNAM WOOD hat Keith plötzlich Steve an Noras (seiner Freundin) Backe. Das kam so: Er betrinkt sich in der Bar, wo seine Freundin arbeitet. Die Männer, insbesondere Steve, bewunders „sein“ Mädchen. Da reitet ihn der Übermut, d.h. er lenkt die hyperbolischen Gefühle von ihr auf sich, indem er behauptet: Nora kann echt nerven. So eng bin ich gar nicht mit ihr! Wow, der Mann kann sich das leisten, denkt wohl Steve, voller Bewunderung für Keith. Eines Tages steht er dann vor ihrer Tür und fragt nach Nora. Keith kommt nun aus der Nummer nicht mehr raus und geht erst mal spazieren…

WIEDERERLEBEN ist eine Geschichte um eine Art Zeitmaschine, also Science Fiction.

SIND WIR NICHT MENSCHEN ist ebenfalls futuristisch.

DIE ARGENTIINISCHE AMEISE vermehrt sich umso schneller, je mehr man gegen sie unternimmt. Der Held der Geschichte braucht eine Weile, bis er merkt, woran das liegt.

SURTEY handelt ebenfalls von einem Zuviel. Hier aber geht es um Flutkatastrophen als Folgen des Klimawandels. Und auch in WAS WASSER WERT IST, WEIßT DU (ERST, WENN DU KEINS MEHR HAST) werden interessante Auswüchse des Klimawandels beschrieben.

In DIEBSTAHL UND ANDERE SACHEN verschwindet ein Auto von einem Parkdeck, und es folgen komplizierte Ermittlungen. Am Ende winkt dem Besitzer aber eine süße Belohnung.

DER BEAUFTRAGTE ist die Geschichte um eine grandiose Trickbetrügerei. JESUS DER KRIEGER handelt von den Allmachtsphantasien eines Comic-Zeichners, der im Hauptberuf Grillmeister in einem Restaurant ist und unliebsamen Gästen gelegentlich auch schon mal auf den Cheeseburger spuckt.

Die letzte Geschichte besitzt eine ungeheuere Aktualität. DER FLÜCHTLING ist ein junger Mann, der auf Grund einer Erkrankung eine Maske tragen muss und schließlich vor der Polizei die Flucht ergreift, da sie ihn wegen Verletzung seiner Auflagen verhaften will. – Bei uns kann das heuer mehrere hundert Euro kosten…

 

 

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A. L. Kennedy: Serious Sweet. London 2016

Die aus Schottland stammende britische Schriftstellerin Alison Louise Kennedy lernte ich erst kürzlich kennen durch ihre sehr kritischen und sehr ironischen Beiträge in der Süddeutschen Zeitung, wo sie in lockerer Folge die unfasslichen Umstände des englischen Brexits kommentierte. Nein, sie war auf die englischen Politiker im allgemeinen und insbesondere auf den gegenwärtigen Premierminister gar nicht gut zu sprechen, deren Verhalten sie facettenreich kommentierte und dabei so manche Absurdität genau auf den Punkt brachte.

Ihr Buch Serious Sweet, das ich daraufhin mehr oder weniger zufällig in die Hand bekam (und las), ist ein durch und durch politisches Buch, das uns mit gekonntem Sarkasmus durch die Höhen und Tiefen der gegenwärtigen Londoner Gesellschaft führt. Das Buch ist angelegt in der Art eines bestimmten Genres, für das vor allem James Joyce‘ Ulisses steht. Die Handlung spielt an genau einem Tag, in London. Sie spielt sich im Wesentlichen in den Köpfen zweier Menschen ab, die relaltiv verschieden sind. Jon ist ein relativ hoher Regierungsbeamter, der sich mit einem Arschloch von Chef herumschlagen muss, ein wenig Spionage betreibt und die eine oder andere kleine Schweinerei begeht. Als seine Frau, die ihn laufend betrogen hat, sich von ihm trennt, zieht er ein kleines Gewerbe auf, einen anonymen Briefservice für einsame (Frauen-)Herzen, denen er nach deren Bedürfnissen Tröstliches schreibt. Eine von diesen Frauen ist Meg, die zweite Protagonistin, die wir in ihrer Eingangsszene bei einem für den Leser sehr amüsanten Besuch beim Frauenarzt erleben. Meg ist trockene Alkoholikerin und möchte unbedingt den anonymen Seelentröster persönlich kennenlernen, was ihr auch gelingt. Den Schluss des Tages bildet dann eine ziemlich eigenwillige Liebesszene. Die augenzwinkernde Botschaft: Es gibt Hoffnung!

Dieser Stream of Consciousness ist  so spannend wie platt und anspruchsvoll wie die Wirklichkeit. Wer die Ulisses gelesen hat, der weiß, dass eine solche Lektüre durchaus ihre eigenen Ansprüche an den Leser stellt. Aber nach der Lektüre kann ich sagen: Es hat sich gelohnt!

 

38

Lisa Taddeo: three women – drei frauen. Piper, München 2020

Auf der Rückseite des Umschlags sind sechs Lobgesänge auf dieses Buch verzeichnet. So schreibt z.B. eine 25-jährige deutsche Moderatorin, Sophie Passmann:

Männer werden dieses Buch lesen und bestürzt den Kopf schütteln, Frauen werden wissend nicken. Three Women – Drei Frauen ist wahr, tieftraurig und Gott sei Dank auch noch großartig geschrieben.“

Liebe Sophie Passmann, ich bin ein Mann, habe dieses Buch gelesen (man könnte auch sagen: mich da durchgequält) und zwischendurch immer wieder mal bestürzt den Kopf geschüttelt über die Tatsache, dass ich mir das antat. Ob Frauen wissend nicken, kann ich nicht beurteilen. Ja, wahre Geschichten sind das, aber wie die Autorin im Nachwort selber betont: aus der Sicht der Frauen, deren Leben hier ausschnittweise dokumentiert wird. Für tieftraurig halte ich die Geschichte der drei Frauen auch nicht, allenfalls für ein wenig dröge erzählt, wodurch der Leser gelegentlich vielleicht tieftraurig wird und sich wundert, wie eine wortgewaltige junge deutsche Moderatorin und Autorin zu der Auffassung gelangen kann, das Buch sei großartig geschrieben.

Ich werde jetzt kurz ein wenig zu den drei Frauen sagen. Maggie wird im Wesentlichen als diejenige beschrieben, die in eine Liebesgeschichte mit ihrem Lehrer Aaron hineingerät, ohne „richtigen“ Sex mit ihm zu haben, zurückgewiesen wird und ihn wegen sexueller Belästigung anzeigt. Die Autorin lässt sie zu Wort kommen, als sie zum ersten Mal den Gerichtssaal betritt:

Scheiße, es tut mir leid, dass ich dich ausgeliefert habe. Ich war schrecklich verletzt und wütend, du hast mir so viele Jahre meines Lebens geklaut. Was du getan hast, war nicht richtig, und jetzt sieh mich an.Jetzt bin ich hier. Ich habe diese Kriegsbemalung im Gesicht, aber unter all der Schminke bin ich verwundet und ängstlich und geil und erschöpft – und ich liebe dich.“

Der Prozess geht nicht gut aus für Maggie.

Lina ist eine Frau, die sich zweimal in denselben Mann verliebt. Als junges Mädchen schreibt sie in ihr Tagebuch:

Liebes Tagebuch,

ich bin in Aidan Hart verliebt, und er ist in mich verliebt! Ich schwöre, dass das stimmt. Kein Mensch war je so glücklich wie ich. Wenn ich aufwache, habe ich das Gefühl zu platzen. Ich könnte sterben vor Glück. Endlich weiß ich, was es heißt, wenn die Leute das sagen. Ich könnte sterben.“

Später heiratet sie einen Mann, der sie nicht genügend liebt. Sie will mehr vom Leben, trennt sich und beginnt eine heimliche Beziehung mit Aidan, der längst verheiratet ist und Kinder hat. Man könnte sagen, in dieser heimlichen Liebesbeziehung verzehrt sie sich. Sie ist glücklich und unglücklich zugleich.

Sloane geht eine Beziehung mit dem Chefkoch des Restaurants ein, in dem sie arbeitet. Dieser Richard macht gerne Sex zu Dritt, und sie lässt sich darauf ein. Wie es dazu kommen kann, beschreibt sie so:

Die Beteiligten können selten sagen, wann genau es passiert. Weil das unmöglich ist. Man müsste zugeben, dass man auf der Suche nach etwas ist, das sich moralisch zweifelhaft anfühlt, fremd und bedrohlich. Ein Ehemann, der sich danach sehnt, in einen anderen Körper einzudringen, eine andere Brust zu umfassen. Eine Ehefrau, die sehen will, wie ihr Mann eine andere begehrt, um ihn nur noch stärker zu begehren. Eine Dritte, die nicht allzu begehrenswert ist und die, wenn sie ins Zimmer kommt, nicht mehr als eine Nummer in einen Tanktop ist. Ein Ehemann, der den ersten Schritt macht. Eine Dritte, die den ganzen Tag nichts gegessen hat. Jemand macht Musik an. Jemand gießt einen Drink ein. Jemand zieht seinen Lippenstift nach. Eine Frau nimmt eine bestimmte Haltung ein. Ein Mann ist weniger verletzt, als er sein sollte. Eine Frau hat Angst vor ihrer Lust. Jemand macht sich Sorgen, dass er nicht erregbar genug ist. Jemand zündet eine Kerze an. Jemand schließt die Terrassentür. Jemand hat ein komisches Gefühl. Was passiert, ist rein körperlich und doch alles andere als das.“

Die Dinge, die hier in einer holprigen Aufzählung aneinander gereiht werden, gehören ganz unterschiedlichen Kategorien an. Nur eines sind sie nicht: rein körperlich. Ich selber kann mit einer solchen Beschreibung wenig anfangen und lasse sie einfach mal so stehen.

Das Buch leidet aber nicht nur an einer gewissen Diffusheit der Beschreibung, sondern auch an einem strukturellen Mangel. Warum werden ausgerechnet diese drei Frauen beschrieben? Offenbar hat die Autorin viele Jahre lang mit einer ganzen Reihe von Frauen gesprochen, und es scheint, sie wollte in diesen Gesprächen an die Oberfläche bringen, was weibliches Begehren ausmacht. Manche Frauen haben sich jedoch zurückgezogen, und unsere drei Frauen waren offenbar vorbehaltlos bereit, ihre Story an die Öffentlichkeit zu bringen. Hier fehlt also auf Seiten der Autorin der künstlerische Gestaltungswille. Sie könnte sagen: Ich wollte dokumentieren, nicht gestalten. Dann bleibt an dieser Dokumentation jedoch der Geruch einer gewissen Willkür hängen.

Das Time Magazine schreibt zu diesem Buch: „Die literarische Brillanz des Buches haut einen schier um.“

Mich haut es um, wie ein renommiertes Magazin zu einer solchen literarischen Fehleinschätzung kommen kann.

Andrea Gerk hat in einem Beitrag im Deutschlandfunk Kultur „Wie im Soft-Porno der 50er Jahre“ für die Aufregung um dieses Buch eine prägnante Erklärung parat: SEX SELLS. Denn immerhin wird ja gelegentlich mehr oder weniger genau beschrieben, wo sich die Finger des Mannes gerade aufhalten und was sie dort machen.

 

37

Bettine von Arnim: Letzte Liebe – Das unbekannte Briefbuch: Korresspondenz mit Julius Döring. Die Andere Bibliothek, Berlin 2019 (und Stefanie Sargnagel: Statusmeldungen. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2017)

Spätestens seit dem 18. Jahrhundert und dann bis ins 20. Jahrhundert war Briefe Schreiben eine der Lieblingsbeschäftigungen der gebildeten Schichten. Mit der Erhöhung der “Taktfrequenz” gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als es schließlich tägliche Postverbindungen zwischen den Städten gab, gewann das Briefe Schreiben noch einmal an erheblicher Bedeutung, konnten Briefe doch nun in täglichem Wechsel geschrieben und beantwortet werden. Dies kam dann vor allem einem „romantischen“ Mitteilungsbedürfnis in dieser Zeit entgegen. Was heute von den Social Media geleistet wird, wurde in jener Zeit von literarischen Journalen gefördert und durch den brieflichen Austausch über das, was in diesen geboten wurde, noch einmal intensiviert. Man mag heute über die täglichen Ergüsse und Stoßseufzer auf Facebook & Co die Nase rümpfen, so bleibt doch unbestritten, dass durch diese Art der Kommunikation offenbar ein soziales Bedürfnis nach Nähe oder Selbstoffenbarung befriedigt wird, von dem man annehmen darf, dass es das auch schon vor ein paar hundert Jahren gegeben hat, nur eben in einer uns heute weitgehend unbekannten medialen Vermittlung: durch Briefe. (Siehe Kurt Fassmann: Briefe deutscher Klassiker, Rezension Nr. 31)

Glaubte man unter Fachleuten, dass alle wesentlichen Briefe aus jenen Zeiten bekannt seien, so wird man nun eines Besseren belehrt durch die sorgfältig edierte und kommentierte Herausgabe eines Briefwechsels aus dem Herzen der Romantik, der erst vor kurzem aufgetaucht ist. Bettine von Arnim, die Schwester Clemens Brentanos, hat, als sie schon verwitwet war, über Jahre einen anfangs sehr intensiven Briefwechsel geführt mit einem Jurastudenten, der literarische Ambitionen besaß. Sie haben sich gelegentlich getroffen, auch eine gemeinsame Reise unternommen. Sie teilen sich gegenseitig ihre Gefühle mit, auch solche füreinander, stellen Missverständnisse klar, beklagen den Lauf der Dinge. Die machen also genau das, was heutzutage in unzähligen Chatforen passiert. Stefanie Sargnagel hat diese Art der Selbtoffenbarung in ihrem Roman Statusmeldungen verarbeitet, d.h. dieser Roman ist ein öffentliches Selbstgespräch in Form von tagebuchartigen Meldungen über das, was der Erzählerin wichtig erscheint oder auch nur gerade so durch den Kopf geht.

So literaturgeschichtlich interessant und wichtig nun auch dieses Briefbuch der Bettine sein mag, und so spannend es sich auch gelegentlich lesen mag, fällt es doch an vielen Stellen schwer, den Briefen nicht mit einem gewissen Überdruss zu folgen, da sich manches wiederholt und vieles doch arg gefühlsduselig, dabei aber mit dem unverkennbaren Anspruch, etwas literarisch Wertvolles zu verfassen, daherkommt. Bei Sargnagel entsteht derselbe Überdruss aus der Ansammlung von Banalitäten und dem ebenso unverkennbaren Anspruch, etwas Witziges zu produzieren.

Interessant ist auch, dass beide Bücher auf einen Kommentar, bzw. eine Art Glossar, nicht verzichten können. Während bei Bettine von Arnim und ihrem Briefgenossen Döring vieles erklärungsbedürftig erscheint, weil es sich für heutige Verhältnisse oft nur schwer nachvollziehbar auf den ganzen Schatz der sog. Klassischen Bildung bezieht und daraus zitiert, bedarf es in Bezug auf die Statusmeldungen einiger Erklärungen für eine Art Chat-Sprech, Begriffe also, die nur „Insidern“ bekannt sind.

Fazit: Das Briefbuch verlangt einen langen Leseatem und gibt am Ende Aufschluss über bewegtes romantisches Innenleben. Die Statusmeldungen verlangen Toleranz gegenüber einer gewissen Banalität des Lebens, das sich hier ausdrückt, und gibt Auskunft über den Status einer Gesellschaft, die immer mehr von Social Media beherrscht wird.

Wir schaffen uns unsere Medien. Aber die Medien formen uns am Ende vielleicht mehr als wir wollen. Das gilt für die romantischen Briefeschreiber von damals und für das unermessliche Heer der Chatter unserer Tage.

 

36

Donna Tartt: The Goldfinch, Abacus 2014

Theodore Decker, der Protagonist dieses Romans, beweist in seinen jungen Jahren Selbstbewusstsein und Menschenkenntnis, die ihn sein Leben lang begleiten und ihn zu einem reichen Mann machen. Während eines Terroranschlags im Metropolitan in New York stiehlt er ein sehr, sehr wertvolles Gemälde, The Goldfinch, das ihm zum Schicksal wird. In Las Vegas trifft er auf einen verwahrlosten Jungen ukrainischen Ursprungs, zusammen saufen sie, nehmen Drogen, stehlen, bis Theodore nach dem Tod seines Vaters mit dem Hund des Ukrainers zurück nach New York fährt und bei einem Antiquitätenrestaurateur in die Lehre geht, zusammengebastelte Möbelstücke als echt verkauft und schließlich seinen Freund Boris wiedertrifft. Während all dieser Zeit ist er sozusagen kontrolliert drogenabhängig. Seine Jugendfrendin Pippa will nichts von ihm wissen, die verhätschelte Schwester seines einzigen Schulfreundes will ihn heiraten, da sie sich davon Vorteile verspricht. Am Ende erschießt er beim Versuch, den geklauten Distelfink zurückzubekommen, die Dealer, sein Freund Boris verhilft ihm zu viel, sehr viel Geld, doch er wird am Ende noch ein guter Mensch, der seine Tage damit verbringt, seine Schuld zu löschen. Wahrheit, Kunst und Liebe sind die großen Themen dieses Romans, und in weitschweifigen Betrachtungen kommt die Autorin immer wieder auf diese zurück. Die Autorin vermag es, überaus spannend (dies vor allem bei sehr grausamen Begebenheiten) zu erzählen und erzählerisch-sinnierend einen Ton zu treffen, der so etwas wie gedankliche Tiefe vorspiegelt. Selten hat es einen so verkommenen Helden in der Literatur gegeben. Und selten ist ein solches Phänomen dermaßen schöngeredet worden. Ja, der Roman ist in der Tat sehr lesenswert, weil er so schön ist.

 

35

Ocean Vuong: On Earth We’re Briefly Gorgeous, London 2019

Als ich in der Süddeutschen Zeitung eine Rezension des Buches anlässlich des Erscheinens einer deutschen Übersetzung las, habe ich mir das Buch sogleich auf Englisch bestellt, glaubte ich doch, mit dem Original keine Probleme zu bekommen, da der Autor ein junger Vietnamese ist, der erst nach seiner Immigration in die USA Englisch lernte. Seine Mutter hatte offenbar nie schreiben gelernt. Was für ein Irrtum, was die Möglichkeiten meines Lesezugangs betrifft!

Das Buch stellt hohe lexikalische Ansprüche. Aber nicht nur das. Es ist in einem durchweg lyrischen Ton geschrieben, was sowohl Metaphorik und Aufladen einzelner Wörter mit Bedeutungskaskaden als auch den gesamten sprachlich-syntaktischen Duktus betrifft.

Ocean Vuong, bzw. das lyrische Ich, wendet sich durchweg an seine Mutter, obwohl er weiß, dass sie seine Wort niemals lesen wird. Bewegend die Momente, die er beschreibt, da die Familie der ganzen Brutalität des Krieges in Vietnam ausgesetzt ist. Seinem Großvater, der amerikanische Soldat in Saigon war, widmet er manche Erinnerungen, auch seiner Mutter, die immer für ihn da war. Den zentralen Teil des Buches widmet er indes den Erinnerungen an seinen amerikanischen Freund in jungen Jahren, mit dem er ein intensives homosexuelles Verhältnis hatte, das bis in banale und brutale Einzelheiten hinein erinnert wird.

Die detaillierten Schilderungen der Kriegs- und Sexkatastrophen, aber auch bewegender Momente wie das Sterben der Großmutter werden indes immer wieder garniert mit Lyrizismen, also rational oft nicht nachvollziehbaren Abstraktionen, Verallgemeinerungen von sprachlichen Bedeutungen, über die man, den Lesefluss des „Romans“ unterbrechend, erst mal nachdenken muss, und die man dann schließlich semantisch verdauen oder aber auf den Müll werfen kann, wenn man sich entschieden hat, dass diese experimentellen Gebilde keinen Sinn, sondern nur Unsinn ergeben.

Die Frage ist: Was mutet uns so ein junger lyrischer Romancier eigentlich zu, wenn er eine Art autobiografischer Schilderung garniert mit Sätzen wie On Earth We‘re Briefly Gorgeous, was 1. Titel dieses „Romans“, 2. ein Satz in diesem Werk und aber 3. auch ein Versatzstück ist aus einem seiner bisher veröffentlichen lyrischen Werke.

Ich würde das stilbildende Verfahren dieses Buches am besten umschrieben wissen mit assoziativ und kondensierend, was aber eine gewisse Spannung erzeugt, die durchaus Funken im Gehirn des Lesers schlagen kann – eine gewisse elektrische Bereitschaft vorausgesetzt…

 

34

Margaret Atwood: The Handmaid’s Tale (1985) und Michel Houellebecq: Soumission (2015)

Der eine Roman spielt in den USA, der andere in Frankreich. Der eine spielt in “naher Zukunft”, der andere im Jahre 2022. Seit der Verkündung des Todes Gottes (Nietzsche) ist mehr als ein Jahrhundert vergangen. Man mag nun sagen: Gott ist tot. Es lebe die Religion. Beide Romane speisen sich aus diesem scheinbaren Paradox. Bei Atwood sind es christliche Fundamentalisten, die die Macht an sich reißen. Bei Houellebecq kommen Islamisten an die Macht, da es den Konservativen und der Sozialistischen Partei in der Hauptsache darum geht, eine Machtergreifung des Front National zu verhindern. Beide Romane malen die Zukunft schwarz (dystopisch).

Der Anlass des fundamentalistischen Staatsstreichs bei Atwood sind verschiedene Katastrophen, durch die die Fruchtbarkeit der Frauen gefährdet wird und so das Ende der Menschheit absehbar wäre. Es wird ein theokratisches Patriarchat eingeführt, in dem den Handmaids eine zentrale Rolle zukommt, da dies fruchtbar gebliebene Frauen sind, deren einzige Aufgabe darin besteht, Kinder zu gebären. Doch werden sie wie Sklavinnen „gehalten“.

Der Grund für die islamistische Usurpation der Staatsmacht bei Houellebecq wurde schon angedeutet. Der Front National soll um jeden Preis von der Machtergreifung abgehalten werden. Doch am Ende kooperieren Sympathisanten der Identitären, also extrem Rechter, mit den Islamisten, ja sie teilen sich die Macht, allerdings auf der Basis einer durch und durch islamisierten Gesellschaft.

Atwood beschreibt das Geschehen aus der Sicht einer Handmaid, Houellebecq aus der Sicht eines sexbesessenen Akademikers. (Vielleicht ist dieser Akademiker gar nicht sexbesessen, sondern stinknormal. Denn die ausführlichen Sexabenteuer des Professors werden zwar detailliert beschrieben, aber dass sie erzählerisch einen gewissen Raum einnehmen bedeutet ja nicht, dass sie im Leben eines Professors etwas Besonderes sind.) Atwood lässt am Ende offen, ob der Protagonistin am Ende die Flucht nach Kanada gelingt. Houellebecqs Protagonist ist am Ende auf der Schwelle zur Bekehrung zum Islam (Er erliegt den Argumenten der Islamisten einerseits. Und verspricht sich eine erhebliche Verbesserung seiner Lebenslage andererseits.), doch werden die entscheidenden transitorischen Schritte in der Form der Möglichkeit beschrieben (Er würde dies tun, und er würde das bekommen…).

Beide Autoren malen also ein düsteres Bild von der Zukunft. Der erzählerische Zugriff ist aber grundverschieden. Bei Atwood hofft der Leser, dass die Protagonistin nach Kanada entkommen möge. Bei Houellebecq erschrickt der Leser, der dem Protagonisten dabei zusieht, wie der nach und nach zu den Islamisten überzulaufen scheint.

Die Macht der Trumpisten in den USA scheint zu zeigen, dass politisches Handeln und Rationalität nichts miteinander zu tun haben müssen. Houllebecqs Verweise auf den Untergang früherer Machtgebilde (Römisches Reich) und die negative Dialektik der Vernunft (selbstzerstörerische Aufklärung; Beliebigkeit der Werte; politischer Dialog wird verdreht zum hassgetränkten Endkampf) eröffnen den Blick dafür, dass wir uns in einem System eingeigelt haben, das wir für das beste aller Zeiten halten.

Es kann aber alles ganz anders kommen.

 

33

Hildegard Baumgart: Bettine Brentano und Achim von Arnim. Lehrjahre einer Liebe. Goldmann Verlag 2001

Bettina

Ein adliger Junge aus Preußen und eine bürgerliche Kaufmannstochter aus Frankfurt finden nach einigem Hin und Her zusammen. Er war durch Des Knaben Wunderhorn, das er zusammen mit Clemens Brentano, der Bruder dieser Kaufmannstochter, herausgegeben hatte, berühmt geworden, war einer der wenigen, die durch einen weniger als ein Jahr dauernden Aufenthalt in Heidelberg den Namen der „Heidelberger Romantik“ begründeten, dauernd Schulden hatte und nach dem Tod seiner Großmutter die Mittel besaß, Bettina zu heiraten. Sie war eine Freundin der romantischen Dichterin Günderode, die in Frankfurt Selbstmord beging, pflegte eindringlichen Kontakt zu Goethes Mutter in Frankfurt und später auch einen gelegentlich ein wenig aufdringlichen zum Meister selber, dem sie sich bei ihrem ersten Treffen an den Hals warf, wobei dies nichts Außergewöhnliches ist, wenn man bedenkt, dass sie in Gesellschaft mehr unter dem Tisch saß auf dem Tisch, da sie das Sitzen auf einem Stuhl als bürgerliche Marotte betrachtete. Er hatte literarisch als Romantiker renommiert, sie lebenspraktisch.

Am Tag nach dem Tod der Großmutter wurden die Vorbereitungen für eine Hochzeit begonnen. Als das letzte Aufgebot gemacht worden war, wurde geheiratet – heimlich. Sie lebten beide in Berlin, sie bei der Familie Savigny. Am 11. März 2011 gingen sie heimlich zu einem ihnen bekannten Prediger, dessen Frau die einzige Trauzeugin wurde. Mittags ging Achim allein irgendwo speisen, am Abend traf man sich bei den Savignys. Als am späten Abend Bettines Bruder das Haus verließ, um in die mit Achim geteilte Wohnung zu gehen („Geh‘ schon mal vor. Ich komme gleich nach!“), blieb Achim noch. Er hinterließ uns folgende Schilderung des weiteren Verlaufs der Hochzeitsnacht: Als Clemens fort war, „gingen Savignys auch zu Bette, ich that als wenn ich Abschied nähme, trabte die Treppen in Begleitung der kleinen Kammerjungfer hinunter, als ob ich schwer beschlagene Hufeisen trüge, unten aber schlug ich die Thüre scheinbar zu, zog dann die Stiefel aus und war in drei Sprüngen in Bettinens Zimmer. (…) Früh schlich ich mich unbemerkt fort.“

Im Jahre 1806, in den Wirren der Kriege gegen Napoleon, in denen sich Arnim nicht persönlich engagierte, nicht mit dem Schwert zumindest, aber immerhin sah man ihn beim Verteilen von patriotischen Gedichten unter den Soldaten, schrieb er ein Gedicht, das so beginnt:

Fest beiß ich mich, mein schwankend Vaterland,
Und beiß in dich mit allen Zähren ein,
Dir tut‘s nicht weh, ich mag nicht schrein.,

Bettine rät zur Mäßigung und produziert in einer Antwort brieflich einen der schönsten Sätze der Romantik:

Nur der mit Leichtigkeit und Freude die Welt sich zu erhalten weiß, der hält sie fest. Strengt euch nicht zu sehr an, meine Freunde, beißt, klammert euch nicht an, spielt lieber Ball mit ihr, sie ist ja rund, wer sie im Gleichgewicht zu halten weiß, der fängt sie immer wieder.

Hildegard Baumgart verfolgt das Schicksal der beiden nur bis zur Eheschließung. Danach schreiben sich die beiden naturgemäß nicht mehr so häufig Briefe. Da das Buch indes im Wesentlichen auf brieflichen Quellen basiert, geht ihm mit der Eheschließung die Luft aus.

 

32

Gregor Hens: Missouri (Aufbau Verlag 2019) und David Wagner: Der vergessliche Riese (Rowohlt Verlag September 2019)

Nachdem ich mich eine Zeitlang mit der Romantik befasst hatte (zuletzt mit der hier nicht dokumentierten NovelleUndine von Friedrich de la Motte-Fouqué), fühlte ich mich irgendwie verpflichtet, mich einmal in der aktuellen Literaturszene umzusehen. Oder genauer gesagt: Ich wollte mich wieder im literarischen Hier und Jetzt verankern, teilweise, nun ja, aus Pflicht, teilweise aber auch aus einer Neugier heraus, da ich wissen wollte, wer oder was sich da herumtreibt.

Buchbesprechungen in der Süddeutschen Zeitung wiesen mir den Einstieg in die aktuelle Literaturszene, und ich geriet an die o.g. Bücher, da sie mich thematisch interessierten aus biografischen Gründen.

Gregor Hens beschreibt in seinem Roman, was einem jungen Deutschen, der im Sommer 1989 als Assistant Teacher an einem College in Missouri arbeitet, so passiert. Er verliebt sich in eine Studentin, die anscheinend das Wunder einer Levitation vollbringen kann, muss sich gegen die Annäherungsversuche von deren Mutter wehren, reist in den Ferien für ein paar Wochen zurück nach Deutschland, um die Situation nach dem Fall der Mauer zu erleben, und trennt sich am Ende von seiner Freundin. Das alles wird relativ realistisch, kann könnte auch sagen: nüchtern, erzählt. Ich habe das teilweise gelesen mit dem abwehrenden Gefühl, dass ich das alles gar nicht wissen möchte oder brauche.

THE NEW YORKER schreibt laut Klappentext über das Buch: „Gregor Hens verwandelt die Gegenstände seiner Welt in Verstärker poetischer Kraft, summend, vibrierend und Funken sprühend.“ Das 16. Kapitel endet mit einer typischen Sequenz. Nicht der Erzähler kommentiert da etwas, es sind die Figuren, die den ganzen Sinn transportieren müssen. Auf Anführungszeichen wird im ganzen Buch verzichtet.

Sie ist wirklich sehr süß, Karl.

Liebst du ihn denn noch? Alex?

Natürlich, ja. Sie sank in ihren Sessel zjurück. Ich werde ihn vermutlich immer lieben. Und es wird andere geben, die ich auch lieben werde.

So läuft das also? Wie Erd- oder Gesteinsschichten, eine auf der anderen?

Ein seltsames Bild, findest du nicht? Ehemalige Liebhaber, einer über dem anderen. Aber ja, du hast recht. Schichten. Man sieht das Alte nicht, vielleicht wird es auch verdichtet. Aber es ist noch immer da. Wenn das so ist, dann sind die tiefsten Schichten die beständigsten.

Und wir? Ich Bin ich etwa ach so eine Schicht?

Natürlich, Karl! Was hast du denn gedacht?

Sehen Sie hier irgendeinen Funken sprühen? Ist die Tatsache, dass „das Alte… verdichtet…“ wird, so ein Verstärker poetischer, da „dichterischer“ Kraft? Es ist alles einfach nur oberflächlich, scheint nichts weiter zu sein als die Niederschrift von Erinnerungen des Autors an seine eigene Jugend, die er in den USA verbrachte. Und warum sollte ich als Leser mich für die Erinnerungen dieses Mannes interessieren, wenn nichts vibriert?

David Wagners Buch ist ebenfalls von einem erzählerischen Realismus gezeichnet. Es ist die Geschichte einer Vater-Sohn-Beziehung, während der Vater in die Demenz gleitet. Ich kenne zwei Bücher von Joyce Carol Oates, „Missing Mom“ und „A Widow‘s Story“, in denen die Autorin eindringlich und fesselnd die Lebensphase eines Menschen nach dem Verlust in diesen Fällen der Mutter und des Ehepartners beschreibt. Ich habe diese Bücher gerne gelesen. Bei Wagner jedoch habe ich das gleiche Gefühl wie bei Hens: Was er beschreibt, interessiert mich einfach nicht. In einer im Klappentext erwähnten Rezension wird die Genauigkeit des Blicks gelobt, mit der der Autor „das Verschwinden von Dingen und Menschen“ beschreibt. Die Beschreibungen lassen mich indes kalt, da der Realismus nicht in Anrührung oder auch Empathie beim Leser verwandelt wird.

Das Buch endet mit folgendem Dialog, wobei hier die gesprochenen Sätze durch Anführungszeichen gekennzeichnet sind, der Leser indes anhand des Inhalts erschließen muss, wer gerade spricht:

Die Fähre hat sich losgerissen, und die Strömung nimmt uns mit aufs Meer hinaus.“

Vielleicht können wir ein paar von den armen Flüchtlingen retten, die da in ihren Schlauchbooten treiben.“

Wahrscheinlich spült es uns aber erst in die Nordsee, Papa, nicht ins Mittelmeer. Schade.“

Stimmt, das ist ja der Rhein, der da fließt. Nicht der Nil.“

Das Wasser ist so schwarz. Alles ist so dunkel da draußen.“

Wie heißt der Fluss noch mal? Und jetzt weiß ich wieder, was ich dich fragen wollte, Freund: Wer sind eigentlich deine Eltern?“

(Vater und Sohn befinden sich hier an Weihnachten auf einem Schiff, das als China-Restaurant ausgestattet ist, auf dem Rhein bei Bonn.)

Demenzkranke, die ich kennengelernt habe, reden so nicht. Die Anrede des Sohnes als „Freund“, die sich durch das ganze Buch zieht, wirkt aufgesetzt und entpuppt sich am Ende des Buches als Vorbereitung auf die vermeintliche Schlusspointe, in der offenbar zusammenfassend zum Ausdruck gebracht werden soll, dass der Vater den Sohn als Sohn nicht erkennt. Das erscheint mir als ein wenig „billig“, genauso wie der kurze Verweis auf die Flüchtlinge in den Schlauchbooten, womit wohl gezeigt werden sollte: Der Roman ist auf der Höhe der Zeit. Dabei wird es höchste Zeit, einmal eine Schilderung zu erhalten, wie es bei Demenzkranken wirklich zugeht, die sich nicht in der Aufzählung von Dingen erschöpft, die „verschwinden“.

 

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Briefe deutscher Klassiker, hier:

August Wilhelm Schlegel an Johann Gottlieb Fichte

Eine gar nicht so romantische Affäre, Berlin, 1801

Als Ludwig Tieck sich 1792 von seinem Freund Wilhelm Heinrich Wackenroder in Berlin verabschiedete, da er in Halle auf Geheiß seines Vaters Theologie studieren sollte, trennten die beiden Freunde sich spät abends vor dem Haus ihres Lehrers August Ferdinand Bernhardi, der später Werke verfasste wie Ueber die ersten Grundsätze der Disciplin in einem Gymnasium, der sich ferner mit einer Schwester Ludwig Tiecks, Sophie Tieck, verheiratete und dadurch in den Kreis der Berliner Romantiker geriet, was ihm nicht in jeder Beziehung wohl bekommen ist. Um 1801 trieb dort nämlich auch August Wilhelm Schlegel sein Unwesen, d.h., er besuchte offenbar die Schlafzimmer verheirateter Damen (zumindest einer), zumal, wenn der Gemahl schon in einem etwas fortgeschrittenen Alter war. Manche Romantiker waren wohl so etwas wie die Hippies des aufgeklärten und poetisch ambitionierten Bürgertums.

Kurz: Schlegel hatte offenbar ein Verhältnis mit Sophie Bernhardi, geb. Tieck. Am 3. Oktober 1801 schreibt er ihr aus Jena in einem Brief:

Es ist eine grausame Sache um die Abwesenheit. Daß ich Dich doch nie wieder verlassen dürfte, wenn ich erst bei Dir zurück bin, nicht einen Tag meines Lebens; daß ich immer dieselben Zimmer mit Dir bewohnen dürfte. – Du solltest sehen, daß ich nur für Dich leben will, daß ich nach nichts anderem auf der Welt trachte.

Zehn Tage später schreibt Sophie ihrem Geliebten ein paar Zeilen aus Berlin:

Bernhardi ist einen Augenblick ausgegangen, und ich eile, Dir, mein liebster bester Wilhelm, noch einige Worte zu schreiben….. O komm, mein geliebter Freund, ich vergehe in der Sehnsucht nach Dir, glaube, daß ich Dich ewig unveränderlich liebe, aber laß Dir diesen Glauben nicht so anmerken, mein Bruder schreibt mir: Wenn ich dem Anschein trauen dürfte, so müßtest Du Schlegel sehr lieb haben. Da Bernhardi alle meine Briefe sieht, so kannst Du Dir denken, daß mir solche Bemerkungen nicht angenehm sind….. Komm, mein geliebter, mein teuerster Freund, Jugend, Freude und Leben beseelt mich bei dem Gedanken, Dich bald zu sehen. Ich höre Bernhardi, leb wohl.

Man könnte sich durchaus vorstellen, Sophie habe auf ihrer WhatsApp geschrieben. Und als Bernhardi das Zimmer betritt, schließt sie schnell die App und tut so, als surfe sie im Internet…

Jedenfalls haben es der Wilhelm und die Sophie faustdick hinter den Ohren.

Aber Bernhardi hat wohl doch Wind von der Sache bekommen, es kam zum Scheidungsprozess, in dessen Verlauf offenbar sein Freund Fichte, der Philosoph des absoluten Ichs, als Zeuge für ihn aussagte. Fichte sagte vor Gericht aus, er habe einmal, als er unerwartet in das Schlafzimmer von Bernhardis Frau getreten sei, August Wilhelm Schlegel bei ihr vorgefunden „in sonderbarster Verfassung“. Schlegel hat sich über diese Aussage offenbar maßlos geärgert und schüttet allen Sarkasmus, dessen er fähig ist, in seinem Brief an Fichte über diesen aus, z.B. so:

Was Madame betrifft, so haben Sie während der ersten Zeit Ihres Aufenthalts in Berlin ihren Umgang sehr aufgesucht, ihr großes Zutrauen und ausgezeichnete Hochachtung bewiesen. Sie kann in ihren Augen schwerlich einen anderen Fehler haben, als daß sie Ihre Schwächen und Lächerlichkeiten zu gut durchschaute, wovon sie aber niemals einen üblen Gebrauch machte, sondern gewissermaßen ihre Einsicht unter den Glauben gefangennahm, daß ein Mann, der so zuversichtlich als ein Wiederhersteller der Menschheit auftrat und auch von einigen Zeitgenossen dafür anerkannt wurde, doch einen bedeutenden innern Wert haben müsse, wenn er auch in der Nähe oft bedauernswürdig klein erschien.

Schlegel macht Fichte hier regelrecht fertig. Er spricht ihm nicht Größe ab, sondern wirft ihm Scheinheiligkeit, Doppelte Moral und Heuchelei vor. Er sagt, Sie haben sie doch geachtet, früher. Und wenn Sie in dieser Achtung einen Fehler an ihr entdeckt haben sollten, dann doch wohl nur den, dass sie Sie in Ihrer Lächerlichkeit voll durchschaut hat. Was natürlich kein Fehler an sich ist, sondern eine Stärke. Ein Beispiel vollkommen ironischen Sprechens. Und was ist mit seiner, vom Publikum durchaus anerkannten Größe? Geht man näher ran, wird Fichte ganz klein. Fichte ist vernichtet…

Schlegel führt dann noch Beispiele an, die beweisen sollen, dass er sich um die Familie des Herrn Bernhardi gekümmert hat, während der, übrigens häufig mit seinem Zechkumpanen Fichte, sein Geld versoff. Und er wirft ihm vor:

Daß Menschen wie Ihr Trinkgeselle und Sie selbst ein Verhältnis wie das, welches zwischen meiner Freundin und mir meine Verehrung und meine Bestrebungen für sie begründen, da ich bei ihr die Stelle des abwesenden Bruders, bei ihren Kindern die erledigte Vaterstelle vertrat, nicht begreifen können, daß sie es auf schnödeste mißdeuten, darf mich nicht befremden. Herr Bernhardi war freilich damals sehr weit entfernt, dergleichen zu äußern: er zitterte vor dem Gedanken, sich meinen Unwillen zuzuziehen, da er von meiner Freigebigkeit seine Ernährung erwartete.

Also Bernhardi hat schon früher alles gewusst, aber er hat geschwiegen, da er gut bezahlt wurde. Schegel hat sich den Zutritt zu Sophies Schlafzimmer erkauft. Natürlich hätte Schlegel nie in Traum daran gedacht, dass das der Fall wäre. Aber er gibt es in diesem Brief ungewollt und unbewusst zu.

Gegen Ende des Briefes schreibt der wütende Schlegel:

Ich wiederhole es, Ihre Beschuldigung gegen Madame Bernhardi und mich ist eine Lüge, eine schamlose und boshafte Lüge.

Schlegel hatte Fichte im sog. Atheismusstreit verteidigt. Dass sich Fichte nun in seine Händel mit Bernhardi eingemischt hat, war in seinen Augen wohl nicht nur unnötig, sondern boshaft. Eine solche Verhaltensweise kann man unter mafiösen Gesichtspunkten betrachten. Und Schlegel ist Mafia: Ich habe Dir geholfen, aber Du fällst mir in den Rücken. Also vernichte ich dich.

Dieser Brief ist der Versuch eines geistigen Totschlags. Klingt nicht sehr romantisch.

 

Briefe deutscher Klassiker, hier:

KLOPSTOCK, GLEIM UND SCHMIDT AN JOHANN ADOLPH SCHLEGEL

Halberstadt, 12. ]uni 1750

Briefe Das Buch

Mein liebster Schlegel, Sie dürfen nicht denken, daß Sie und Cramer itzt allein glücklich sind. Ich bin itzt bei Gleimen und Schmidten, und wir nehmen es mit Ihnen im Vergnügen auf. Das aber ist ein großer Teil unsers Glücks, daß wir zusammen an Sie schreiben. Ich habe Sie recht sehr lieb. Ich würde es Ihnen weitläufiger sagen, wenn ich nicht den andern beiden Herren auch was überlassen müßte. Ihr                                         Klopstock

Mein liebster Herr Schlegel, was wäre das für ein Mensch, der Sie kennte und nicht liebte? Ich segne den Tag, der Sie mir in Leipzig gegeben hat. Was für ein glückseliger Tag! Er hat gemacht, daß ich die Freunde, die ich bisher nur geehrt hatte, nun auch lieben darf. Er ist schuld, dafi ich Klopstock und Schmidt bei mir sehe. Ach, wenn sie doch immer bei mir sein könnten! Wenn Cramer und Schlegel doch auch bei uns wären; Cramer als Bischof des Landes, und Schlegel nur als Domherr. Ich wäre dann ihr Sekretär, und Schmidt sollte unser Choral sein. Denn er kann doch gar zu gut singen. Er wollte wohl lieber Probst im Kloster sein. Aber dazu schickt er sich nicht gut; denn kann er wohl so gut küssen als singen? Ihr         Gleim

Mein liebster Herr Schlegel. Ich bin auf Gleimen beinahe unwillig, daß er mich durch seine Beschuldigung, daß ich nicht gut küssen könnte, verhindert, Ihnen weitläufig zu schreiben, wie lieb ich Sie habe. Er hat mich recht in Hitze gebracht. Mir so an die Seele zu greifen! Mir, an dessen Lippen und Talente zum Küssen die Götter mehr Kunst verschwendet, als an der ganzen Schöpfung der Pandora: mir, gegen dessen Ruhm im Küssen gerechnet Gleim, Klopstock und alle Welt nichts als ein ignobile vulgus [unbedeutender Haufe] ist; mir, an dessen Grabe Enkel und Enkelinnen einst klagen werden: »Ach! Daß der Jüngling starb!<< Weil ich mit allen ihren Müttern Mitleid gehabt und sie alle küßte. Habe ich nun Gleimen genug widerlegt? Mein lieber Herr Schlegel, lassen Sie mich ja nicht einmal Ihr Mädchen küssen, denn sie wird nachher haben wollen, daß Sie mir es nachtun sollen.                                                                                     Schmidt

Mein liebster Schlegel. Das wüßte ich wohl, daß Schmidt mich widerlegen würde. Aber wer weiß nicht, daß die die kleinsten Helden sind, die sich ihres Muts und ihrer Siege am meisten rühmen?                  Gleim

Mein liebster Schlegel. Man kann mit hoher Miene herabsehen, wenn sich die Herren den Vorzug in der Kunst zu küssen streitig machen. — Sie wissen nichts Rechtes von der Seele, die auf die Lippen heraufsteigt. Sie kennen nur verschiedene Wendungen der Lippen und ein bißchen da herum schwärmende mechanische Freude. Dann bringen sie das Ding in ein Minnelied und brüsten sich hoch her. Sie wissen nicht, was es sei,

Ein Kuß, der jedes Ach der Seele hörbar macht.

Doch will ich ihnen, wenn sie mich recht sehr darum bitten, diese hohen Geheimnisse aufklären.                       Klopstock

Klopstock, der sich groß geträumet

Küsset langsam, wie er reimet,

Unter lauter Ach und Weh.

N. B. durch Messiaden und manche andere in der Liebe unpraktikable Empfindungen und Gedichte.

Gleim, der möchte wohl noch gehen,

Denn er küßt, ich hab’s gesehen,

Wie er reimt, ex tempore.

N. B. Klopstock wollte auch Verse machen, konnte aber keinen Reim finden. Seine Liebchen werden nun wohl ungeküßt ins Grab kommen, und wenn er einst in jungfräulicher Unschuld von den Toten erwachen soll, so brauchen seine Lippen keine Veränderung, denn es ist nichts so jungfräulich, als diese jetzo sind. Ich glaube, er erspart das Küssen bis dahin, aber post haec occasio calva [dann ist die Fortuna kahl].                                              Schmidt

Ob mich gleich Klopstock mit Schmidt in eine Brühe geworfen hat, welches mir billig recht sehr verdrießen sollte, so ärgert es mich doch, daß Schmidt mit den erhabensten Sachen, die über seine Empfindung wie über seinen Begriff sind, so umgeht, und ist mir gar nicht schmeichelhaft, daß er mir den Vorzug im Küssen überläßt. (…)                                                         Gleim

 

Klopstock, Gleim & Co: Eine anakreontische Chatgruppe des Jahres 1750

Eine Briefanalyse von Leo Läufer

Das 854-seitige Bändchen “Briefe deutscher Klassiker”, das ich vor einiger Zeit aus einer Papiertonne gefischt habe, hat es in sich. Die Briefauswahl von Gellert bis zu den Romantikern gibt einen intimen Einblick in das geistige Leben des 18. Jahrhunderts, und es lässt sich sehr gut verfolgen, wie sich die berühmten Persönlichkeiten jener Zeit quasi aneinander abarbeiten und teilweise auch um die geistige Vorherrschaft kämpfen.

Ein Brief jedoch vom 12. Juni 1750 fällt ein wenig aus der Reihe, erstens weil er von mehreren Autoren geschrieben ist und sich an zwei Empfänger richtet, zweitens weil er aus einer abwechslungsreichen Kette von Albernheiten besteht – wie ein normaler Chat etwa in den sozialen Medien unserer Zeit. Wir haben es hier also mit einer Art anakreontischer WhatsApp-Gruppe zu tun. Anakreontisch nennt man die der lateinischen Dichtung nachempfundenen Werke deutscher Dichter, die im übrigens meistens der theologischen Fakultät angehörten. Deren herausragender Kopf war Johann Wilhelm Ludwig Gleim, einer der drei Autoren der WhatsApp-Anakreontiker.

Und damit komme ich zu den Mitgliedern unserer Chatgruppe und den verbreiteten Albernheiten.

Klopstock 1750
Klopstock mit 26 Jahren

Der erste der drei Schreiber ist Friedrich Gottlieb Klopstock (ältestes von 17 Kindern einer pietistischen Familie), zum Zeitpunkt des Briefes gerade mal 26 Jahre alt, aber schon hochberühmt wegen der Veröffentlichung der ersten drei Gesänge des Messias. Entweder war Klopstock im Jahr 1750 noch Student oder aber schon Hauslehrer in Langensalza, wo er sich leidenschaftlich in ein Mädchen namens Maria-Sophia Schmidt verliebte.

Gleim

Bei dem zweiten Schreiber handelt es sich um Gleim (achtes von 12 Kindern; Vater Steuereinnehmer, Mutter Pfarrerstochter), 31 Jahre alt, der es schon zum Domsekretär des Domstifts in Halberstadt gebracht hatte und somit eine gesicherte Position innehatte. Klopstock stellt in einem ersten Statement fest, dass sie sich bei Gleim und Schmidt befinden, womit wir beim dritten Schreiber sind.

Dieser Schmidt wird nirgends mit Vornamen genannt. Es ist unwahrscheinlich, dass es sich um den Vater Schmidt von der von Klopstock mit Leidenschaft geliebten Maria-Sophia handelt. Vermutlich handelt es sich um den Vater eines gewissen Clamor

Schmidt jun.
Das ist Schmidt jun., aber das Gesicht hat was von der Art des Alten…

Eberhard Karl Schmidt, der als Domcommisarius in Halberstadt ebenfalls unter die Dichter ging und der zum Zeitpunkt des Briefes erst 4 Jahre alt war, also wohl kaum der dritte Schreiber selber. Sein Vater, Gottfried Schmidt, ist als Dichter hingegen weniger bekannt als vielmehr durch ein paar andere Besonderheiten. Er war Kämmerer und Rechnungsführer, andere nennen ihn einfach einen „Schreiber“, am Domstift in Halberstadt, wo ja auch Gleim angestellt war. Von ihm wird berichtet, dass er auf der Jagd seinen Sohn oft stundenlang irgendwo am Wege stehen ließ, wenn er auf die Pirsch ging, und dass er eimal eine Katze, die zuviel genascht hatte, von einer Mauer runterschoss, um seinem Sohn ein Exempel zu statuieren.

Schlegel

Johann Adolph Schlegel, der Hauptempfänger des Briefes vom 12. Juni 1750, war zu diesem Zeitpunkt 29 Jahre alt, hatte die berühmte Fürstenschule Pforta (Schulpforta) besucht und anschließend in Leipzig Theologie studiert. 1751 wurde er „Nachmittagsprediger“ in Schulpforta. Seine zwei jüngsten Söhne (insgesamt hatte er 10 Kinder) sind die Mitbegründer der Romantik.

Cramer

Während also Schlegel als der eine Adressat des Briefes noch in Leipzig sein dürfte (wo ja auch Klopstock studiert hatte), ist der zweite Adressat, Johann Andreas Cramer, wohl seit kurzem Oberhofprediger in Quedlinburg und soeben bei seinem Studienfreund Schlegel in Leipzig eingetroffen, nach einer Wanderung von circa 30 km, um mit ihm noch einmal die Freuden des freien Studentenlebens zu genießen. Offenbar hatten er und Schlegel Klopstock wissen lassen, dass sie es sich so richtig gutgehen ließen im guten alten Leipzig und sich so richtig vergnügten.

Und da setzt nun der gemeinsame Brief von Klopstock, Gleim und Schmidt an. Klopstock schreibt, auch er und die anderen beiden hätten ihre Freude, die indes zum größten Teil darin bestünde, dass man sie mit Freunden teile. Hier spricht ganz und gar (noch) der reine Pietist und Dichter der Empfindsamkeit (Teile! Teile!). Der eigentlich Kern des ersten Teils, also dessen, was Klopstock hier schreibt, ist jedoch ein ganz einfacher Sachverhalt: „Ich habe Sie recht lieb.“ Dieses „Ich hab‘ Dich lieb!“ ist auch die wesentliche (und dabei relativ nichtssagende ) Kernaussage der nächsten beiden Statements von Gleim und Schmidt. Klopstock kaschiert jedoch die Tatsache, dass er eigentlich nichts weiter zu sagen hat, mit dem Hinweis darauf, er müsse jetzt Schluss machen, damit auch die anderen zu Wort kommen könnten.

Gleim nun spielt auf die Trivialität der Klopstockschen Worte an, wenn er sofort schreibt, dass jeder, der Schlegel kennt, diesen liebt. Also was soll der Scheiß? Natürlich sagt er das nicht so grob, sondern flüchtet sich in einen Sarkasmus des Übertreibens. Er segnet Tage, spricht von Lieben statt Ehren, von Stiftung von Freundschaft und Zusammensein. Nur wegen Schlegel sitzen die drei jetzt zusammen. Oh könnten sie doch für alle Zeiten hier sitzen! Und nicht nur die drei, auch Cramer und Schlegel sollten diesem ewigen Bund an- und beigehören! Dass diese Bemerkungen nicht Ausdruck reiner Empfindsamkeit sind, sondern Ausbruch eines mit Empfindsamkeit tändelnden Sarkasmus wird spätestens deutlich, als es jetzt ans Verteilen von wichtigen Posten geht. Sie alle sind ja noch Studenten oder haben soeben ein frisches Amt erhalten. Die Frage einer festen Anstellung ist in ihrer Situation äußerst wichtig. Aber Gleim sieht die Sache von der humoristischen Seite und verteilt lustig Posten. Cramer, der gerade Oberhofprediger geworden ist, wird zum Bischof ernannt, Schlegel der ja noch Student ist, wird vorerst nur Domherr. Gleim selber, seines Zeichens Sekretär am Halberstadter Domstift, ernennt sich zu Schlegels Sekretär. Schmidt soll so etwas wie Kapellmeister eines Gesangsvereins werden, „Denn er kann doch gar zu gut singen.“. Und nun kommt das für die folgenden Beiträge zu diesem Brief entscheidende Leitmotiv ins Spiel. Schmidt scheint als Schürzenjäger bekannt zu sein. Denn warum sonst sollte Gleim den Verdacht äußern, dass Schmidt, wenn er die Wahl hätte, lieber eine Anstellung in einem (Nonnen-)Kloster finden würde. Aber er sagt ihm: Schuster, bleib bei deinen Leisten. Singen kannst Du ja. Aber küssen?

Ein drittes Mal wird dieses „Ich hab‘ Dich lieb!“ nun von Schmidt variiert, und er sagt, er könne dies nicht weiter ausführen, da er durch Gleims Beschuldigung, er könne nicht gut küssen, in Rage gebracht worden sei und sogleich auf diese unflätigen Bemerkungen antworten müsse. Ihm haben die Götter die Kunst des Küssens vermacht, nicht Gleim oder Klopstock. Aber es scheint, Gleim hat ins Schwarze getroffen, was durch die aufgeblähten Worte seiner Entrüstung angezeigt wird, in denen zugleich ein gewisser Stolz durchschimmert, da er sich offensichtlich für den besten Küsser der Welt hält. Zugleich ist Schmidt aber auch ein wenig verwirrt. Denn warum sollten Enkel und Enkelinnen an seinem Grab stehen und bedauern, dass „der Jüngling starb“? Und wenn er deren Mütter aus Mitleid geküsst hat, dann hätte er ja reihenweise seine Töchter oder Schwiegertöchter geküsst. Und dann kommt der Hammer. Denn in seiner Replik an Schlegel steckt doch die Drohung, dass nicht nur Gleims und Klopsltocks, sondern auch dessen Potenz mit der seinen keinesfallsl mithalten kann, also lass es erst gar nicht auf einen Versuch, auf einen Vergleich ankommen. Dahinter steckt eigentlich der Streit, wer „den größten Hammer“ hat…

Gleim antwortet in seiner Adresse an Schlegel eigentlich auf Schmidt und weist den Schreiber in seine Schranken. Wer am lautesten vom Sieg spricht, hat gewöhnlich den kleinsten, ja was denn?

Nun ergreift der edle Klopstock das Wort und wirft den beiden Streithähnen vor, von der eigentlichen Sache nichts zu verstehen. Denn wer nur vom Küssen spricht, nicht aber von den Umtrieben der Seele (beim Küssen), der spreche nur von „mechanischer Freude“, sprich erotischer Technik. Seine These: Ein Kuss macht lediglich das „Ach der Seele“ hörbar. Doch davon verstehen diese Minnesänger und Erotomanen rein gar nichts. Er fügt hinzu: Ich kann Euch das gerne mal in einer ruhigen Stunde erklären, ihr Schwachköpfe!

Der Hobby-Jäger Schmidt, der sich übrigens auf der Jagd zweimal in den Fuß geschossen hat, kann das natürlich so nicht stehen lassen und holt zu einer Erwiderung aus und bedient sich dabei sogar teilweise der gereimten Form, obwohl das nicht sein eigentliches Metier ist, da er es beruflich eher mit Rechnungen zu tun hat. Er macht sich über Klopstocks „Ach der Seele“ lustig im ersten Zweizeiler mit einer Endzeile „unter lauter Ach und Weh“ und verweist darauf, dass Homer und Milton nachempfundene Verdichtungen der Geschichte des Messias kein Aushängeschild für jemanden sein können, der sich damit brüstet, etwas von der (körperlichen) Liebe zu verstehen. Gleim kommt in dem zweiten Kurzgedicht, das Schmidt hier produziert, etwas günstiger weg. Wahrscheinlich hat er dessen bissige Bemerkung über „die kleinsten Helden“ nicht so richtig verstanden. Doch dann teilt Schmidt noch einmal so richtig gegen Klopstock aus und ruft in seine Richtung: Der hat ja vom Küssen Nullahnung!

Zuletzt meldet sich Gleim noch einmal zu Wort. Er hat sehr wohl bemerkt, dass Klopstock vom hohen Ross dichterischer Erhabenheit aus das Reden über Küssen beurteilt und auch verurteilt hat. Er möchte nun mit dem hitzköpfigen und offenbar auch etwas dummen Schmidt nicht in „eine Brühe“ geworfen werden. Und wenn der Eindruck entstanden sein sollte, dass er im Küssen im Vergleich zu Klopstock der bessere sei, dann sei ihm allein dieser Vergleich schon peinlich, da die Frage: „Wer küsst besser?“ an sich schon desavouierend sei. Auf dieser Ebene will er gar nicht mit wem auch immer verglichen werden.

Man hätte gerne gewusst, wie Schlegel und Cramer auf diese Kussgrüße geantwortet haben. Ich wüsste aber, welche Icons heutzutage in einer entsprechenden Replik auftauchen würden…

 

30

Thomas Mann: Der Zauberberg. Berlin, Fischer Verlag, 1924 (meine Ausgabe: 1964)

Thomas Mann nennt sein Buch Der Zauberberg“ein Dokument der europäischen Seelenverfassung und geistigen Problematik im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts” („Einführung in den Zauberberg für Studenten der Universität Princeton“ im Mai 1939). Ersteres wird vor allem exemplifiziert anhand der nuancenreichen Darstellung dessen, was der Protagonist, Hans Castorp, fühlt und denkt. Die geistige Situation dieser Zeit spiegelt sich wider in den beiden herausragenden Figuren Naphta und Lodovico Settembrini. Naphta ist „klein“, „hässlich“, spöttisch“, kleidet sich aufgrund seines finanziell abgesicherten „Backgrounds“ (Er ist Jesuit.) vorzüglich. Dieser kleine, hässliche Totalitarist macht sich über die humanistischen, demokratischen Ideen des Herrn Settembrini lustig. Und manches von dem, was da zur Sprache kommt, mutet verdammt modern an, wie gehobener Stammtisch des 21. Jahrhunderts:

Settembrini erklärte, „die europäische Gesamtatmosphäre sei von Friedensgedanken, von Abrüstungsplänen erfüllt. Die demokratische Idee marschiere… Die Türkei als National- und Verfassungsstaat, – welch ein der Triumph der Menschlichkeit“. Doch Naphta spottet: „“Liberalisierung des Islam“… Vorzüglich. Der aufgeklärte Fanatismus, sehr gut.“

Ein anderes Beispiel für die Mannsche Weitsichtigkeit könnte man in dem Finale der Auseinandersetzung der beiden erkennen. Es kommt bekanntlich zum Duell mit Pistolen, der demokratische Humanist schießt in die Luft, verweigert also diese Art der Auseinandersetzung, worauf der kleine, hässliche Naphta keinen anderen Ausweg sieht, als sich selber zu erschießen. Demokratie besiegt schließlich den Totalitarismus, also sie bleibt zumindest am Leben… (Obgleich sie heute offenbar wieder etwas mehr hinter ihre Maske blicken lässt, und da lauert ein ins Globale, also ins Grenzenlose erweiterter Kapitalismus… Naphta hätte seinen Spass!)

Thomas Mann weist in der o.g. Einführung auf Folgendes hin:

„Wer … mit dem >Zauberberg< … zu Ende gekommen ist, dem rate ich, ihn noch einmal zu lesen, denn seine besondere Machart, sein Charakter als Komposition bringt es mit sich, dass das Vergnügen des Lesers sich beim zweiten Mal erhöhen und vertiefen wird, – wie man ja auch Musik schon kennen muss, um sie richtig zu genießen… Was mich betrifft, muss ich mich zu den Musikern unter den Dichtern rechnen. Der Roman war mir immer eine Symphonie, ein Werk der Kontrapunktik, ein Themengewebe, worin die Ideen die Rolle musikalischer Motive spielen.“

Ich habe diesen Roman nun zum dritten Mal gelesen. Und ich möchte auf zwei Dinge, also Erfahrungen hinweisen. In der Tat schafft die repetierende Kennzeichnung besonderer Personenmerkmale einen hohen Vertrautheitsgrad mit der erzählten Wirklichkeit. Denn fast jeder Person sind Merkmale zugeordnet, die ihr eigen sind, und diese Merkmal werden jedesmal erwähnt, wenn die Person in die erzählte Erscheinung tritt. Das hat aber nicht nur eine ästhetisch-musikalische Bedeutung, sondern ist von immenser psychologischer Aussagekraft. Beispiel: Hans Castorps „lässige“ Russin, Frau Chauchat, in die er verliebt ist, schlägt beim Betreten des Raumes laut die Tür hinter sich zu. Und das wird immer erwähnt, wenn sie den Saal betritt. Nachdem sie abgereist ist, sitzt nun Hans Castorp vor jeder Mahlzeit an seinem Tisch und wartet auf dieses Türenschlagen, was aber nicht mehr erfolgt. Liebe materialisiert sich oft an den kleinsten, an sich unbedeutendsten Dingen. Das macht den Liebenden manchmal leiden wie einen Hund.

Die zweite Erfahrung betrifft eine kleine Handbewegung, ein leichtes Abtupfen des äußeren Augenwinkels mit der Kuppe des kleinen Fingers der rechten Hand. Davon wird berichtet, als Settembrini sich auf dem Bahnsteig von Hans Castorp verabschiedet, als dieser die Bergwelt für immer verlässt. Und diese Geste erwähnt, also „macht“ der auktoriale Erzähler, als er sich im Schlusskapitel von Hans Castorp verabschiedet. Diese Geste, also dieses Motiv oder „Thema“ verbindet die erzählende Welt mit der erzählten und bezieht außerdem augenzwinkernd den Leser mit ein, der nun ebenfalls die Fingerkuppe seines kleinen Fingers der rechten Hand an den rechten Augenwinkel hinführt, da er nun ebenfalls Hans Castorp Lebewohl sagen muss. Wobei der Leser gegenüber dem Autor einen gewissen Vorteil haben dürfte. Für den Autor ist nun Schluss, der Leser kann das Buch immerhin erneut lesen…

MeineReflexe und Reflexionenzu diesem Klassiker der Weltliteratur sind etwas banal? Mag sein. Aber ich gestehe, dass mich z.B. die „endlosen“ Auseinandersetzungen zwischen Naphta und Settembrini nicht mehr so sonderlich mitgerissen haben, erstens, weil ich diese „Problematiken“ in meinem Philosophiestudium und in meiner privaten Beschäftigung mit solchen Dingen hinreichend gepflegt habe, zweitens, weil ich manchmal den Verdacht hatte, Thomas Mann mache sich ungeheuer lustig über solche Auseinandersetzungen und lasse die Protagonisten blühenden Unsinn vortragen.

Und anyway. Der Roman handelt im Grunde von einem „simplen“ jungen Mann, der sich in Davos in eine „lässige“ Russin verliebt, die jedoch am Tag nach seinem Liebesgeständnis abreist mit dem „Versprechen“, irgendwann mal wiederzukommen. Also kultiviert er seine Krankheit, um im Sanatorium verbleiben zu können, bis sie zurückkehrt. Dann kehrt sie zurück, aber mit einem älteren Lover, der sie aushält. Als der im Sanatorium stirbt, reist sie wieder ab. Was bleibt da Hans Castorp anderes, als in den Krieg zu ziehen und womöglich den Tod zu suchen, und er stammelt stürzend in der Schlacht im Feld (1. Weltkrieg):

Ich schnitt in seine Rinde

So manches liebe Wort –

„Clawdia“ (Chauchat) und „Hans“ (Castorp). Geht‘s noch banaler?

Die Zeilen aus dem Lindenbaumsind oft und dabei auch sehr tiefsinnig interpretiert worden, Stichworte „Todessehnsucht“, „Nachklang der Romantik“, „Urdeutsch“, etc. Man kann sie jedoch auch auf der Ebene verstehen, die ich gewählt habe. Und ich bin sicher, dass die Mannsche Ironie diese auch mitbedacht und also auch mitbedient hat.

Denn Hans Castorp war schließlich ein etwas einfacher, ganz normaler Mensch…

Die Geschichte Hans Castorps, die wir erzählen wollen – nicht um seinetwillen (denn der Leser wird einen einfachen, wenn auch ansprechenden jungen Menschen in ihm kennenlernen), sondern um der Geschichte willen, die uns in hohem Grade erzählenswert scheint (wobei zu Hans Castorps Gunsten denn doch erinnert werden sollte, das es seineGeschichte ist und dass nicht jedem jede Geschichte passiert): diese Geschichte ist sehr lange her, sie ist sozusagen schon ganz mit historischem Edelrost überzogen und unbedingt in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit vorzutragen.

 

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Georg Friedrich Händel: Xerxes. Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf 2019

Die erste Hälfte von Xerxes habe ich vom dritten Rang aus gesehen. In der Pause habe ich das Handtuch geworfen, da ich dauernd diese Messingstange im Gesichtsfeld hatte, die verhindern soll, dass Besucher sich vom 3. Rang aus lauter Verzweiflung über ihre miese finanzielle Lage ins Parkett stürzen. Ich hatte dann für eine weiter Vorstellung Karten im Orchesterbereich bestellt, in der ich allerdings allein angesagt war, da meine beiden Partner wegen schlechten Wetters absagten. Ich bin also von Saarbrücken alleine angereist, wobei ich die Zeit so eingerichtet habe, dass ich gerade recht zur Pause zur Oper gelangte. Habe ein Glas Wein getrunken und bin beim zweiten Klingelzeichen an meine Plätze gegangen, die, wie ich vermutet hatte, bereits besetzt waren, alle drei, 21, 22 und 23. Habe dem Herrn und den beiden Damen meine Tickets gezeigt und ihnen mitgeteilt, dass ich eigentlich ganz gern dort gemütlich Platz nehmen möchte, ganz gemütlich für 300 €. Die hatten auch Verständnis und sind auf ihre billigen Ränge abgezogen. Wow! Ich hatte diesmal eine ganz andere Perspektive als vor zwei Wochen im dritten Rang, wenn auch erste Reihe dort. Aber ich hatte ja immer dieses Messingrohr im Blick. Im besten Orchestersitz erfuhr ich dann, dass offenbar eine ganze Reihe von Besuchern dort sitzen, die Bekannte, Freunde oder gar Verwandte im Orchester haben. Da gab es bis zum Erscheinen des Dirigenten ein reges Blicke Tauschen, Begrüßen und auch Scherzen. Die zweite Hälfte der Oper hat mir von Anfang an bedeutend besser gefallen, da ich die Mimik und auch die Gestik viel deutlicher, ja erst überhaupt sehen konnte. Alle Szenen waren durchdrungen von einer unbändigen Spiellust, auch vom Spiel mit dem Spiel, vom Spiel mit dem Publikum, vom Spiel mit den Musikern, dem Dirigenten, ja sogar der Souffleuse. Einige Cellisten, die eine kurze Weile nichts zu tun hatten, drehten sich um und wendeten den Blick zur Bühne, um „die Oper“, die sich in ihrem Rücken abspielte (aber wozu sie ja die Musik machten, also spielte sich eigentlich alles im Orchestergraben, also bei ihnen, ab…), zu verfolgen und auch die zweite Geigerin, eine zierliche Chinesin mit stark betonten Backenknochen und einem nach unten leicht zugespitzten Gesicht, das Haar flach hochgewunden, die Brüste betont unscheinbar, also diese zierliche zweite Geige schaute sich selbst im wilden Spiel und bei bewegtem Oberkörper immer wieder einmal kurz nach der Bühne um. Des Dirigenten Silberhaar hing glatt am Kopf, wölbte sich allerdings in der unteren Länge föhngewellt in einem leichten Bogen nach außen. Kennzeichnend für seinen Dirigierstil: Die leicht gewölbte, dabei aber durchaus ausgestreckte, mit der Handinnenfläche nach oben gewandte linke Hand (den Daumen leicht abgewinkelt), die in den linken Orchestergraben wies, während die rechte Hand am Band des ihm zugehörigen Armes den Rhythmus für die Musiker vorgab. Links der Bassist, dessen Glatze im Streulicht der Bühne mächtig glänzte, er spielte nicht nur den Bass, sondern begleitete Arien und Zwischenspiele auch mimisch, als stehe er mitten auf den Bühne: Er grinste, lachte sogar unverhohlen, sprutzte die Lippen geschlossen nach vorn und neigte dann wieder den Kopf liebevoll Richtung Kragen seines Instrumentes, wobei „Kragen“ natürlich hier eine völlig unpassende Bezeichnung ist, sagt man „Hals“? Hinter der ersten Geige saß eine weitere Geige, direkt vor mir, fast in Reichweite. Eine ältere Dame mit Doppelkinn, der Gesichtsausdruck bar jeden Humors. So habe ich mir früher einmal eine typische Geigerin vorgestellt. Aber diese war schon etwas über das Alter hinaus, wo man sich überhaupt etwas vorstellt. Also habe ich sie in meinen weiteren Betrachtungen in Ruhe gelassen. Sie kam einfach für mich nicht in Betracht. Im Gegensatz zu der zweiten Geige, die in ihren schwungvollen Bewegungen äußerst geile Chinesin. Die ich hinterher eigentlich ganz gern noch auf ein Glas Wein eingeladen hätte. Leider kam Blickkontakt nicht zustande, auch nicht, nachdem der lange Applaus verklungen war und man sich in den Orchestersitzen erhob. Während sie sich freudig mit Kolleginnen umarmte, aus Freude offenbar über diesen wieder einmal vollkommen gelungenen musikalischen Abend. Ich habe an diesem Abend ganz nah bei den Musikern gesessen und gedacht: Alles Durchschnittsgesichter. Aber die machen doch alle so eine tolle Musik, alles Künstler. Ich hatte mir wohl immer schon vorgestellt, Musiker müssten so aussehen wie dieser silberhaarige Dirigent mit der geföhnten Frisur.

 

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Sissi und Annette

Von Sissi und Annette. Zwei biografische Romane: 1. Nicole Avril, Sissi. Das legendäre Leben einer Kaiserin, München 1995, 2. Karen Duve, Fräulein Nettes kurzer Sommer, Berlin 2018

Annette von Droste-Hülshoff war eine Nervensäge.“ So beginnt das erste Kapitel von Karen Duves spannendem Roman, und Nicole Avrils biografischer Roman hätte mit eben diesen Worten eingeleitet werden können, wenn man nur „Annette“ gegen die „Sissi“ austauschte. Schaut man sich die in diesen Weihnachtstagen wieder gesetzten Filme über die Sissi aus den Fünfziger Jahren an mit der jungen Romy Schneider, dann käme man kaum auf die Idee, dass es da irgendeine Vergleichsbasis gibt. Liest man jedoch die beiden Bücher über Sissi und Nette, stößt man bei aller Verschiedenheit auf Gemeinsamkeiten, die diesen etwa zwei Generationen voneinander entfernten Frauen eigen sind. Auf diese These werde ich am Ende dieser Reflexe und Reflexionen zu sprechen kommen.

In den Fünfziger Jahren war „Sissi“ durch den genau so benannten Film in das Bewusstsein einer deutschen Öffentlichkeit gekommen, die sich in den anstrengenden Jahren des Wirtschaftswunders nach ein wenig Erholung sehnte. An der Romanze einer schönen bayrischen Prinzessin, die es zur Kaiserin von Österreich brachte, konnte man sich geradezu berauschen. Seit den Sechziger Jahren schwand das Interesse an der Geschichte der österreichischen Monarchie, zumal es in Europa und anderswo immer wieder akute Royals gab, deren Geschichten in der sog. Regenbogenpresse immer wieder neu gemischt wurden. Nicole Avril, die sich auf der drittletzten Seite ihres Romans als Enkelin des Erzherzogs Franz Ferdinand, der 1914 in Sarajevo ermordet wurde, zu erkennen gibt, zeichnet das Bild einer sehr außergewöhnlichen Frau, die nicht nur in ihrer Rolle als Kaiserin „aus der Rolle fiel“, sondern insgesamt auch dem, was eine Frau in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts „zu sein hatte“, in vielem, ja fast allem widersprach. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass sie wohl eine der interessantesten Persönlichkeiten ihrer Zeit in Europa war. (Monica Kurzel-Runtscheiner hat eine Reihe von Filmen im Auftrag des Kunsthistorischen Museums in Wien im Mai 2018 auf YouTube eingestellt: Kaiserin Elisabeth (Sisi) – Die Lady Diana des 19. Jahrhunderts. Der (schlüssig durchgeführte) Vergleich mit Lady Diana hilft natürlich, Interesse an der historischen Gestalt zu wecken. Wenn man nun Abstriche macht am positiven Bild der Kaiserin Elisabeth, da man dem Buch und den Filmen persönliche oder werbetechnische Einflüsse nicht absprechen kann, so bleibt am Ende immer noch ein hinreichend hoher Restverdacht, dass es sich bei Sissi um einen ganz außergewöhnlichen Menschen gehandelt haben muss. Was für eine geile Frau war das denn?!

Sissi sagte, als ihre Mutter, eine Schwester der Mutter von Kaiser Franz Joseph, ihr den Heiratsantrag übermittelte, mit ihren 15 Jahren: „Ja, ich hab‘ ihn lieb. Aber wenn er nur nicht der Kaiser wäre.“ Dass er der Kaiser war, darum hat sie sich ihn ihrem Leben oft wenig gekümmert. Sie führte einen beschwerlichen Kampf gegen die Wiener Hofgesellschaft, stellte ihrem Mann Ultimaten, die auch erfüllt wurden, sie schrieb Gedichte im Geiste Heinrich Heines, sie ließ sich in der militärischen Reitschule Englands ausbilden (obwohl sie schon von Kindheit an eine ausgezeichnete Reiterin war) und wurde die Person ihrer Zeit, an deren Reitkünste kaum jemand heranreichte. Sie reiste viel, „in Kur“, nahm entgegen den Gepflogenheiten oft ihre Kinder mit und hielt sich mehr im Ausland auf als in Österreich. Auf hoher See setzte sie sich auf Deck Stürmen aus. Des Nachts vor allem, weil sie in späteren Jahren niemandem gern begegnete, veranstaltete sie Gewaltmärsche, heute hätte sie stundenlang gejoggt. Die Menschen liebten sie. Und damit machte sie nicht unerheblich Politik (oder ließ geschehen, dass man es mit ihr machte), vor allem in Ungarn. Am Ende wurde sie in Genf ziemlich willkürlich von einem Anarchisten ermordet.

Nicole Avril hat das meiste zusammengetragen mit Hilfe vorhandener Darstellungen, von Tagebüchern und Briefen. Nach meinem Geschmack ist ihr Stil wenig anspruchsvoll, vielleicht kann man ihn auch einfach nüchtern und sachlich nennen. Der Leser wird also vor allem durch die dargestellten Fakten fasziniert von dieser Frau.

In den Siebziger Jahren habe ich bei einem Besuch am Bodensee (Ich war mit dem Motorrad unterwegs in die italienischen Alpen und dichtete damals zu einem Bild von mir, das mich neben dem Motorrad auf einem Mäuerchen erkennbar macht: Bei einer Rast am Bodensee, // da tat‘n ihm schon die Hoden weh.) auch das ehemals bischöfliche Lusthaus, das von Annette von Droste-Hülshoff 1843 als „Rückzugsgebiet“ erworben worden war, angesteuert. Ich kannte die Schriftstellerin damals vor allem durch die schulische Pflichtlektüre Die Judenbuche, in meinem Germanistikstudium war sie mir in jenen Jahren nicht begegnet. Uns interessierte damals eher die Lyrik der Befreiungskriege 1815 und die politische Dichtung des Vormärz.

Die Handlung des Romans von Karen Duve spielt in der Zeit von 1817 bis 1821. Natürlich steht Annette immer irgendwie im Mittelpunkt, ohne dass sie immer der Mittelpunkt wäre auf dem Bökerhof in Westfalen, in Göttingen oder Kassel, den Orten, in denen zwar die Romantik zu Hause war, in denen es aber keineswegs immer romantisch zuging. Die Brüder Grimm und auch deren malender Bruder spielen eine große Rolle, auch Arndt, Straube, Hoffmann (der irgendwann begann, sich „von Fallersleben“ zu nennen), Heinrich Heine und noch ein paar mehr. Viele sind adelig, es gibt aber auch Bürgerliche. Der Adel will seine Privilegien erhalten, den adligen Grundbesitzern geht es gut, wenn auch nicht mehr so gut, zum einen wegen Napoleon, zum andern wegen eines ganz bösen Wetterjahres, in dem ein großer Teil der Ernte ausfiel. „Das Volk“ litt sehr und grub seine Toten aus, um etwas zu essen zu haben.

Man sammelte viel. Märchen und Volkslieder. Ein Cousin von Annette hat große Pläne und möchte die Brüder Grimm und Achim von Arnim übertreffen. Viele Adlige, die in literarischen Zirkeln aktiv sind, also auch produktiv sind, nehmen irgendwann dann doch eine Stelle im Staatsdienst (d.h. also bei Hofe) an oder übernehmen die Verwaltung der väterlichen fürstlichen Güter. Annette ist mitten unter ihnen. Sie dichtet, vor allem geistliche Lieder. Dass sie dichtet, lässt man ihr noch durchgehen, aber eine Veröffentlichung kommt für eine Frau nicht in Frage. Sie verliebt sich in einen Dichter, und der Dichter in sie. Doch der Dichter ist bürgerlich, und das geht gar nicht. Der Adlige August von Arnswaldt intrigiert auf eine ganz fiese Art und Weise, wahrscheinlich verfolgt er lüsterne eigene Ziele. Aber auch auf andere Männer hat Annette eine gewisse Wirkung, was als solches bei ihrer oft gar nicht so lieben, aber sehr zahlreichen Verwandtschaft Empörung auslöst. Man wundert sich, wie dieses fast schwindsüchtige, Mineralien sammelnde Wesen unter Männern derart sein Unwesen treiben kann. Alles natürlich im Rahmen jener Zeit, in der schon das Auflegen der Hand auf den Arm „des anderen“ nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch aufs Schärfste verurteilt wurde.

Karen Duve zeichnete mit liebevoller Ironie ein Bild jener Jahre, in denen die Romantik zwar noch da war, es aber auch schon absehbar war, dass ihr Ende auf Grund der diffusen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse nicht aufzuhalten sei. Und sie zeichnet das Bild einer Frau, die sich zwar am Ende nicht lautstark durchsetzt, in ihrer Beharrlichkeit aber den größten Respekt – auch beim heutigen Leser – verdient.

Ich möchte mit einer kurzen, aber schlüssigen Bemerkung nun auf meine Ausgangsthese zurückkommen. Beide Frauen hatten es in ihrer Zeit nicht leicht. Die eine wirkte auf der weltpolitischen Bühne, die andere im eher beschaulichen Westfalen. Die eine hat es zu einem Film „Sissi“ geschafft, sozusagen, die andere hingegen „nur“ in die Schulbücher. Doch beiden eignet eine Eigenschaft, die sie im Olymp des kulturgeschichtlichen Welterbes zusammenführt: Ihre

Unbeirrbarkeit

Sie wurden nicht irre in einer Zeit, in der man leicht verrückt werden konnte. Wie heute wieder. Gibt es schon eine Biografie über Angela Merkel? Oder Kamp, Kramp… wie heißt das Gretchen?

Keine Gretchenfrage, das…

 

27

Eva Strittmatter: Sämtliche Gedichte (Erstausgabe 2006 bei Aufbau) und Stefanie Sargnagel: Statusmeldungen (2017 bei Rowohlt)

Eva Strittmatter (1930 – 2011), dritte Ehefrau des in der DDR recht bekannten und mehrfach von staatlicher Seite ausgezeichneten Schriftstellers Erwin Strittmatter („Der Laden“ (Film) erhielt 1998 den Adolf-Grimme-Preis und den deutschen Fernsehpreis), und Stefanie Sargnagel (*1986 in Wien), die laut Rowohlt-Verlag „aus dem Internet kommt“ und durch Statusmeldungen bei Facebook populär wurde, haben auf den ersten Blick sehr wenig, wenn überhaupt etwas gemeinsam. Klar, beide sind Frauen. Aber Eva definiert sich als Frau des bekannten Erwin Strittmatter, Sargnagel ist so etwas wie ein feministisch-virtuelles Rumpelstielzchen. Also gehören sie als Frauen dennoch einer ganz verschiedenen Art an.

Und jetzt wollen Sie von mir wissen, warum ich zwei Werke dieser beiden Frauen, die Bücher veröffentlicht haben und es im Fall von Sargnagel auch hoffentlich weiterhin tun werden, in einen Kurzbericht hineinbringe, so als hätten sie etwas gemeinsam oder zumindest etwas Vergleichbares.

Vergessen Sie bitte nicht, die Rubrik, in der ich hier schreibe, heißt Reflexe und Reflexionen. Was folgt, ist in diesem Fall eher Reflex als Reflexion.

Ich ging also dieser Tage durchs Haus und sammelte liegengebliebene Bücher ein, um wieder etwas Ordnung zu schaffen. Dabei stieß ich auf die beiden Bücher von Strittmatter und Sargnagel, die beide auf der Fensterbank meines Klos lagen, schon monatelang. Unterdrücken Sie nun bitte den Impuls (oder Reflex) anzunehmem, sie seien dort hingelangt, weil ich die beiden Bücher als „Klolektüre“ abgestraft hätte. So einfach ist die Sache nicht.

Man kann sich nicht mit einem Band sämtlicher Gedichte einer Schriftstellerin in einen Sessel setzen und damit mehrere Abende verbringen. Und es fällt ebenso schwer, fast 300 Seiten voller „Statusmeldungen“, die zu einem großen Teil aus disparaten Tagebucheintragungen bestehen, „am Stück“ zu lesen. So landeten die beiden Bände da, wo ich sie vor ein paar Tagen eingesammelt habe, nämlich an einem Ort, den man zwar täglich, aber eben nur jeweils für kurze Zeit aufsucht.

Aber diese Feststellungen sind nicht ganz lauter. Denn ich habe sie doch irgendwie ins Klo verbannt, aber aus signifikant unterschiedlichen Gründen.

Bei der Lektüre einiger Strittmatter-Gedichte hatte ich das Gefühl bekommen, es handele sich bei ihren Sprachgebilden um den Ausdruck „schwerer“ Gedanken in der Verkleidung leichtfüßiger Poesie, also Reime. Strittmatter beobachtet, kommentiert, seufzt und jubelt in gereimten Versen. Das hat aber nach meinem Geschmack mit wahrer Poesie nichts zu tun. Die Sprache wird vergewaltigt, um seelische Schwaden des lyrischen Ichs in „kunstvolles“ Gewölk zu verwandeln. Das lässt sich dann sogar als Buch verkaufen. Viele Leute lesen das, halten die Reimform allein schon für Kunst und denken oft: Ja, ja, das Gefühl kenne ich auch. Und sie fühlen sich tatsächlich von der Dichterin angesprochen. – Ich nicht. Aber da ich ein Buch noch nie einfach weggeworfen habe, las ich immer wieder einzelne sog. Gedichte auf dem Klo, einerseits in der Hoffnung, doch noch ein Juwel zu finden, andererseits mit dem Vergnügen des sarkastischen Voyeurs, der sich auch an einer misslungen Bühnenshow noch ergötzen kann.

DIE LIEBE IST IN MIR ZENTRIERT.

Wie Antimaterie hab ich sie verdichtet
Zu schwarzem Gestein.
In mir ist ein Weltall aus Liebe errichtet.
Unsichtbar wird es bleiben und sein.
Was abstrahlt von der verdichteten Liebe,
Kreist nur in meinem Fleisch und Gebein,
Dringt nicht nach außen, will ihn nicht erreichen.
Er braucht mir nicht mehr auszuweichen
Aus Furcht, von mir geliebt zu sein.

Der Grundgedanke ist klar: Das lyrische Ich liebt einen Menschen, der jedoch seine Liebe nicht erwidern kann oder will. Darauf hin beschließt es, die Gefühle für sich zu behalten, um weiterhin einen unbeschwerten Umgang mit diesem Menschen pflegen zu können. Aber was macht die Autorin? Sie beschwört Antimaterie, schwarzes Gestein, ihr Fleisch und Gebein. Es soll etwas nicht bleiben, sondern auch sein. Der Zwang zum Reim führt teilweise zu pathetischer Wortwahl und ebenso pathetischen Redundanzen. Manche Texte erinnern mich an die von Friederike Kempner (1836 – 1904), die in bewegten Worten z.B. die Angst um das lebendige Begrabenwerden „lyrisch“ beschrieben hat:

Stürmisch ist die Nacht,
Kind im Grab erwacht,
Seine schwache Kraft

Es zusammenrafft.

Bei Stefanie Sargnagel liegt der Fall anders. Ihre „Statusmeldungen“ lesen sich teilweise sehr unterhaltsam, enthalten auch sehr schöne sprachliche Volten und sind offenbar als eine Art Tagebuch im Digitalen Zeitalter angelegt. Ihre Arbeit in einem Callcenter ist dabei ebenso verarbeitet wie ihre Erfahrungen auf Lesereisen oder als Stadtschreiberin in Klagenfurt. Manche Einträge sind voll banal (14.12.2015 Ich habe heute gekündigt), andere ziemlich lang in einem Dialekt, den die meisten Leser wohl nicht kennen. Man kann Gefallen an der phonetischen Umsetzung finden, was aber nach ein paar Wiederholungen ziemlich langweilig wird. Manches ist morphologisch schlicht unverständlich, so dass man auf jeden Fall auf das Glossar am Ende des Buches zurückgreift, bis das dann mühsam und also wieder langweilig wird oder unterbleibt. Viele Einträge, also Statusmeldungen, handeln von ihren Reisen durch Europa. Alles von banal bis witzig. Aber für meinen Geschmack fehlt dem Buch ein inhaltlicher Zusammenhalt und auch Tiefe. Von Facebook habe ich mich weitgehend verabschiedet. Sargnagels Buch landete schließlich auf dem Klo. Was ja keine pauschale Abwertung ist, da man vieles, sitzungsgerecht verteilt, bei Drücken und Pupsen ganz gut verdauen kann. Man kommt schließlich ins Grübeln, wenn man anfängt darüber nachzudenken, wie sie zu ihrem verlegerischen Ritterschlag gekommen ist. Einerseits könnte man also Selbstzweifel bekommen („Was sehe ich nicht, was Rowohlt oder auch der SPIEGEL sehen?“). Andererseits könnte es ja auch sein, dass Rowohlt sich zu den digitalen Zugvögeln gesellt (oder sich einen solchen in den Zoo holt) und ich schlicht auf Grund meines Alters da schon längst den Zug verpasst habe…

 

26

Rüdiger Safranski: Das Böse oder Das Drama der Freiheit UND Michael Donhauser: Schönste Lieder – Reflexe zu Fragen der ästhetischen Distanzierung

Die Kunst der ästhetischen Distanzierung im Alltag

Vor ein paar Tagen haben wir einer rumänischen Familie geholfen, eine alte Waschmaschine mit dem schönen Namen “Constructa” die Kellertreppe runter zu schaffen in den für sie vorgesehenen Waschraum. Dabei entglitt die schwere Maschine jedem Haltungsversuch und donnerte ein paar Stufen die Steintreppe hinunter. Meine chinesische Frau, eine Arbeitskollegin des rumänischen Ehepaars, erzählte mir nun, dass offenbar die Trommel der Waschmaschine Schaden genommen hatte, so dass es bei der ersten Ingebrauchnahme zu einem sehr lauten Scheppern (“Drrngda, Drrngda, Drrngda!”) gekommen war, was sofort vier Hausbewohner veranlasste, im Keller nach dem Rechten zu sehen. So standen dann sechs Personen gemischter Nationalität um eine alte deutsche Constructa und wunderten sich, dass die so laute Geräusche von sich geben konnte. Der Rumäne hat den Schaden inzwischen beseitigt, und seitdem hat die internationale Verständigung im Haus wieder abgenommen.

Rüdiger Safranski befasst sich im fünften Kapitel seines Buches Das Böse oder das Drama der Freiheitmit einigen Aspekten der Philosophie Schoperhauers und schreibt resümierend:

Wollte man Schopenhauers Philosophie insgesamt charakterisieren, müßte man sie als eine Metaphysik des ästhetischen Abstandnehmens bezeichnen. Im Unterschied zur traditionellen Metaphysik liegt ihr erlösender Aspekt nicht im Gehalt….sondern im Akt des Denkens selbst. Es ist ein ästhetischer Weltabstand, wobei >ästhetisch< heißt: auf die Welt hinblicken und dabei >>schlechterdings nicht tätig verflochten sein<<. Dieses ästhetische Abstandnehmen eröffnet einen Ort der Transzendenz, der leer bleiben muss. Kein Wollen, kein Sollen, nur noch ein Sein, das ganz zum Sehen geworden ist, zum >>Weltauge<<.”

Ich bin überzeugt, dass dies genau die (ironisch-distanzierte) Haltung wiedergibt, die den Schilderungen meiner Frau (den des Malheurs mit der Waschmaschine, aber auch den vieler anderer Seh-Erlebnisse, an denen sie mich teilhaben lässt) zugrunde liegt. Ein wahrhaft schlitzohriges Weltauge, meine Frau…

Die Kunst der ästhetischen Distanzierung von der Kunst

Es walsoscho. Soscho unwalwa.
Un walsoscho. Ichtlan unsasch
sah unsan, wan waich, was
da eis, leiswa. Ich weite, sasch un sasch,
es wa un wei un winnerzeit das Fell
Unna.

Ich war eingeschlafen, ein kleines Lyrikbädchen von Michael Donhauser (Schönste Lieder) hielt ich jedoch noch in der Hand, aufgeschlagen auf Seite 11. Da hörte ich, wie die oben wiedergegebenen Verse rezitiert wurden, mit Pathos, mit Leidenschaft, mit großartiger Modulation in der Stimmhöhe. Als der letzte Laut verklungen war, öffnete ich die Augen und las nach:

Es war so schön, so schön und war es, war,
und war so schön, ich trank und sah, ach
sah und sanft, sanft wankte, was ich, was
da leise, leise war, ich weinte, sah, und sah,
es war und weit, und winterweit das Feld
und nah.

In dem im Traum vernommenen Singsang  hatte kein Wollen gelegen, war kein Sollen versteckt. Und ich fühlte mich in einen winterweiten Ort der Transzendenz versetzt, in dem es nur ein Sein gibt, das ganz zum Hören wird. Für einen ekstatischen Moment bin ich zum Weltohr geworden…

Ich war mir nah. Ganz nah.

Und dann habe ich das Gedicht selber laut gelesen. Und ich versichere: Es war so schön, so schön!

 

25

Wolfram Eilenberger: Zeit der Zauberer. Das Große Jahrzehnt der Philosophie 1919 – 1929 (2018)

Wolfram Eilenberger führt vier Philosophen vor (durchaus auch im wahren Wortsinn), die zunächst relativ willkürlich ausgewählt scheinen, die jedoch in dieser Darstellung mehr Ähnlichkeiten aufweisen, als jedem von ihnen eigentlich lieb sein könnte. Während z.B. Ludwig Wittgenstein in einer österreichischen Dorfschule tote Hasen tagelang kocht, um anschließend mit seinen Schülern den Knochenbau betrachten zu können, lässt sich Ernst Cassirer als neukantianischer König feiern. Und während der junge Martin Heidegger verbissen an seiner akademischen Karriere bastelt, erst in Freiburg, dann in Marburg, am Schluss wieder in Freiburg, folgen wir etwas atemlos den reisemäßigen und denkerischen Abenteuern des Walter Benjamin auf seinen oft vom Hunger begleiteten Reisen durch Europa. Cassirer war offenbar ein Mann ohne Tadel, Wittgenstein wird nachgesagt, er habe sich in anrüchigen Schwulenszenen „im Park“ bewegt, Benjamin und Heidegger pflegten rege außereheliche Beziehungen. Voilá, da hätten wir doch immerhin schon eine winzige Überschneidung! Aber im Ernst: Der Leser wird mitgerisssen nicht nur von den menschlichen, allzumenschlichen Details aus den privaten Lebensverhältnissen der vier Philosophen, sondern vor allem an den zahlreichen Stellen des Buches, an denen aufgezeigt werden soll, dass die vier „Zauberer“ bei aller Verschiedenheit doch ganz wesentlich damit befasst sind, dem „Zeitgeist“ auf die Schliche zu kommen, und dieser Zeitgeist erweist sich am Ende des beschriebenen Jahrzehnts zumindest noch als ziemlich homogen, als Geist der ZEIT nämlich! Erst auf den allerletzten zwei Seiten des Buches bricht diese Welt auseinander, wenn Eilenberger andeutet, was nach diesem „großen Jahrzehnt“ mit den Zauberern geschah: Für Heidegger wurde der Führer zur einzigen deutschen Wirklichkeit, was bekanntlich dazu führte, dass Ernst Cassirer dieses Deutschland verlassen musste, ebenso Walter Benjamin, der auf der Flucht vor seinen Häschern Selbstmord beging. Nur der Fall Wittgenstein (der dritte Jude im Bunde) liegt da etwas anders. Aber lesen Sie selber nach, es steht in den letzten drei Wörtern des umfangreichen Buches, die darüber Auskunft geben…

(In diesen Anmerkungen zum Buch wurde auf die philosophische Verknüpfung, die sehr detailreich, aber auch sehr verständlich hergestellt wird, nicht eingegangen. Dem philosophisch versierten Leser ist natürlich vieles bekannt. Spannend und neu indes ist die Verknüpfung.)

 

24

Margaret Atwood: Hag-Seed (2016)

Die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood, die übrigens im Jahre 2017 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, hat viele Jahre an diversen Universitäten als Literaturwissenschaftlerin gearbeitet, und dies spürt man bei diesem Buch besonders gut, da in dessen Kern die Aufführung und Deutung von Shakespeares The Tempest steht.

Shakespeares Drama spielt auf einer Insel, wo zwölf Jahre lang der von seinem Bruder Antonio vertriebene Herzog von Mailand, Prospero, zusammen mit seiner Tochter Miranda als Vertriebener lebt. Als nun (nach zwölf Jahren) das Schiff des Königs von Neapel, Alonso, der seinerzeit bei der Vertreibung Prosperos geholfen hatte, mit dessen Sohn Ferdinand und Antonio in die Nähe der Insel gerät, befiehlt Prospero seinem Luftgeist Ariel, dafür zu sorgen, dass dass Schiff in einem Sturm auf der Insel strandet. Dessen Erzfeinde sind nunmehr in seiner Gewalt und er kann Rache nehmen für das Unrecht, das ihm angetan worden ist.

Atwoods Roman spielt weitgehend in einem Gefängnis. Die Hauptfigur ist Felix, der vor zwölf Jahren als Theaterdirektor einer Stadt in Kanada auf Betreiben von Tony gefeuert wurde und auf Rache sinnt. Er zieht sich auf ein einsames, heruntergekommenes Gehöft zurück, wo er zunächst mit dem Geist seiner mit drei Jahren verstorbenen Tochter Miranda lebt, dann aber eine Stelle in einem nahe gelegenen Gefängnis annimmt, wo er Literaturkurse für die Gefangenen halten soll, indes statt dessen durchsetzt, dass er mit den Insassen Shakespeare-Stücke aufführt. Im zwölften Jahr nach seinem Rauswurf probt er nun The Tempest. Und – oh Wunder – es ergibt sich, dass seine alten Widersacher Tony und Sal mitsamt dessen Sohn Freddy auf einen Besuch der Aufführung von The Tempest ins Gefängnis kommen. Denn die beiden haben es inzwischen zum Minister gebracht. Freddy kommt mit, da er sich fürs Theater statt für das vom Vater vorgesehene Jurastudium interessiert.

Die Theatergruppe inszeniert nun einen „Sturm“ unter der Leitung von Prospero (Felix) und Ariel (einem Insassen namens 8Handz) mit Hilfe modernster Computertechnik, es wird stockdunkel, und es sind Schüsse zu hören. Das kompromittierende Verhalten der Politiker wird aufgezeichnet und in der Cloud gespeichert, während Freddy in eine Zelle gebracht wird,wo er auf die bezaubernde Miranda stößt, einer Tänzerin aus der Theatertruppe, die wie Felix seinerzeit ihren Job verloren hatte. Die beiden verlieben sich, wie Ferdinand und Miranda in The Tempest. Hier fragt man sich allerdings, ob hier nicht ein wenig dick aufgetragen wird.

Atwood bemüht sich insgesamt darum zu zeigen, dass ein 400 Jahre altes Drama nichts von seiner Schärfe verliert, wenn man es in die heutige Zeit überträgt. Phantasie, Illusion, Kunst, Rache und Versöhnung sind menschliche Angelegenheiten, die sich in jedem Zeitalter wiederholen. Das, was man sieht, mag sich verändern. Aber im Kern verändert sich der Mensch wohl nicht. Die Parallelität der Handlung in Shakespeares Drama und Atwoods Roman ist ein Konstrukt, dessen sich die Autorin bedient, um diese These zu „beweisen“. Aber es macht ihr offenbar auch einfach Spaß, die Dinge doppelt laufen zu lassen, sie „kann“ Parallelität…

 

23

Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt

Auf der Rückseite der Taschenbuchausgabe vom Oktober 2017 steht ein Zitat aus einer Rezension der Frankfurter Rundschau: Ein großes Buch, ein genialer Streich. Zuerst habe ich nicht verstanden, wieso das Buch ein genialer Streich sein könnte. Vor der Lektüre. Nach der Lektüre überlegte ich mir, wie ich dieses Buch auf die kürzestes, aber präzise Art und Weise skizzieren könnte. Mir fiel ein:  Zwei Genies – unendlich menschlich gesehen. Und dann fiel mir wieder das Zitat aus der Rundschau ein. Ein genialer Streich

 

22

Daniel Kehlmann: Tyll

Der historische Till Eulenspiegel, also der wahrscheinlich historische Till, lebte im 14. Jahrhundert und war offensichtlich ein manchmal doch recht derber Schalk, wie man auch auf der nebenstehenden Illustration von Bruno Goldschmitt, die in der 1924 herausgegebenen Sammlung der Schwänke im Hamburger Alster-Verlag zu finden ist, ersehen kann. Sie zeigt die Szene, wo Till in einem Bienenkorb, in dem er ein Nickerchen gehalten hatte, weggetragen wird, ohne dass die beiden Träger bemerken, dass der Korb ungewöhnlich schwer ist. Aus seinem Korb heraus haut Till nun zuerst dem einen, dann dem anderen auf den Kopf und wiederholt dieses Spielchen so lange, bis die beiden sich in die Haare geraten und eine wüste Prügelei beginnen, da sie glauben, der jeweils andere habe ihn geschlagen. Daniel Kehlmann dient die Figur des Till, die bei ihm Tyll genannt wird, hauptsächlich als Kunstmittel, um die Szenen aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges zusammenzuhalten, die in Wirklichkeit auch Szenen etwa aus dem Bürgerkrieg in Syrien sein könnten. Das Buch ist also ein Buch über das Leben und Sterben in Zeiten von Pest und Krieg, angefacht scheinbar durch religiösen Fanatismus, befeuert durch die Interessen von Mächten, die von außen kommen. Auf der primären Erzählebene erfahren wir so manches Interessante über Poeten, Wissenschaftler, Kirchenleute und „Staatsmänner und -frauen“, vor allem Elisabeth, der Schwester des englischen Königs und Frau des „Winterkönigs“ Friederich, auch Kurfürst in Heidelberg, der durch die Annahme der böhmischen Königskrone den großen Krieg ausgelöst hat. Und natürlich einiges über die damals im Blühen befndliche Unkultur der Hexenverfolgung. Tylls Vater wird als männliche Hexe hingerichtet. Aus den Umständen dieses Umfeldes heraus wird psychologisch sehr plausibel die Entwicklung des kleinen Jungen zum fahrenden Künstler dargelegt. Zwei erzählerische Merkmale fallen besonders ins Auge: Das unerträgliche Elend der damaligen Zeit wird durch humoristische Einlagen einigermaßen erträglich gemacht. Und es wird immer wieder ein bisschen Theater gespielt. Schließlich befinden wir uns in der Shakespeare-Zeit, und Tyll ist ja eh ein Theatermensch. Man könnte die Handlung auch so zusammenfassen: Wir begegnen Tyll in diesem Roman immer wieder in besonders wichtigen Episoden des Dreißigjährigen Krieges. Und da er als fahrender Schausteller mit allen Berufsständen und Schichten in Berührung kommt, entsteht aus den verschiedenen Mosaiksteinen ein plastisches Bild dieser Zeit. Praktisch jeder in Deutschland wurde 2015 mit der Ankunft zahlreicher Kriegsflüchtlinge konfrontiert. Kehlmanns Buch öffnet uns die Augen für das Leid, das hinter ihnen gelegen haben muss. Bilder vom Syrienkrieg sind oft nur Schnappschüsse. Kehlmanns trockene Schilderungen, die meist aus der Sicht von Menschen des 17. Jahrhunderts erfolgen, die nach heutigen Maßstäben noch nicht ganz erwachsen sind, da befangen durch die massiven Vorurteile ihrer Zeit, haben also einen kindlichen Unterton, der in scharfem Kontrast steht zu den ausgewachsenen Grausamkeiten der Kriegszeiten.

Zwei Dinge bleiben nach der Lektüre: Das Buch regt dazu an, sich mit der Kriegszeit zu befassen, die vor 400 Jahren begonnen hat. Und es berührt einen. Man weint und lacht zugleich, wenn die Möchte-gern-Königin ganz am Schluss, im letzten Atemzug des Buches, verstohlen ihre Zunge rausstreckt, um die Schneeflocken besser spüren zu können, die etwas früher als gewöhnlich im Winter fallen, so dass, so der Erzähler, wahrscheinlich am nächsten Tag die nächste Hexe verbrannt werden wird, weil sie für dieses ein wenig vorgezogene Naturereignis verantwortlich gemacht werden wird. Die Jesuiten kennen die Wahrheit, das Bekenntnis nach Folter wird das bestätigen… Und die Jungfrauen warten im Paradies. Die Welt hält den Atem an, wenn Trump twittert. Und dass die Geschichte ein Fortschritt ist,  – alles Fake News.

 

21

Hong Ying: Die chinesische Geliebte

Wenn man es recht bedenkt, dann ist dieser Roman nichts weiter als die Beschreibung einer Affäre, die sich Mitte der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts in China abspielte. Ein junger Engländer übernimmt einen Lehrauftrag an der Universität von Wuhan und wird der Geliebte der Frau des Dekans der Englischen Abteilung. Da Lin von ihrem Elternhaus her mit der taoistischen Liebeskunst vertraut ist, diese aber nicht mit ihrem Mann praktiziert, werden sie und Julian, der junge Dozent (und Womanizer), sich schnell einig und gehen eine heftige Liebesbeziehung ein, die mal so, mal so verläuft, mal in dem Bewusstsein, dass das alles nur ein großer Spaß sei, mal in dem Gefühl, dass das die große Liebe ihres Lebens sei. Nach Fluchtversuch kehrt Julian zu Lin zurück, verleugnet sie aber in dem Augenblick, als es darauf ankommt. Er fährt zurück nach England und stürzt sich in den spanischen Bürgerkrieg, um gegen die Faschisten zu kämpfen und stirbt.

Das Buch ist wegen angeblich pornografischer Darstellungen in China verboten worden, wurde indes, wie der Buchumschlag hervorhebt, ein „Bestseller weltweit“. Das animiert natürlich zum Kauf, zumal noch erwähnt wird, dass es sich bei Julian um den Neffen von Virginia Woolf handelt. Die Erzählung bewegt sich indes weitgehend an der Oberfläche. So wird z.B. berichtet, dass Julian während seines mehrmonatigen Aufenthalts in China über hundert Briefe an sein Mutter geschrieben hat, mit der er offenbar eine sehr enge Beziehung hat. Das wird jedoch nicht ausgeleuchtet, sondern bleibt umkommentiert so stehen, so dass beim Leser lediglich ein etwas unappetitlicher Geschmack auf der Zunge zurückbleibt.

Was die literarischen Fähigkeiten der Autorin angeht, so möge jeder selber entscheiden. Ich zitiere hier einen Abschnitt des Buches von S. 146, der Teil der Beschreibung eines Besuches in einer Opiumhöhle ist, in der Julian sich mit Lin und einer anderen Frau vergnügt.

  Er hatte keine Ahnung, wieviel Zeit vergangen war. Sie schien zu rasen und gleichzeitig ganz langsam zu verstreichen, wie süßer zäher Honig. Erneut spürte er eine Pfeife zwischen seinen Lippen, und im Dufte des Opiums glitt er in einen betörenden Halbschlaf. Ganz unbemerkt hatten sie die Stellung gewechselt. Sein Kopf lag nun genau zwischen Lins Oberschenkeln, auf den weichen Po der Dienerin gebettet. Jetzt erst sah er, dass am Kopfende des Bettes lange Spiegel eingelassen waren, die mit chinesischen Bildern von Vögeln und Blumen verziert waren. Er schloß die Augen und stellte sich vor, er sein ein Kolibri, der mit seiner Zunge den Blütennektar aus Lins Kelch trank.

Die Zeit fließt wie süßer zäher Honig, der Halbschlaf ist betörend, der Kopf zwischen Oberschenkeln, auf einen Po gebettet. Es gibt Spiegel wie in jedem ordentlichen Puff , die genau beschrieben werden, aber für den weiteren Verlauf völlig unbedeutend sind. Und ein Kolibri trinkt Blütennektar aus Lins Kelch. Diese Beschreibungen sind weder pornografisch noch literarisch von Bedeutung. Man könnte sagen, das Buch ist gut gemeint. Doch das reicht nicht für einen Weltbestseller, der diesen Namen verdient.

 

20

T.C.Boyle: The Terranauts

Ende der achtziger Jahre wurde in der Nähe von Tucson, Arizona, ein Gebäudekomplex errichtet, dessen Zentrum aus einem Kuppelbau besteht, in dem ein von der Außenwelt weitgehend unabhängiges Ökosystem eingerichtet wurde unter Einschluss zahlreicher Tierarten (Biosphere 2). Zweimal wurde dieser Kuppelbau dazu benutzt, die Lebensbedingungen von Menschen in geschlossenen ökologischen Systemen zu erforschen. Während der ersten Phase musste das Experiment kurzzeitig unterbrochen werden, da eine „Terranautin“ sich an der Hand verletzte und „draußen“ behandelt werden musste, ein zweiter Versuch mit neuen Terranauten dauerte erheblich kürzer.

T.C. Boyle hat die Geschichte von „Biosphäre 2“ nun in seinem neuesten Roman The Terranauts als Vorlage gewählt und daraus eine fiktionale Geschichte gemacht mit drei Hauptakteuren und einer Reihe von Nebendarstellern. Daniel Kehlmann hat vor kurzem einmal geäußert, er sei Schriftsteller geworden, weil er sich in andere Personen hineinversetzen könne. T.C.Boyle hat seine drei Protagonisten (die zugleich Co-Erzähler der Geschichte sind) nach den Konstellationen des Experiments in Biosphäre 2, das zwischen 1991 und 1993 stattfand, ausgewählt und sie mit einer erfundenen Erlebniswelt ausgestattet.

Dawn Chapman, eine schöne Blondine, ist dabei so etwas wie die Hauptfigur. Der attraktive Mann, von dem sie schließlich „knocked up“ wird, also ein Kind bekommt, ist der Kommunikationsspezalist unter den Terranauten, Ramsay Roothoorp. Die dritte Erzählerin, Linda Ryu, eine kleine schwarzhaarige Chinesin, fällt beim finalen Test, der über die Auswahl der vier weiblichen Terranauten entscheidet, durch (wegen der Hautfarbe, wie sie glaubhaft versichert), ist aber erzähltechnisch wichtig, da sie aus der Perspektive eines Außenstehenden, also sich nicht in der Biosphäre 2, die hier E2 heißt ( Ecosphere 2, die da draußen ist E 1), berichtet.

Die Widrigkeiten, denen die acht Terranauten in E2 ausgesetzt sind, sind nicht geringer als die Widrigkeiten eines Lebens in E1. Und wie unter einem Brennglas erlebte man hier drastisch vergrößert alle Irrungen und Wirrungen des menschlichen Lebens. Es kommt zu Eifersüchteleien, zu Neid, zu Sex und auch zu größeren Katastrophen. Als nämlich bei Tucson ein LKW von der Straße gerät und ein Tranformatorhäuschen niedermacht, fällt der Strom aus und es wird unerträglich heiß in E2.

Beim letztgenannten Zwischenfall steht das Experiment, steht E2 auf der Kippe. Da das Motto lautet „Nothing in – nothing out!“, kommt ein Öffnung der Kuppel nicht in Frage, obwohl dieses Motto ja schon dadurch ad absurdum geführt wird, dass E2 von der Stromversorgung von draußen abhängig ist. Die zweite existentielle Bedrohung eines vollendeten Verlaufs von E2 stellt die Schwangerschaft von Dawn Chapman dar. Natürlich soll sie abtreiben. Doch sie entscheidet sich für das Baby, was dann medial grandios vermarktet wird. Ja, sie beschließt, mit Baby Eva in E2 zu bleiben und auf E3 zu warten.

Boyle macht sich offenbar darüber lustig, wie die Menschen, ja die Menschheit versucht, durch immer neue Anstrengungen und mit Hilfe ausgefeilter Systeme über die Runden zu kommen. In seinem Roman the tortilla curtain nimmt er sich zu diesem Zweck eine Dorfgemeinde bei Los Angeles vor, die versucht, sich durch einen hohen Zaun vor Einwanderern zu schützen. In The Women wird Frank Lloyd Wright, eine Ikone amerikanischer Architektur, vorgeführt, der sich in Wisconsin ein Anwesen errichtet, dessen Grundidee Ausdruck einer ausgeprägten Egomanie ist und dessen Verwirklichung immer wieder von seinen drei Frauen befördert und behindert wird. In The Terranauts geht es offenbar um Auswüchse angewandter Wissenschaft.

Das ist passagenweise etwas mühsam zu verfolgen, weil es TV-Seriencharakter hat, also oft etwas aufgeschwellt daherkommt, enthält aber auch Highlights. Schön z.B. die Schilderung von Dawns finalem Test, auf den sie sich akribisch wissenschaftlich vorbereitet hat. Am Ende muss sie nur die Frage beantworten, wie sie verhütet. Dass gerade sie es ist, die dann in E2 ein Baby bekommt, ist wie ein Kommentar zu diesem Test. Da hätten sie doch besser Linda auswählen sollen, die kleine, schwarzhaarige, etwas unscheinbare Chinesin, die indes mit dieser irrsinnigen asiatischen Leistungsbereitschaft ausgestattet ist, und die sich für Männer zwar auch interessiert, dabei aber nie ihr Ziel aus den Augen verliert…

 

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Dieter Henrich

Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin

Mit diesen Reflexen und Reflexionen begebe ich mich auf einen gefährlichen Weg, und doch ist dieser mir eine Herzensangelegenheit, da ich als ehemaliger Student der Philosophie ganz wesentlich von Dieter Henrich in den ersten Semestern meines Studiums geprägt worden bin. Im Sommersemester 1968 nahm ich an seinem Seminar über Kants Kritik der Urteilskraft teil, an das ich mich überhaupt nicht erinnern kann, weil ich vermutlich so gut wie nichts verstanden habe, da ich im ersten Semester war. Kant und der deutsche Idealismus ist einer von Henrichs Forschungsschwerpunkten, und Kants Erkenntnislehre und Ethik waren ständig „dabei“ in mehr als 25 Jahren meines Philosophieunterrichts an Gymnasien in Düsseldorf und Krefeld.

„Gefährlich“ ist mein jetziges Unterfangen deswegen, weil Henrichs Buch Sein oder Nichts vieles enthält, was den Philosophen Henrich mehr als 60 Jahre lange beschäftigt hat, wie die Verweise auf seine zahlreichen früheren Arbeiten belegen, weil es also in einem gewissen Sinne als kompakt gelten kann, als ein resümierender dicker Schlussstrich unter ein Lebenswerk, weil es sich aber zugleich auf einem sehr hohen Niveau der Abstraktion bewegt, ja, sich bewegen muss schon angesichts der beiden titelgebenden Begriffe, aber auch weiterer abstrakter Bereiche wie die Frage nach einem Absoluten oder nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Metaphysik in der Moderne. Mein nacharbeitender Umgang mit dem vorliegenden Buch besitzt nun allerdings ein Handicap aus dem Umstand, dass ich mich an manchen Stellen schlichtweg überfordert fühlte – habe ich doch einen Lebensweg hinter mir, der über weite Strecken den Umgang mit den Dingen, die hier erkundet werden, ausschloss. So ergibt sich also die Situation, dass ich vom Rande eines Verständnisses her die Kerngedanken des Buches (auch) denjenigen nahebringen möchte, die nie ein Philosophieseminar besucht haben und daher mit philosophischer Denkungsart (im professionellen Sinne) wenig am Hut haben. Zum Beispiel den Freunden des Zigarrencolloquiums in meiner Gartenlaube…

Dass dieses Ziel indes nicht vollkommen unerreichbar erscheint, ergibt sich aus einem wichtigen Aspekt in Henrichs eigener Philosophie. Für ihn ist es nämlich selbstverständlich, dass die „Erkundungen“ des Philosophen sich nicht in einer isolierten wissenschaftlichen Sphäre bewegen, sondern rückgebunden sind an die Erfahrungen des menschlichen Lebens. Und diese Veranlagung in seinem Denken ist es auch, die sein Interesse immer wieder auf Phänomene der Kunst lenken. Denn Kunst kommuniziert in vielen ihrer Ausprägungen mit realen Menschen über metaphysische Gedanken wie etwa das Sein oder das Nichts.

Hölderlin und Samuel Beckett scheinen auf den ersten Blick so etwas wie Antipoden zu sein. Der zentrale Inhalt der Werke des ersteren ist das „Seyn“, bei Beckett dagegen das „Nichts“. Wie kann es dann aber sein, dass Beckett nachweislich eine innere Beziehung zu Hölderlin hatte, ja manche seiner Gedichte frei rezitieren konnte und dies auch des öfteren mit Genuss tat? Hat Beckett Hölderlin etwa missverstanden? Dieser Frage geht das Buch im Grunde nach.

Henrichs Antwort auf die gerade gestellte Frage ist : Nein. Das rührt aber nicht daher, dass beide Standpunkte im Grunde verträglich, wenn nicht identisch sind, sonder daher, dass beiden eine Ambivalenz zu eigen ist. Ein Kapitel des Buches trägt die Überschrift „Himmelfahrt und Höllensturz eines?“. Der erste begriff deutet auf Hölderlin, der zweite auf Beckett hin. Das Seinbegreifen, vielleicht sogar ein das-absoute-Sein-Begreifen, das bedeutet, einen Sinn im Leben zu sehen. Becketts Werke sind jedoch vom Gedanken eines Schwindens, eines Sogs zum Nichts beherrscht. Dennoch weigert sich Henrich, in ihm einen Vertreter des Nihilismus zu sehen. Das würde zu kurz greifen. Beckett hat einmal gesagt: „The keyword in my plays is >perhaps<“. Das Schwinden und Fallen mag unausweichlich sein. Aber in Phasen der Kontemplation kommt der Mensch, hat er einmal den Knopf >perhaps< gedrückt, dennoch zu „Momenten eines mystischen Einhaltens“. Solche sind oft kunstvermittelt. Hier eröffnen sich Bezüge zu Schopenhauers Auffassung von Kunst, auf die hier nicht eingegangen werden kann.

Sein oder Nichts? Die Antwort könnte lauten: NEITHER, also WEDER-NOCH. In jedem Glück steckt ein Stück Verzweiflung (im Bewusstsein von dessen Vergänglichkeit). Und in jeder Verzweiflung kann es ein Bewusstsein von dessen Nicht-Absolutheit geben im Akt einer Distanzierung, die einen affirmativen Charakter hat.

Was also gilt: Sein oder Nichts? NEITHER! Aber für dieses NEITHER haben wir keinen positiven Begriff. Es scheint jenseits unseres Denkens zu liegen. Und kann doch lebend-ig erfahren werden. Aber auch als Rezipient eines Dramas von Beckett, das einen mit dem Gefühl entlässt, nun zu einer eigenen Entscheidung kommen zu sollen.

Das aber ist nichts anderes als die Freiheit des Seyns.

 

18

Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis

… im Spiegel einer Tagebuchnotiz. Mehr mag folgen…

Ich dich lieben, sagte ich. Und sie, und wir, lachten schon wieder hemmungslos ob des Spiels mit der Grammatik. Was für ein schöner Abend. Zumal ich heute Abend auch Bodo Kirchhoffs Novelle „Widerfahrnis“ zu Ende gelesen habe. Die ganze Geschichte war nur der Tatsache geschuldet, dass Leonie an Krebs erkrankt war. Die Novelle schiebt zwar anfangs den Erzähler in den Vordergrund, es scheint im Wesentlichen um ihn zu gehen. Am Ende aber wird deutlich, dass das ganze Geschehen eine Folge der Befindlichkeit, des Zustandes, der Krankheit dieser Frau ist, die da noch in das Leben dieses abgehalfterten Verlegers eintritt, ohne ihm deutlich zu machen, warum. Die anfänglichen Schritte vor der Tür, die werden erst auf der letzten Seite der Novelle erklärbar. Der vermeintliche Protagonist ist das Arschloch, die ein wenig im Dunklen verbleibende Gefährtin der Held der Geschichte. Warum fängt sie am ersten Abend wieder an zu rauchen? Auf der letzten Seite wird das dem Leser erst klar. Die Novelle ist also ganz auf einen Anfang und auf ein Ende angelegt. Was ist das „besondere Ereignis“? Eine krebskranke Frau gibt sich einem sog. Verleger hin, der in den von ihm verlegten Büchern immerzu alles Überflüssige, vor allem zu Emotionales, strich. Ihr ganzes Verhalten straft den Verleger Lügen. Er tut am Ende zwar etwas Gutes, doch das hat nur sehr indirekt mit dem zu tun, auf was er sich eingelassen hatte. Wovon er keine Ahnung hatte. Die Frau, also Leonie, ist aber auch nicht unschuldig. Schließich hat sie ja die Adoption dieses schweigenden Mädchens forciert, das ihn am Ende schwer verletzte. Konnte Leonie es ihm da wirklich übel nehmen, dass er ohne sie nach Hause fahren wollte? Insgeheim hatte er ihr ja wahrscheinlich gegrollt, dass sie so nachgiebig in Bezug auf dieses seltsame Mädchen gewesen war. Sie hatte ihn ja schließlich mit ihrer Handtasche geschlagen, um das Mädchen zu schützen. Sie also fährt nach Lucca, z.B., um zu sterben. Er fährt mit der afrikanischen Familie nach Deutschland, um sie zu retten. Sie behält seine Lederjacke, von der er sich nie trennen wollte. Also liebt sie ihn. Er bringt die Afrikaner nach Bayern. Sie nimmt das hin, akzeptiert das offenbar als eine Möglichkeit, Menschen zum Leben zu verhelfen. Sie ist ganz mit sich im Reinen. Ihr Auto, das sie aufgibt, transportiert neues Leben. Aus Afrika.

 

17

Kerstin Decker: Die Schwester. Das Leben der Elisabeth Förster-Nietzsche. (2016)

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In dem chicen Stadtteil Oberkassel in Düsseldorf gibt es statt Geschäfte für den alltäglichen Bedarf immer mehr und immer ausschließlicher Boutiquen und – einem neuen allgemeinen Trend gemäß – immer wieder eine neue Bäckerei. Da ist es erstaunlich, dass die Buchhandlung GOSSENS sich seit gefühlten fünfzig Jahren auf der Luegallee halten kann. Aber der Buchhändler Bernd Gossens ist in Oberkassel zur Schule gegangen und kennt seine Pappenheimer. Ganz geschickt werden die drei Schaufenster saisonal angemessen bestückt, aber auch vollkommen publikumsgerecht. Themen wie „Reisen“, „Ernährung“, „Esoterik“ werden bedient, aber auch Literatur ist vertreten, meist vom Feinsten im Sinne von vollkommener Trendgemäßheit im oberen Segment.

Neulich entdeckte ich dort ein Buch von Kerstin Decker, von der schon einige biografische Arbeiten im Dunstkreis von Nietzsche und Wagner erschienen sind. Ihr neuestes Buch trägt den Titel „Die Schwester. Das Leben der Elisabeth Förster-Nietzsche“. Der Titel sagt alles über das Verhältnis von Elisabeth zu Friedrich: Ohne ihn wäre sie nichts. Mit ihm ist sie nur „Die Schwester“.

Das heißt nun keineswegs, dass Elisabeth vollkommen bedeutungslos wäre. Immerhin widmet Kerstin Decker ihr ein Buch mit mehr als 650 Seiten, und am Ende kommt Elisabeth nicht einmal so schlecht weg. Lange ist sie wahrgenommen worden als „die Fälscherin“, „Frau eines Antisemiten“, „Canaille“ (ihr Bruder) oder die Frau, die in Weimar Hitler empfing und ihm Nietzsches Krückstock als Geschenk darbrachte.

Kerstin Decker zeigt jedoch, dass Elisabeth es war, die, als der Bruder komplett ausfiel und gleichzeitig ein Publikum im Entstehen war, das sich für ihn interessierte, den Laden zusammenhielt, sprich, dafür sorgte, dass alle Manuskripte und Schnipsel des berühmt werdenden Bruders gesammelt und in ein Archiv überführt wurden, für das sie Geld auftrieb. In diesem Zusammenhang trat sie mit vielen Persönlichkeiten in Verbindung (Adligen, Professoren, Industriellen) und pflegte ausgiebigen brieflichen und persönlichen Kontakt mit Personen, deren Namen heute noch wohlbekannt sind.

Einer ihrer engsten Freunde war z.B. Graf Kessler, der sich zum Demokraten und Revolutionär wandelte. Sie pflegte also keineswegs nur den ihr gelegentlich unterstellten Kontakt zu Antisemiten und National(sozial)isten. Dafür war eher die Sippschaft aus der Familie ihrer Mutter zuständig (Oehler, Es gab auch eimal einen Düsseldorfer Oberbürgermeister dieses Namens.).

Dreimal wurde Elisabeth Förster-Nietzsche für den Nobelpreis vorgeschlagen. Und die Autorin zeigt sehr schön auf, was bei solchen Vorgängen „eine Rolle spielt“.

Wie nebenbei erfahren wir auch so einiges über Nietzsche in dieser Biografie über die Schwester. Ganz wichtig sowohl für Friedrich als auch für die Schwester: Der Aufenthalt in Tautenburg, wo Nietzsche ein paar Wochen Tür an Tür mit Lou Salomé verbrachte, mit der Schwester als Anstandswauwauchen. Denn danach wurde alles anders: Lou brannte mit Friedrichs bestem Freund Paul Ree durch, Friedrich schrieb bald darauf seinen „Zarathustra“ und Elisabeth heiratete den Antisemiten Förster und zog mit dem nach Paraguay.

Spannend, zu verfolgen, wie sich illustre Geister wie z.B. Oswald Spengler, Rudolf Steiner oder auch der Herausgeber einer Nietzsche-Werkausgabe, Karl Schlechta, in dem Durcheinander der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts positionierten.

Methodisch richtet sich Kerstin Decker scheinbar ein wenig an Rüdiger Safranskis Biografie-Stil aus. So enthält der Text zahlreiche Sätze und Passagen, die als als erlebte Rede oder auch „stream of consciousness“ aus der Vergangenheit in die Gegenwart des Lesers vorstoßen. Dies ist der bei Biografien nicht unüblichen Vorgehensweise geschuldet, vor allem zeitgenössische Briefe als Quellen heranzuziehen. Aus den geschriebenen Sätzen werden dann Gedanken herausdestilliert, die veranschaulichen sollen, was da so in den Köpfen der Protagonisten vor sich ging.

Und das ist es ja, was wir als Leser eines solchen Buches wissen wollen. Die „Fakten“ sind uns vielleicht schon mehr oder weniger bekannt. Aber wir wollen doch vor allem wissen, was in den Köpfen vor sich ging.

Das darzustellen it Kerstin Decker m.E. gut gelungen. Und man hat außerdem den Eindruck, dass sie zu einem differenzierten Bild ihrer Protagonistin kommt, das ich – ein wenig zugespitzt – so auf den Punkt bringen würde: Elisabeth war vielleicht nicht die Klügste. Aber sie war ungeheuer zielstrebig.

„Ergebnisorientiert“ nenne man das heute, sagt Kerstin Decker.

16

John Dos Passos: Manhattan Transfer (1925)

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Dieses Buch, vor über neunzig Jahren geschrieben, ist längst zu einem Klassiker geworden. Es wurde verglichen mit der Ulysses von James Joyce. Man könnte es auch vergleichen mit Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin. Diesen drei Büchern ist gemeinsam eine Montagetechnik, die als Mittel der Darstellung komplexer Sachverhalte vom Film übernommen worden ist. Dabei sind aber auch gravierende Unterschiede festzustellen. Joyce verlegt die „Handlung“ fast komplett in den Kopf seines Protagonisten, er ist auf dessen Bewusstseinsstrom fokussiert. Döblin ist an der sozialen, aber vor allem auch an der psychischen Situation der Handlungsträger interessiert. Bei Dos Passos geht es hauptsächlich um eine soziale Diachronie der Gesellschaft, in der er selber lebt. Das bedeutet, er geht weder politisch oder psychologisch in die Tiefe, sondern beschreibt an einigen markanten Beispielen, was die Zeit aus den Menschen macht, die in ihr leben.
Ich will hier nur vier Namen nennen. Ellen ist die Tochter eines Buchhalters, deren Geburt uns im ersten Kapitel geschildert wird. Aus ihr wird eine Schauspielerin, die sich durch die New Yorker Männerszene schläft, u.a. auch mit dem Rechtsanwalt Baldwin, dessen Karriere vom mittellosen Inhaber einer unbekannten Kanzlei bis zum Bezirksstaatsanwalt und Kandidaten für das Bürgermeisteramt reicht. Später heiratet sie Jimmy Herf, der sich sein Geld verdient mit Reportagen für die Times und z.B. eine Reportage anfertigt über den Alkoholschmuggel während der Zeit der Prohibition. Aus dem kleinen Schmuggler Congo, ehemaliger Matrose, wird im Verlauf der Geschichte ein angesehener reicher Mann.
Natürlich verläuft keiner dieser Lebenswege gradlinig. Das kann man an der Beziehung Ellens zu Jimmy verdeutlichen. Jimmy ist offenbar in Ellen verliebt, aber sie ist für ihn zunächst unerreichbar. Kurz bevor er nach Europa als Reporter in den Krieg zieht, trifft er Ellen, die ihm verrät, dass sie sich von ihrem Mann hat scheiden lassen, aber schwanger ist mit einem Kind von einem Mann, der sich gerade umgebracht hat. Ellen geht ins Haus und vermeintlich weg für immer, Jimmy sinkt vor der Tür zu Boden und benetzt die Matte, auf der sie gestanden hat, mit heißen Tränen der Bewunderung für diese Frau, die das Kind allein großziehen will, wie sie vorgibt. Auch Ellen gelangt indes nach Europa, als Krankenschwester, ohne ein Baby, das also wahrscheinlich abgetrieben wurde. Sie trifft mit Jimmy zusammen und sie heiraten. Die Ehe wird kurz nach ihrer Rückkehr nach New York geschieden, Ellen wendet sch wieder ihrem alten „Bekanntenkreis“ zu, Jimmy macht sich am Schluss des Romans auf die Reise. Er ist die einzige Figur, die New York verlässt.
Mir scheint, Dos Passos sympathisiert mit dem Reporter und potentiellen Schriftsteller Jimmy Herf und ich könnte mir vorstellen, dass er ihm ein paar Eigenschaften von sich geliehen hat. Gut vorstellbar, dass Jimmy bei seiner Reise schließlich irgendwo zur Ruhe kommt und in purgatorischem Bemühen dieses Buch schreibt: Manhattan Transfer.

15

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Ian Bostridge

Schubert’s Winter Journey

-Anatomy of an Obsession-

London, 2015

Der Untertitel ist so vieldeutig wie so manches andere in dem Buch. Wessen Besessenheit ist gemeint: die des Wandergesellen im Text von Wilhelm Müller? Die Besessenheit, die in den vertonten Versen spürbar wird? Die Besessenheit Müllers oder Schuberts? Die Besessenheit, mit der das Werk nun schon fast 200 Jahre lang vom Publikum aufgenommen wurde? Oder die Besessenheit des Autors Ian Bostridge, der schon im zarten Kindesalter von 12 Jahren mit Werken von Schubert und Müller bekannt gemacht wurde?

Für Ian Bostridge fing alles mit der Schönen Müllerin an. Warum aber widmet er dieses dritte Buch, das von diesem hervorragenden Opern- und Liedersänger geschrieben wurde, in dem es ja offenbar um die Winterreise geht, trotzdem “der schönen Müllerin”? Nun, das hängt wohl nicht nur mit der frühen Bekanntschaft mit der schönen Müllerin zusammen, sondern auch und wahrscheinlich sogar vor allem damit, dass er mit Lucasta Miller verheiratet ist.

Diese Art von Bedeutungs- und Beziehungsreichtum ist kennzeichnend für Bostridge’s Umgang mit seinem Thema. Übrigens verschwinden die letzten Buchstaben von Schuberts Namen und der zweite Teil des Titels ⁄Winter Journey in dem Schnee, der auf der Photographie des Umschlags Bäume und Erde bedeckt. Dies ist schon ein früher Hinweis darauf, dass wir bei der Lektüre des Buches nicht nur auf den Text angewiesen sind, sondern mit bildlichen Elementen konfrontiert sein werden.

Vielleicht sind die Dinge, die ich bisher erwähnt habe, ja nur Kleinigkeiten. Aber sie werfen ein bezeichnendes Licht auf die Art und Weise, wie wir mit einem doch sehr komplexen Gegenstand der Literatur- und Musikgeschichte vertraut gemacht werden: Mit souveräner, spielerischer Leichtigkeit.

Es ist unmöglich, dem Buch in einer kurzen Besprechung inhaltlich gerecht zu werden. Nur soviel sei gesagt: Jedem der 24 Lieder der Winterreise ist ein Kapitel gewidmet. Und jedes Kapitel wählt einen anderen Zugang. Mal liegt der Schwerpunkt auf einer Interpretation des Textes, mal werden musikalische Besonderheiten analysiert; mal wird auf den politischen, den sozialen oder auch den epochentypischen Hintergrund eingegangen (Romantik, Restauration nach dem Wiener Kongress), mal greift der Autor einen Begriff heraus und fügt einen längeren Diskurs dazu ein (Einsamkeit, optische Täuschungen/Nebensonnen, Reisen mit der Post, etc.). Vieles wird durch zeitgenössische Bilder illustriert, anderes durch Skizzen und Grafiken veranschaulicht. Immer aber bleibt es spannend und atemberaubend. Der Leser lässt sich gern den Atem nehmen, wenn er auf solche unerwarteten Reisen in die Kulturgeschichte Europas mitgenommen wird. Ian Bostridge kennt sich in vielen Sachgebieten aus oder hat sich nicht nur kundig gemacht, sondern setzt das erworbene Wissen in ein Licht, dass es jeder versteht.

Das Buch spricht musiktheoretische Kenner und Kenner der Literaturgeschichte an, aber auch all die, die sich einfach nur dafür interessieren, oder auch für Malerei, physikalische Besonderheiten und Anekdotisches aus dem Schatzkästlein der europäischen Geschichte.

Dietrich Müller-Dieskau war ein Bariton, Ian Bostridge ist ein Tenor. Die Lieder des ersteren beeindrucken durch die gewaltige Stimme. An Bostridge‘s Interpretation der Winterreise, die ich immer wieder während der Lektüre gehört habe, liederweise und im Ganzen, gefällt mir vor allem die immense Sensibilität, mit der kleinste Bedeutungspotentiale des Textes (und der Melodie) so ausgeleuchtet werden, dass man als Zuhörer den Eindruck erhält, sich selber mitten im Zentrum dieser Winterreise zu befinden. M.a.W.: Man taucht ab und ist ganz weg. Und wenn man dann wieder auftaucht, wenn der Ton der Stimme am Schluss im Boden zu versickern scheint und man des heimlichen Wunsches, der Hoffnung inne wird, selber auch so schön einmal singen zu können, dann:

Fall‘ ich selber mit zu Boden,
Wein‘ auf meiner Hoffnung Grab.

(16. Lied: Letzte Hoffnung)

 

14

Ralph Ellison: Invisible Man (1952)

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Um meine Meinung gleich vorweg zu sagen: Der Unsichtbare Mann, also der Erzähler, ist ein Blender. Für diesen Begriff gibt es im Englischen mindestens zwei Bedeutungen:

A dazzler (to dazzle – blenden)

A phoney (Heuchler)

Vielleicht ist der IM (Invisible Man) ja beides.

Und vielleicht auch der Mann hinter dieser Figur, also der Autor. Sie fragen, wie ich es wagen kann, über einen dermaßen ausgezeichneten Autor so zu urteilen? Nun, schauen Sie sich doch an, was der IM am Ende veranstaltet: Er zündet mehr als 1300 Glühbirnen an, beleuchtet sich und seine Höhle in grellem Licht, das jeden Eindringling blenden würde, und lässt andere (die Stadtwerke) dafür zahlen.

So etwa könnte man den Ausgang des Romans beschreiben.

Ich möchte hier nicht den Inhalt des Romans wiedergeben. Nur soviel: Der IM schildert, wie er vor einer Schar weißer Südstaatler mit 19 anderen jungen Männern an einem battle royal teinehmen musste, bei der jeder jeden nackt fertigzumachen hatte bis zur Besinnungslosigkeit. Er schildert, wie er im College einen weißen Sponsor herumführen musste und dabei in die Bedrouille kam. Wie er von seinem Collegepräsidenten gelinkt wurde und in New York landete. Wie er dort zum Großen Redner der “Brotherhood” (Kommunistische Partei) avancierte und nach seinem Ausstieg zum Blender wurde.

Irgendwann entdeckt er:

“Well, I was and yet I was invisible.”

Er erkennt aber auch:

“That was the fundamental contradiction.”

“I was and yet I was unseen.”

Aber seine Unsichtbarkeit hat nichts mit einer Tarnkappe zu tun, sondern basiert darauf, dass die anderen blind sind. Und diese Erkenntnis wird mit einer ganzen Reihe von in meinen Augen etwas peinlichen Selbstenthüllungen ausgebreitet:

“I began to accept my past and, as I accepted it, I felt memories welling up within me. It was as though I’d learned suddenly to look around corners, images of past humiliations flickered though my head and I saw that they were more than separate experiences. They were me; they defined me. I was my experiences and my experiences were me, and no blind men, no matter how powerful they became, even if they conquered the world, could take that, or chance one single itch, taunt, laugh, cry, scar, ache, rage or pain of it. They were blind, bat blind, moving only b the echoed sounds of their own voices.” (p. 508)

Und dann fügt er noch hinzu, er werde diesen armen Schweinen helfen, da sie ja blind sind.

Und darin liegt m.E. Der Schlüssel zum Erfolg dieses Buches. In diesem Gestus der Versöhnung angesichts all des erlittenen Unrechts. Der Protagonist konnte dem Amerika der 50er Jahre nur recht kommen. Ein Schwarzer, der sich durchschlägt, dabei aber moderate Meinungen vertritt. Letztes wird im neuen Vorwort noch verstärkt. Die Literaturkritik bekam Gelegenheit, ihre rassistische Unvoreingenommenheit unter Beweis zu stellen und verlieh dem Roman Preise.

Der Protagonist erzählt zum einen, was der Autor offenbar erlebt hat. Diese Erlebnisschilderungen werden aber immer wieder unterbrochen durch reflektierende Passagen, die aber selten philosophische oder psychologische Relevanz oder Tiefe erreichen. Der Roman fährt also zweigleisig, und die beiden Gleise werden nicht lebendig miteinander verbunden. Thomas Manns Zauberberg z.B. enhält ja durchauch auch diese langen weltanschaulichen Passagen, aber immer aus dem Mund geeigneter Proagonisten, die als gestandene Persönlichkeiten etabliert worden sind. Hier aber wird die Erzählung vermischt mit solchen semiphilosophischen Betrachtungen von einer Figur in der Erzählung, die dazu noch gar nicht reif genug sein kann.

Mit anderen Worten: Der Erzähler legt dem IM Worte in den Mund, die eigentlich nur aus dem Munde des Autors stammen können.

Die Erzählung hat also einen Riss, den man vielleicht noch am ehesten mit einem Stilbruch vergleichen kann. Dieser Riss macht die Erzählung, also den Roman, nicht uninteressant, schmälert aber ganz gewiss dessen künstlerische Bedeutung.

 

13

Diethelm Brüggemann: Die Scherbenkrone

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Bitte hier klicken, um eine (natürlich wie immer eigenwillige) Rezension zu lesen.

 

12

Tom Wolfe: A Man in Full (1998)

A Man in Full

Nachdem ich nun (endlich einmal) den Roman Gone with the Wind aus der Zeit des Amerikanischen Bürgerkriegs gelesen hatte, der ja zu einem wesentlichen Teil in Atlanta spielt, fiel mir das Buch von Tom Wolfe wieder in die Hände A Man in Full, das ja etwas 140 Jahre später ebenfalls Atlanta zum Schauplatz des Geschehens hat. In Gone with the Wind zeichnete sich ja schon ein radikaler Wandel in der südstaatlichen Lebenswelt ab, die Sklaven wurden befreit und die Weißen im Süden, also hier in Georgia, mussten versuchen, sich mit den neuen Verhältnissen abzufinden. In den 80er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts erlebte Atlanta erneut eine radikale Veränderung. Die Stadt wuchs in dieser Zeit auf Grund eines ungeheueren Bauboom, der von Weißen vorangetrieben wurde. Die politische Macht lag indes in den Händen von Schwarzen. Der schwarze Bürgermeister im Roman von Tom Wolfe muss gleichzeitig versuchen, einen drohenden Rassenkrawall zu verhindern, und eine Wiederwahl gegen einen anderen Farbigen, der “schwärzer” ist als er selber, zu gewinnen. Das sind sozusagen ein paar politisch-ökonomische Eckdaten.

Im Zentrum des Romans steht indes ein Baulöwe im Format eines Donald Trumps, Charlie Croker, gut sechzig Jahre alt, der seine langjährige Ehefrau zum Teufel geschickt hat mit einer jährlichen Abfindung von über einer halben Million Dollar, als er eine jüngere kennenlernte, die natürlich blond und sexy ist. Aber Charlie hat ein Problem: Er ist im Grunde pleite, will es aber nicht wahrhaben. Und da kommt der schwarze Bürgermeister ins Spiel. Denn der muss dafür sorgen, dass ein kleiner Skandal nicht hochkocht. Was war geschehen? Ein wahnsinnig populärer Football Star, schwarz, aus demGhetto, hatte angeblich die schöne Tochter des einflussreichsten und reichsten Mannes der Stadt, natürlich weiß, vergewaltigt. Der Vater sinnt auf Rache. Da aber in einem möglichen Prozess Aussage gegen Aussage stehen würde, kommt es für den schwarzen Bürgermeister darauf an, den schwarzen Football Spieler in einem günstigen Licht erscheinen zu lassen. Und hier kommt Charlie Croker ins Spiel. Denn der war in seiner Jugend in der gleichen Mannschaft eine Celebrität. Wenn der also ein gutes Wort für den jungen Ghettoblaster einlegen würde, wäre eine Verurteilung und damit ein Rassenaufstand vereitelt. Leider hatte Charlie dem Vater aber bereits versichert: Wenn du Hilfe brauchst – Ich werde alles für dich tun! Es geht für Charlie also darum, die Probleme mit seiner Bank loszuwerden, wobei es sich um die bescheidene Summe von etwa enmer halben Milliarde Dollar handelt, was über den Bürgermeister gemanagt würde im Falle einer positiven Aussage über einen absoluten Stinkefinger mit Diamanten im Ohr und schwerem Goldschmuck überall sonst. Oder aber alles zu verlieren, seine Immobilien, die sowie der Bank gehören, aber auch seine riesige Plantage, wo er Wachteln jagt, und wahrscheinlich auch seine neue Frau.

Der Roman enthält jedoch eine Nebenhandlung, die in einem völlig anderen Milieu spielt. In deren Zentrum steht ein junger Arbeiter, der für eine von Charlies Firmen in Kalifornien gearbeitet hat, dann aber entlassen wurde, da er das Personal verkleinern musste, um Geld zu sparen. Denn auf seine Wachteljagd wollte er natürlich auf keinen Fall verzichten. Diesen jungen Mann, Conrad Hensley, Vater zweier Kinder, verschlägt es daraufhin zuerst ins Gefängnis auf Grund unglücklicher Umstände, danach nach Atlanta, o Wunder! Und hier trifft er auf Charlie Croker. Zwei Dinge sind in diesem Zusammenhang erstaunlich. Erstens, wie Tom Wolfe es fertig bringt, diese abenteuerliche Volte als glaubwürdig zu verkaufen. Zweitens, mit welcher Präzisison er die sprachlichen und überhaupt die Dinge in der Unterwelt zur Darstellung bringt. Andere Autoren müssten für eine solche Feldforschung jahrelang im Knast verbringen.

Mehr will ich nicht verraten. Nur so viel: Dem einen mag das Ende des Romans, die Zusammenführung der Handlungsstränge, als künstlich und völlig unwahrscheinlich erscheinen. Dem anderen als durchaus typisch für die Vereinigten Staaten, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, in dem es immer schon gewaltige Prediger gab… Aber nun muss ich wirklich schweigen.

 

11

Lonesome Dove

by Larry McMurtry

Nach der Lektüre dieses Romans habe ich lange überlegt, wie ich mich dazu positionieren sollte. Der Roman war ja anfangs ziemlich langweilig und banal, schien mir. Aber ich habe weitergelesen und mich inzwischen an meinen Familienrat gewandt und mich beraten:

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Und dann bin ich auf die Idee gekommen, einfach eine Textstelle aus dem Roman hier anzuführen, die alles oder zumindest vieles von dem enthält, was den ganzen Roman ausmacht.

„I tell you what, Call,“ Augustus said. „You and Deets and Pea go on up there to Montany and build a nice snug cabin with a good fireplace and at least one bed, so it’ll be waiting when I get there. Then clear out the last of the Cheyenne and the Blackfeet and any Sioux that look rambunctious. When you’ve done that, me and Jake and Newt will gather up a herd and meet you on Powder River.“

Call looked almost amused. „I’d like to see the herd you and Jake could get there with,“ he said. „A herd of whores, maybe.“

„I’m sure it would be a blessing if we could herd a few up that way,“ Augustus said. „I don’t suppose there’s a decent woman in the whole territory yet.“

Augustus und Call sind Partner, sie haben früher einmal Indianer gejagt, dann die mexikanische Grenze gesichert. Jake war einmal Teil ihres Teams, ist aber abgehauen und jetzt zurückgekehrt, um Zuflucht zu suchen vor einem Sheriff aus Arkansas, der ihn wegen einer Schießerei verfolgt. Call ist ein Macher, der ohne Arbeit nicht leben kann. Augustus ist aus Leidenschaft texanischer Philosoph, der sich zwar um Indianer und Mexikaner kümmern konnte, aber auch das Carpe diem verinnerlichte hat, gern Whisky trinkt und auch Huren nicht abgeneigt ist. Jake ist zwar ein Luftikus, hat aber eine glänzende Idee, was Viehzucht im fernen, noch unerschlossenen Montana angeht. Call hat indes einen Sohn von einer Hure, den er verleugnet, so lange es irgendwie geht. Augustus hat Geld in diversen Banken und einen seriösen Familienhintergrund und Jake ist im Grunde ein armes Schwein, der viel Pech im Leben hat.

Call ist von der Idee angetan, eine Herde von Rindern und Pferden zusammenzutreiben und nach Montana zu ziehen. Augustus macht sich über diese Idee zwar lustig, macht aber mit. Jake nimmt eine Hure mit auf den Weg, die Augustus später übernimmt, als Jake ausfällt, da er von den „Freunden“ gehängt werden muss, da er in Gesellschaft einer Mörderbande erwischt wird, in die er hineingeraten ist und nicht mehr rauskommt.

Der oben angeführte Dialog spiegelt wesentliche Seiten der Hauptfiguren wider. Er ist zugleich typisch für die Schlagfertigkeit, die den Texanern eigen zu sein scheint.

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10

GONE WITH THE WIND

by Margret Mitchell

Reflexe und Reflexionen nebst einem Vorschlag für ein Dissertationsthema

Gone with the Wind

Wenn man dieses 1448 Seiten umfassende (Taschen)Buch zum ersten Mal öffnet, um es nach langer, langer Zeit wieder zu lesen, muss man zuerst mal mit ein paar Widrigkeiten kämpfen, die mit der schieren Dicke des Buches zu tun haben. Man kann die ersten Seiten kaum hinreichend weit aufschlagen, um volle Sicht die Seite zu erhalten, weil der Buchrücken (aus gutem Grund!) gut verleimt ist. Und wenn man das Buch im Liegesessel oder im Bett liest, werden nach einiger Zeit die Arme müde und die Hände auch vom ständigen Kampf mit der vollen Sicht auf die gerade gelesen werdende Seite. Ich habe vor vielen Jahren einmal beobachtet, wie sich zwei Schülerinnen ein Buch teilten, um gleichzeitig darin lesen zu können: Sie hatten das Buch einfach in der Mitte des Buchrückens durchgeschnitten. Gar keine schlechte Idee. Eine solche Halbierung hätte mir das Lesen ungemein erleichtert. – Aber Spaß beiseite.

Denn in diesem Buch werden ja sehr, sehr ernste Dinge verhandelt, es wurde im Süden der Vereinigten Staaten zweitweise wie ein Bibelersatz behandelt und wird heute immer noch als wichtige Quelle über den Amerikanischen Bürgerkrieg gehandelt.

Die Autorin wurde einmal gefragt, was denn eigentlich das Thema ihres Buches sei. Sie hat geantwortet, wenn es denn ein solches überhaupt habe, dann sei es das „Überleben“ in äußerster Not. Man kann ihr darin zustimmen. Denn diese Thematik sorgt schließlich dafür, dass das Buch äußerst spannend ist, da es ja anscheinend immer um Leben und Tod geht. Am Ende überleben ja schließlich im eigentlichen Sinne nur die beiden Protagonisten, Scarlett O‘Hara und Rhett Butler, allerdings jeder auf seine Weise.

Das bei Simon & Schuster erschienene Pocket Book wird auf der letzten Umschlagsseite „promoted“ mit folgendem Satz:

In the inimitable Scarlett O‘Hara and Rhett Butler, Mitchell not only conveyed a timeless story of survival under the harshest circumstances, she also created the two most famous lovers in the English-speaking world since Romeo and Juliet.

Da fragt man sich: Hat denn die englische oder amerikanische Literatur nichts zu bieten, das kongenial in der Tradition von Romeo und Julia stehen würde, in dem es wirklich um Liebe geht? Wie steht es denn um das, was hier mit Liebe zu tun haben könnte? Er liebt sie, aber sie liebt ihn nicht. Trotzdem heiratet er sie, um sie zu „besitzen“(oder weil er sie liebt?). Und sie ihn wegen des Geldes. Sie liebt ihn erst, als ihre große Liebe (Ashley) zwar frei ist, aber als gebrochener Mann übrig bleibt. Da will sie Ashley nicht mehr und entdeckt ihre Liebe zu Rhett. Doch dessen vermeintliche Liebe zu ihr hat ihn verlassen, seine Frau ist ihm gleichgültig. Mit anderen Worten: Liebe geht nicht! Und das soll in der Tradition großer Liebesgeschichten stehen? Die Verleger schummeln. Denn: Love always sells! Könnte man vermuten.

Aber worum geht es denn dann? Um amerikanische Werte oder gar um die amerikanische Seele? Schauen wir mal hin. Ein zentraler Satz verbirgt sich fast auf Seite 808:

Talking love and thinking money.

Rhett Butler hält das für DIE weibliche Tugend. Scarlett ist nicht weiter als eine geldgierige Bulldogge, die sich festbeißt mit irischem Temperament. (Und ja auch ganz zum Schluss, als alles aus zu sein scheint, noch glaubt, Rhett doch noch zurückerobern zu können.)

Und Rhett Butler? Ein begnadeter Opportunist, Enkel eines Piraten, Sohn aus gutem Haus, dem es in Charlston zu eng wird, vor und während des Bürgerkriegs mit Baumwolle und Salz spekuliert und ein Riesenvermögen anhäuft, nach dem Krieg mit den Yankee-Wölfen heult, und als die Zeit der „reconstruction“ zu Ende geht, wieder die Seiten wechselt. Am Ende sogar vorgibt, ein guter Mensch werden zu wollen. Er ist schließlich Mitte vierzig, ein Alter, in dem man sich vor 150 Jahren offenbar besonnen hat (heute indes erst in die midlife crisis schlittern würde).

Der Roman ist alles andere als eine Liebesgeschichte in der beanspruchten Tradition. Aber alle Achtung vor der überzeugenden psychologischen Ausarbeitung der Figuren dieses Kriegs- und Nachkriegsdramas.

Dieser Tage wird der Film zum Roman im Rahmen des Programms des Deutsch-Amerikanischen Instituts Saarbrücken gezeigt. Ich gehe nicht dahin, um mir nicht meine Bilder, die ich im Kopf gespeichert habe, verwässern zu lassen. Clark Gable reicht gewiss nicht an den Rhett Butler heran, den ich mir vorgestellt habe…

Wenn ich Vertrauen in was habe, dann in meine Phantasie.

(Übrigens auch ein interessantes Nebenthema des Romans: Wir nehmen unsere Phantasie als Wirklichkeit, und da haben wir den Schlamassel! Aber dieses Nebenthema betrifft fast nur Scarlett, die sich in Rhett täuscht, in Ashley, in Melanie auch. Und ich muss auch das noch loswerden: Mammy, die alte Negerin (sic), die drei Generationen O´Haras betreut hat, scheint die Figur mit der fundiertesten Lebensweisheit zu sein, die weiß, was sie will und was sie nicht will, und ein Herz hat noch größer als ihr Busen. – Margaret Mitchell beschreibt sie so. Ja, die Südstaatler haben ihre Sklaven geliebt. Und dann kamen die Yankees und haben alles kaputt gemacht!)

Das Buch von Margarete Mitchell spielt ja hauptsächlich in Atlanta, Georgia. Tom Wolfe hat 1998 ein Buch veröffentlicht, das ebenfalls in Atlanta spielt. Inzwischen stellen sich dort zwei Schwarze der Wahl zum Bürgermeister, es geht wieder um Gewalt an einer weißen Frau durch einen Schwarzen, um eine gewaltige Aufbruchstimmung Ende des letzten Jahrhunderts, als die Wirtschaft boomte und Atlanta voll dabei war. Wäre interessant, die Bilder, die von Atlanta und dem Süden in den beiden Büchern gezeichnet werden, einmal zu vergleichen. Die Fitness-Paläste der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts, der Muskel- und Schönheitswahn, – was wäre ein Pendant dazu im Georgia des 19. Jahrhunderts? Wäre doch ein schönes Thema für eine Dissertation im Grenzbereich von Soziologie und Literaturwissenschaft, oder?

 

9

The Circle

by Dave Eggers

Eggers reminds us how digital utopianism can lead to the datafication of our daily lives, how a belief in the wisdom of the crowd can lead to mob rule, how the embrace of ‚the hive of mind‘ can lead to a diminution of the individual.

Das schreibt Michiko Kakutani von der New York Times.

Ich versuche das mal ins Deutsche zu übersetzen.

Eggers führt uns mahnend vor Augen, wie die Utopie eines alles vereinnahmenden digitalen Zeitalters dazu führen würde, dass unser Alltagsleben zu einer Ansammlung von Daten verkommen würde; wie der Glaube an die Weisheit der Masse übergeht in die Herrschaft des Pöbels, wie die Anbetung einer „Schwarmintelligenz“ die Degradierung des Individuums bedeuten würde.

Hoppla! Ist Eggers Buch etwa seine Warnung vor den Piraten in Deutschland? So weit würde ich nicht gehen. Aber Kakutani hat Recht, wenn er das Buch als Warnung deklariert. Der Buhmann ist eindeutig die globale Digitalisierung der letzten 10 oder 20 Jahre. Aldous Huxley und George Orwell haben ähnliche Themen angeschlagen und in beeindruckender Weise dargestellt, was passieren kann, wenn… Eggers ist allerdings ganz ein Kind seiner Zeit, d.h. des digitalen Zeitalters. Im digitalen Verkehr gibt es bekanntlich nur 0 und 1. Dazwischen und darunter oder darüber nichts. Man muss sich seinen Roman so vorstellen: Alles spielt sich zwischen 0 und 1 ab, auf einer Ebene, auf einer Fläche, im Flachland also. In traditionellen Romanen gibt es weitere Dimensionen, Tiefe etwa der Charaktere, oder so etwas wie Subtexte, Verborgenes also, das vom Leser erschlossen werden muss. Nichts davon bei Eggers. Wir erfahren zwar, was einzelne Personen tun, aber nicht ernsthaft, was sie denken oder was sie antreibt zu handeln, wie sie handeln. Natürlich wird Spannung erzeugt. Sonst würde man ja den Roman nach 10 Seiten beiseite legen. Aber wodurch wird Spannung erzeugt? Da taucht ein geheimnisvoller Mann in Maes Leben auf, der sie auf dem Campus beeindruckend bumst. Wer ist dieser Mann? Er scheint viel Macht zu haben. Ist aber kaum verfügbar. Am Ende stellt sich raus, dass dieser Mann die Welt umkehren will, die er selber entworfen hat. Ein herrliches Klischee! Der Saulus wird zum Paulus. Aber Mae bleibt sich treu. Wie die Jungfrau Maria, die nie verriet, woher sie diesen Balg hatte… Und über Mae, die Protagonistin, erfahren wir nie, woher sie diese Fähigkeiten hatte, die sie im Circle an die Spitze katapultierte.

Wer interessiert ist an Fragen des digitalen Zeitalters und echte Spannung liebt, der schaue doch mal rein in die Romane von Daniel Suarez: Daemon und Dark Net, beide auf Deutsch bei rororo erschienen. Da werden Szenarien entwickelt, die sich nicht an literarischen Vorbildern abarbeiten, sondern akute Potentiale der Bedrohung mit viel digital-technologischem Sachverstand ausmalen.

 

8

Auf der Suche nach dem Gedächtnis

Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes

Von Eric Kandel
Eric-Kandel

Der Neurowissenschaftler Eric Kandel hat im Jahre 2006 eine Autobiographie veröffentlicht, in der er im Wesentlichen seinen wissenschaftlichen Werdegang, der in der Verleihung des Nobelpreises für Physiologie und Medizin des Jahres 2000 gipfelt, schildert. Ich möchte hier weder das Buch als Ganzes vorstellen noch auf einzelne Forschungsergebnisse im Detail eingehen. Denn jeder kann sich leicht ein Bild davon machen, wenn er nur geschickt das Internet benutzt. Auf drei Aspekte möchte ich nach eher subjektiven Maßstäben eingehen.

  1.   1. Eric Kandels Verhältnis zu seinem „Heimatland“ Österreich

Eric Kandel wurde von seinen Eltern im April 1939 mit seinem fünf Jahre älteren Bruder Ludwig aus Österreich rausgeschafft, da der rassische Antisemitismus der Österreicher ihr Leben bedrohte. Seine Erinnerung an Wien, das ja auch Sigmund Freud verlassen musste, bleibt in ihm lebendig. Er interessiert sich in den USA zu Beginn seines Studium für Geschichte, weil ihn die Frage nach seiner eigenen Vergangenheit beschäftigte. Dann begann er sich für Freud und die Psychoanalyse zu interessieren und studierte Medizin und Psychologie. Man könnte fast sagen, das Ich, das Es und das Über-Ich „hatten es ihm angetan“. Aber Österreich gegenüber blieb er distanziert, weil die Österreicher ihre Vergangenheit nie richtig aufgearbeitet haben.

  1. Eric Kandels Philosophie

Eric Kandel wandte sich nach seiner Ausbildung als Psychoanalytiker der Biologie zu, genauer: der Biochemie des Gehirns, genauer: der Neurologie, weil er sich für die physiologischen Grundlagen des menschlichen Verhaltens interessierte. Der Geist und/oder die Psyche des Menschen (und der Tiere, da macht er keinen Unterschied!) sind vollständig im Gehirn zu verorten. Damit positioniert er sich gegen den Geist-Körper-Dualismus, der die ganze Geschichte „abendländischen“ Denkens durchzieht und im Grunde beherrscht. Kandel begab sich also auf die Suche nach den Komponenten der Seele (Ich, Es, Über-Ich) und erforschte zu diesem Zweck das Gehirn, wo allein sie zu finden wären. Natürlich ist das im letzten Satz genannte Vorhaben keine Grundlage für eine wissenschaftliche Fragestellung. Und so interessiert er sich in einem wesentlichen Teil seiner Arbeit zunächst einmal für die Lernleistungen einer Meeresschnecke, der Aplysia californica, die wegen der Anzahl und der Größe ihrer Zellstrukturen für elektrochemische Messungen geeignet erschien. Inzwischen ist es offenbar erwiesen, dass zwischen den Lernprozessen dieser Schnecke und komplexerer Tiere wie dem Menschen kein wesentlicher Unterschied besteht.

  1. Was Eric Kandel den Lehrern dieser Welt zu sagen hat

Ein guter Fremdsprachenlehrer weist seine Schüler eindringlich darauf hin, dass Vokabeln „dreimal gelernt“ werden sollen. Denn wer seine Vokabeln nur einmal lernt und hinterher glaubt, er beherrsche sie, wird feststellen, dass er sie nach einer Woche wieder vergessen hat. Und das hat mit der wiederholten Stimulation von Serotonin zu tun, durch die das erzeugte cAMP eine Proteinkinase A in Gang setzt, durch die am Ende einer molekularen Wirkungskette eine Synapsenbildung eintritt. Es werden also neue Synapsen erzeugt, die das Gehirn dauerhaft verändern mit dem Ergebnis: Der Mensch hat etwas gelernt! Wenn dagegen das Serotonin als einfacher Stimulus wirkt, wird zwar auch eine Proteinkinase A erzeugt, der Zellkern bleibt indes unverändert und es werden keine neuen Synapsen gebildet. Und genau diese Erkenntnis war offenbar nobelpreiswertig. Natürlich müssen unsere Fremdsprachenlehrer (und Lehrer überhaupt!) nichts von cAmp Response Element oder Genexpression wissen. Aber deren Ausbilder schon!

Fazit: Zu fordern wäre also eine neurologische und neurolinguistische Komponente in der Lehrerausbildung!

 

7

The Old Man and the Sea

Worum geht es in dieser Kurzgeschichte eigentlich? Es geht um einen alten Mann, der von Löwen träumt, die am Strand unter Palmen sitzen. Also um einen Menschen, dessen Lebenszeit abgelaufen ist, dies aber nicht wahrhaben möchte oder kann. Der also nur noch Mitleid erregt. Der Junge weint um ihn. Ein alter Mann, der in einer Traumwelt lebt, Zeitungen von gestern liest und einen Baseball Star vergöttert. Er kämpft einen heroischen Kampf, zuerst mit einem großen Fisch, dann mit den Haien, die ihm die Beute abjagen. Er stilisiert seine Kraftlosigkeit und sein nachlassendes Geschick als Fischer zu einem ebenbürtigen Kampf mit dem großen Fisch, der bei ihm nach 85 Tagen erfolglosen Fischens angebissen hat. Der alte Mann hat indes keine Wahl. In Rente gehen kann er nicht. Er muss also weitermachen, obwohl er das nicht kann. Der Junge, der ihn mit dem Nötigsten versorgt, weiß um diese Tragik und weint. Das einzige, was einem bleibt, wenn man einem größtmöglichen Unglück nicht abhelfen kann.

 

6

Mohsin Hamid: The Reluctant Fundamentalist

Reluctant-Fundi

Der hochgelobte und verfilmte Roman hat mehrere Erzählebenen. Auf der ersten richtet sich der Erzähler, der sich als der Hauptakteur auf der zweiten Erzählebene entpuppt, an einen Nachbarn an einer Bar irgendwo in Pakistan. Der Angesprochene ist offenbar Amerikaner. Der Pakistani erzählt danach recht aufdringlich von seinem Leben in den USA. Dort ging er zur Uni (Princeton), machte ein sehr gutes Examen, wurde bei einer Firma angestellt, die Unternehmen bewertet, also deren Marktpreis berechnet. Unser Pakistani wird wahrscheinlich letztendlich nur deshalb ausgewählt aus 100 Bewerbern, da der offenbar schwule Personalchef einen Narren an ihm gefressen hat. Er lernt eine Frau kennen, die ihn aber nicht wirklich lieben kann, da sie nicht von ihrem verstorbenen Freund loskommt. Am Ende verschwindet die Frau aus seinem Leben, vielleicht aus dem Leben überhaupt, das wird in der Schwebe gelassen. Ebenso in der Schwebe bleibt die Rolle des Amerikaners in der Bar. Am Ende scheint der ihn nämlich zu verfolgen. Ein Agent? Hat das immer noch was mit 9/11 zu tun? Unser Pakistani stand nämlich nach 9/11 wie viele andere Muslime in den USA unter Generalverdacht. Ist er ein „schlafender“ Fundamentalist? Fundamentalisten im eigentlichen Sinne spielen in dem Roman kaum eine Rolle. Der Begriff im Titel des Buches könnte sich ableiten von der zentralen Strategie der Unternehmensberatung, für die der pakistanische Aufsteiger arbeitet. Sie richten ihr Augenmerk nämlich ausschließlich auf die „Fundamentals“, um zu einer zuverlässigen Bewertung zu gelangen. Da unser Erzähler indes zu der Auffassung gelangt, dass dabei andere, z.B. soziale Aspekte, überhaupt nicht berücksichtigt werden, wird er reluctant. So kann oder müsste man den Titel lesen. An sich aber suggeriert der: Dies ist ein Buch über islamischen Fundamentalismus. Ich würde das irreführend nennen.

5

J. D. Salinger: THE CATCHER IN THE RYE

Was hat The Catcher in the Rye von J. D. Salinger mit der Odenwaldschule und dem Pädagogik-Guru Hentig (Spiegel) zu tun?

Markus Verbeet schreibt in Spiegel Online: Über Jahrzehnte wurde er bewundert, er gilt als einer der bedeutendsten deutschen Pädagogen der Nachkriegszeit. Jetzt sind viele bestürzt: Hartmut von Hentig soll die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule leugnen und bagatellisieren – und damit seinen Lebensgefährten decken, den ehemaligen Schulleiter.

Salinger

Nachdem Holden Caulfield vom Internat geflogen ist, irrt er bekanntlich ein paar Tage durch New York und findet schließlich des Sonntag nachts bei seinem ehemaligen Lehrer Antolini Unterschlupf, der recht schlüpfrig endet. Mr. Antoneli war offenbar längere Zeit Junggeselle, bis er schließlich eine reiche Frau heiratet, die erheblich älter ist als er. Mit einem Drink in der Hand (es bleibt nicht bei dem einen) versucht Antoneli Holden klarzumachen, dass er erwachsen werden muss, erkennen lernen muss, was er kann und solches dann tun. Als Holden erschöpft – nicht zuletzt von den Belehrungen seines Lehrers – eingeschlafen ist, wird er plötzlich wieder wach, da er gemerkt hat, wie die Hand seines Lehrers ihm übers Gesicht streichelt („he was petting me, patting me on the goddam head“). Die andere Hand benutzt Mr. Antoneli übrigens dazu, einen weiteren Drink zu halten. Nach dieser pädophilen Attacke gerät Holden vollkommen aus dem Lot, hatte er das doch schon „zwanzigmal“ in seiner Schulzeit erlebt, wie er sagt.

Holden beschließt danach, endgültig abzuhauen, sich nach Colorado abzusetzen, will sich jedoch noch von seiner kleinen Schwester Phoebe verabschieden. Die hält seine Pläne offensichtlich für Schwachsinn und bringt ihn, wenn nicht zur Besinnung, so doch ins Irrenhaus, indem sie ihn provoziert. Sie schleppt nämlich zu dem geplanten Abschlusstreffen einen riesigen Koffer mit sich und behauptet: Ich haue mit dir ab! Das weckt in Holger den Beschützerinstinkt (Catcher in the rye!), und er verspricht ihr, dazubleiben, wenn sie ihren Plan mitzukommen aufgibt.

Bei ihrem heimlichen Treffen in der elterlichen Wohnung hatte Phoebe ihn gefragt: Gibt es irgendetwas, was du hundertprozentig sein wolltest? Und er hatte ihr mit einer Zeile aus einem Song geantwortet:

If a body catch a body comin’ through the rye…

Er hatte damit gemeint: Es spielen viele Kinder Verstecken in einem Roggenfeld. Dabei verlaufen sie sich und kommen gefährlich nah an eine Klippe und sind in Gefahr abzustürzen. Er fühlte sich nun berufen, diese Kinder gegebenenfalls zu retten. Phoebe hatte indes gesagt, es heiße „If a body meet a body coming through the rye“ in dem Gedicht von Robert Burns. Phoebe indes trifft ihn (meet) und rettet ihn. Eigentlich ist sie also The Catcher in the Rye. Und das passt ja auch hervorragend zu ihrem Namen, Phoebe. Phoebus Apollo ist schließlich der Gott der Kunst, des Lichts, der Medizin, der Erkenntnis.

Letztendlich bringt Phoebe ihn nicht nur in die Irrenanstalt, in die er vorübergehend eingewiesen wurde, den rettenden Hafen, sondern auch dazu, dieses Buch zu schreiben, an dessen Ende die augenzwinkernde Erkenntnis steht: Wenn es dir dreckig geht, erzähl’ bloß nicht davon, was die Leute dir angetan haben. Denn am Ende hast du sie auf einmal alle lieb und vermisst sie sogar. Und er zählt ein paar von seinen ehemaligen Schulkameraden auf und erwähnt auch den Zuhälter, der ihn zusammengeschlagen hat. Mr. Antolini wird dabei nicht erwähnt.

Das Buch Catcher in the Rye ist eine Künstlernovelle. Der Leser erfährt etwas über die Bedingung der Möglichkeit von Kunst. In diesem Sinne ist also The Catcher in the Rye eine Art transzendentale Novelle, dessen Autor allerdings noch nicht ausgereift ist. In seinem nächsten Buch müsste er sich zurücknehmen zugunsten der Figur, die wirklich zählt ;-)))

4

Kate Chopin: The Awakening

The-Awaking

1856, fünf Jahre nach Kate Chopins Geburt in St. Louis, Missouri, erschien Gustave Flauberts Roman Madame Bovary, dessen Protagonistin, Emma, außereheliche Liebschaften einging und hohe Schulden machte, wodurch sie letztlich ihren Mann ruinierte. Emma beging, als sie nicht mehr weiterwusste, Selbstmord. Flaubert wurde wegen „Verstoßes gegen die guten Sitten“ angeklagt, aber freigesprochen.

1899 erschien Kate Chopins Roman The Awakening, dessen Protagonistin, Edna, eine außereheliche Beziehung nur „andachte“ und, da der angedachte Liebhaber zu feige ist, eine Beziehung einzugehen, ebenfalls Selbstmord begeht. Die Handlung spielt in Louisiana. Das Buch wurde aus der lokalen Bücherei von St Louis entfernt, die Autorin aus dem Fine Arts Club geworfen.

Man war also um 1900 zumindest in den Südstaaten in den USA um einiges prüder als in dem damals schon „Alten Europa“ ein halbes Jahrhundert davor.

Kate Chopins Buch zeichnet sich dadurch aus, dass es in kurzen szenischen Impressionen die Saat für einen Konflikt legt, der erst im letzten Viertel an Schärfe, auch Kontur zunimmt. Die Saat geht schließlich auf, aber lange ahnt der Leser nicht, dass die Ernte vernichtend sein wird.

Drei Familien spielen im Wesentlichen mit in Chopins Roman: Mr. Léonce Pontellier, seine Frau Edna und ihre beiden Kinder, die Familie Ratignolle, wobei Madame Ratignolle so etwas wie Ernas beste Freundin ist, und Madame Lebrun, der offenbar die Ferienanlage gehört, in der die Handlung während der Sommermonate eines Jahres spielt, mit ihren Söhnen Robert und Victor.

Léonce hat als Börsenmakler viel zu tun, so dass seine Frau mit den Kindern, die jedoch von einem Kindermädchen rund um die Uhr versorgt werden, meistens alleine ist im Sommer in der Ferienanlage, wo sich Robert gerne rumtreibt und eben solche Frauen gerne anmacht. Frau Ratignolle hatte dazugehört. Und sie warnt Robert, er solle Edna ih Ruhe lassen, da sie so unschuldig sei. Frau Ratignolle hat auch ein Gespräch mit Edna, in dem es aber um scheinbar andere Dinge geht. Edna erklärt ihr nämlich, dass sie für andere Menschen, also ihren Mann oder die Kinder, alles aufgeben könne, wenn es sich nicht um das Wesentliche handele, das also, was ihr Wesen ausmache. Sie würde sogar ihr Leben für die Kinder opfern, aber nicht „das Wesentliche“. Ihre Freundin kann ihr darin nicht folgen, d.h. sie versteht nicht, was sie meint.

Robert hält sich zunächst von Edna fern, doch schließlich freunden sie sich an, so dass Robert sie fast täglich besucht, mit ihr schwimmen geht und Ausflüge macht. Ganz offensichtlich verliebt sie sich in Robert und glaubt, dass auch Robert ihr zugetan sei. Das spielt sich jedoch ab im Reich des Unausgesprochenen. Der Leser weiß, als Robert ganz plötzlich eventuell „für immer“ nach Mexiko fährt, dass Edna ihn liebt, Roberts Gefühle für sie bleiben jedoch für den Leser in der Schwebe. Aber manchmal scheint es so, als ob Robert nach Mexiko geflohen sei, um seinen eigenen Gefühlen für Edna zu entkommen.

Edna hat indessen ihre Wahrheit gefunden (im Hegellschen Sinne), sie tritt selbstbewusster auf und lässt sich von ihrem Mann nicht mehr „alles sagen“. Die Ehe der Ratignolles scheint indes blendend zu funktionieren, denn Frau Ratignolle hängt, wenn ihr Mann in Gesellschaft spricht, an seinen Lippen. Robert ist indes in Mexiko und schreibt ihr nicht. Er schreibt aber an die etwas skurrile Pianistin, mit der sie alle irgendwie befreundet sind, und seine Briefe an sie verschlingt Edna und sucht nach Andeutungen, die für sie bestimmt sein könnten.

Während Léonce Pontellier an der Wall Street ihren Reichtum mehrt, lernt Edna Arobin kennen, einen Playboy, der in New Orleans nicht den besten Ruf hat, in ihr aber etwas Animalisches auslöst. Sie scheint ihn nicht zu lieben, Aber sie scheint die Freiheit zu genießen, lange unterdrückte Gefühle an die Oberfläche zu lassen. Sie ist nun auch entschlossen, ihren Mann zu verlassen, die Kinder befinden sich in der Obhut der Schwiegereltern. Sie mietet ein kleines Haus in der Nähe ihrer repräsentativen Villa und teilt das ihrem Mann mit, der ja noch in New York die Kurse beobachtet. Der reagiert clever, lässt das große Haus komplett renovieren und umbauen und verbreiten, dass die Familie nach dem Umbau zu einer großen Reise nach Europa aufbricht.

Doch dann trifft Edna eines Tages bei der Pianistin auf Robert. Der bringt sie nach Hause, in ihren „Taubenschlag“, wo er aber auf Arobin trifft. Die beiden haben einen kleinen Schlagabtausch und Robert bleibt fern. Sie trifft ihn wieder per Zufall, und er bringt sie wieder nach Hause. Edna wird jedoch zu ihrer Freundin Ratignolle gerufen, die offenbar erkrankt ist (an ihrem Mann?), Robert verspricht zu warten, bis sie zurück kommt. Als sie zurück kommt, ist Robert weg. Er hat einen Zettel hinterlassen: Ich liebe Dich. ich bin gegangen, weil ich Dich liebe.

Edna fährt zur Ferienanlage der Lebruns, geht an den Strand, entledigt sich dort ihres Badeanzugs und schreitet ins Meer. Sie nimmt also nur das Wesentliche mit in den Tod…

 

3

Alissa Nutting: TAMPA (2013)

tampa

Der Roman Tampa von Alissa Nutting kreist um eine Frau, die offenbar sehr attraktiv ist, mit einem Cop aus reicher Familie verheiratet, die aber von einer unersättlichen Gier nach 14-jährigen Jungen besessen ist. Ihren Phantasien und ihrem Sex bzgl. dieser Spezies ordnet sie alles unter und scheint zu gewinnen. Die Handlung ist eher oberflächlich, aber dennoch nicht ohne Spitzen, die in die Tiefe gehen, die amerikanische Gesellschaft ausleuchten, das Schulsystem, das Rechtssystem, die Sexualmoral. Der Roman ist erzähl-rhythmisch gut angelegt, enthält zahlreiche Schilderungen, die auf einer genauen Beobachtung basieren, u.a. auch den Geschlechtsverkehr betreffend. Die Protagonistin gibt schon recht früh bekannt, dass das, was sie vorhat und dann auch verwirklicht, absolut illegal ist und, wenn es auffliegt, dazu führen wird, dass sie eine Outlaw ist. Also abhauen muss, sich verstecken muss. Am Ende erweist es sich, dass sie in ihrem Versteck viel Spaß generieren kann. Mit den Jungs – die ja schließlich voll in ihrem ersten Saft stehen und gar nichts dagegen haben, wenn man ihnen ein bisschen dabei hilft, damit fertig zu werden…

Wer mehr über das Buch und seine Autorin erfahren will, schaue hier nach.

Und wer eine kleine Kostprobe genießen möchte, hat dazu ebenfalls Gelegenheit. Ich habe die Szene übersetzt, in der die Protagonistin den Vater ihres 14-jährigen Lovers verführt, um von ihrem pädophilen Treiben abzulenken. Charlotte (s.u.) dreht sich ein dutzend Mal im Grabe um… Das Leben ist schön.

2

Charlotte Brontë: Jane Eyre (1847)

Jane-Eyre

Jane Eyre ist angeblich die bekannteste Gouvernante der Literaturgeschichte. Bekannt war mir, lange bevor ich auf dieses Buch stieß, der Roman ihrer Schwester Emily: Wuthering Heights, das ich vor etwa 40 Jahren mit großer Genugtuung gelesen habe. Nun hatte indes vor einiger Zeit ein englisches Verlagshaus die Idee , in einem sog. Omnibus je einen Roman der drei literarisch ambitionierten Brontë-Sisters zu publizieren (1994). Neben Wuthering Heights und The Tenant of Wildfell Hall der jüngsten Schwester Anne, in dem diese die Alkoholexzesse ihres Bruders verarbeitete, befindet sich in diesem Omnibus oder besser Güterzug viktorianischer Ideologie und Spätromantik auch die Geschichte der Jane Eyre. Dieser 705 kleingedruckte Seiten umfassende „Schinken“ schlummerte irgendwo in meinen Bücherregalen, bis er meiner Putzfrau in die Hände fiel. Ihr war beim Säubern dieses Buch entfallen, und sie wusste es nicht wieder einzuordnen. Da habe ich es erst mal neben meine Leselampe gelegt…

Und den Roman von Charlotte gelesen. Jane Eyre ist die Tochter eines Pfarrers und einer Frau aus gutem englischen Haus. Die Eltern starben früh, Jane kam zu einem Onkel, der aber auch bald starb, so dass Jane nun bei dessen Frau, die mit ihr eigentlich nichts am Hut hatte, leben musste. Mit zehn Jahren wurde sie in ein Waisenheim gesteckt, in dem sie 8 Jahre verblieb, die letzten beiden Jahre als Lehrerin. Sie gab eine Annonce auf, um eine Stelle als Gouvernante zu finden. Wurde angestellt und verliebte sich in ihren Dienstherrn, Mr. Rochester, der sich mindestens genau so in sie verliebt hatte, von der ersten Begegnung an. Und das geschah auf diese Weise:

Jane ging an einem Winterabend noch einmal vor die Tür, würde man heute sagen. Sie hatte ihren Dienstherrn bis dato noch nicht zu Gesicht bekommen, da der sich in der Welt herumtrieb. Als sie auf einem einsamen Weg so dahin schritt, hörte sie Pferdehufe und versteckte sich. Dann hörte sie, wie das Pferd offenbar auf eisiger Fläche zu Fall kam und mit ihm der Reiter. Jane rannte zu Hilfe und half dem Reiter wieder auf die Beine und aufs Pferd. Dabei musste sich der Reiter auf ihrer Schulter stützen.

Und das hat er dann sein Leben lang nicht vergessen. Denn der Reiter war ihr Dienstherr, Mr. Rochester, der ihr einen Heiratsantrag machte und sie zum Altar führte. Aber da gab es ein kleines Problem. Der Priester sagte:

I require and charge you both (…), that if either of you know any impediment why ye may not lawfully be joined together in matrimony, ye do now confess it. (…) Wilt you have this woman for thy wedded wife?“ – when a distinct and near voice said: – „The marriage cannot go on: I declare the existence of an impediment.“

Mr. Rochester war bereits verheiratet mit einer Frau, einer verrückten Halbwilden, die er in einer Dachstube seines Anwesens verschlossen hielt. Also flieht Jane, hungert drei Tage lang, bis sie von zwei Schwestern und deren Bruder aufgenommen wird und eine Stelle als Lehrerin antritt. Es stellt sich nun heraus, dass die drei Janes Cousin und Cousinen sind. Ihr gemeinsamer Onkel in Madeira hat Jane 20.000 Pfund vererbt, das sie brüder- und schwesterlich mit den dreien teilt. Sie lehnt einen Heiratsantrag ihres Cousins ab, der sie als seine Frau auf eine Missionarsstelle nach Indien mitnehmen möchte. Sucht Mr. Rochester, findet ihn. Sein Haus ist abgebrannt, mit ihm die lästige Frau. Er ist blind. Nun kann sie ihn heiraten. Gott gibt seinen Segen.

Klingt alles ein bisschen kitschig? Na gut, Charles Dickens hat schließlich zur gleichen Zeit geschrieben. Aber: es ist wahnsinnig gut erzählt, der Plot ist durchdacht, wenn auch nach heutigen Maßstäben unrealistisch, aber romantisch eben. Und ich muss gestehen: Als ich die Szene las, da Jane sich dem erblindeten Mr. Rochester zu erkennen gibt und deutlich wird, dass sich an ihrer Liebe nichts, aber auch gar nichts geändert hat, da kamen mir die Tränen. Und das hatte mit dem Inhalt nichts zu tun. Es hatte was davon, was man an manchen Stellen empfindet, wenn man Tristan und Isolde hört. Das Buch zu lesen war also eher etwas Musikalisches. Das Buch hat etwas Betörendes. Wenn man bereit ist, sich wegtragen zu lassen. Nicht ins 19. Jahrhundert. Ad astra.

1

Larry McMurtry: Leaving Cheyenne (1962; 1990)

McMurtry

Leaving Cheyenne ist Larry McMurtrys zweiter Roman. Es ist die Geschichte einer großen Freundschaft und Liebe zwischen Gideon, Johnny und Molly. Gid erbt vom Vater eine große Ranch und lässt seinen Freund Johnny als Cowboy für sich arbeiten. Sie beide lieben Molly und Molly liebt sie beide. Das ändert sich auch nicht, als Molly Eddie heiratet und Gid Mabel. Das erste Kapitel ist aus der Perspektive von Gid erzählt, das zweite aus der von Molly, das dritte schließlich aus Johnnys Sicht. Handlungsort ist Texas, die Zeit: die zwanziger, die vierziger und die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Natürlich setzt jeder von ihnen seinen eigenen Schwerpunkt. Und doch erfährt der Leser wesentliche Begebenheiten dreimal. Die Wahrheit dessen, was passiert, ist also immer gebunden an eine Person. “Objektives Geschehen” gibt es nicht im zwischenmenschlichen Handeln.

Hier nun eine Übersetzung des 19. Kapitels des 1. Teils. Nachdem Molly unversehens Eddie geheirate hatte, beschließt Gideon nach dem Selbstmord des kranken Vaters, das heiratswütige Mädchen aus der Nachbarschaft, die gelegentlich als Ersatz für Molly herhalten musste, wenn diese gerade mit Johnny zusammen war, zu heiraten. Der Grund: Er kann sich nicht vorstellen, als “einsame Eule” auf der großen Ranch zu leben. Außerdem scheint die Auswahl nicht allzu groß zu sein. Oder man könnte sagen: McMurtry verdichtet die Geschichte auf nur sehr wenige Personen.

neunzehn

Im ersten Monat unserer Ehe kamen wir glaube ich mit keiner einzigen Menschenseele zusammen. Ich denke, ich bin zwar hier und da auf andere Leute gestoßen, aber ich habe sicherlich nicht viel zu ihnen gesagt, und ich habe ihnen auch keine Chance gegeben, mir viel zu sagen. Wenn es etwas gab, dem ich mich nicht aussetzen wollte, dann waren das Witze über Frischverheiratete. Einer zu sein war schon witzig genug.

Natürlich kann man nicht sagen, dass Mabel an sich so schlecht war. Sie war ein guter Mensch, wirklich ein guter Mensch, denk‘ ich mal, und sie war verdammt sicher nicht faul oder irgendwas in der Art. Sie machte ihre Arbeit, und sie kümmerte sich erheblich mehr um mich als ich mich um mich selber je gekümmert hatte. Und es geschah oft, dass ich sehr froh war, dass sie bei mir war.

Aber das ändert nichts an den Tatsachen, und Tatsache ist, dass ich eine verdammt blöde Sache gemacht hatte. Als ich merkte, wie blöd, habe ich mich vor mir selber geschämt. Ein zehn Jahre altes Kind hätte genauso vielVerstand wie ich zeigen können. Ich denke mal, Vater hatte Recht, als er sagte, ich könne überhaupt nicht selber auf mich aufpassen.

Mabel war natürlich für mich eine große Überraschung. Ich dachte, ich kenne sie in- und auswendig, bevor ich mich auf die Heirat eingelassen hatte. Aber vor Ablauf von zwei Wochen Ehe wusste ich, dass ein Idiot mehr über sie hätte herausfinden können als mir gelungen war. Zunächst einmal, sie war viel stolzer auf sich als ich gedacht hatte, und dann, viel weniger stolz auf mich. Bald wurde mir klar, dass sie nicht der Meinung wahr, mit mir einen besonderen Preis gewonnen zu haben. Aber ich sollte auf jeden Fall wissen und sie auch verstehen lassen, dass ich mit ihr einen großen Preis errungen hatte. Sie sah sich selber als die Schönheitskönigin des Bezirks; niemand konnte sie von dieser Meinung abbringen. Ich habe jedenfalls bald aufgehört, es zu versuchen; sollte sie sich doch selber so sehen, wie sie wollte.

Es läuft auf zwei Ding hinaus: Zum Ersten war Mabel kein freigebiger Mensch. Ich denke, sie hatte nie etwas besessen, an dem sie sich in Freigebigkeit hätte üben können. Für jeden Cent, den sie sozusagen von sich hergab, wollte sie einen Dollar von mir zurück. Und bekam ihn auch.

Zum Zweiten war ich immer noch verrückt nach Molly. Die wenigen Male, die ich mit ihr zusammen war, bedeuteten mir mehr als ein ganzes Leben mit Mabel mir würde bedeuten können. Für Molly empfand ich etwas, aber nicht für Mabel. Und Mabel empfand nichts für mich.

Schon nach kurzer Zeit trieb ich mich draußen herum aus einem ganz einfachen Grund. Früher wollte ich nicht ins Haus, weil niemand da war; sehr bald habe ich lange gearbeitet, weil ich nicht wusste, was ich zu Hause sollte, kaum war ich da. Ich habe oft den Mond in der Wassertränke gesehen und oft am Himmel, und eines war gewiss: Dem Mond war das egal. Ihm war egal, was ich tat, es schien für ihn, für nichts, für niemanden eine Rolle zu spielen. Ich habe von Johnny eine Karte erhalten, aber ich hatte nicht den Mumm, sie zu beantworten.

Ich war im Leben nie trübsinniger als in diesem ersten Monat. Wenn ein Mensch einsam sein muss, dann ist es besser für ihn, allein einsam zu sein. Aber ich habe diesen Vorteil für immer verspielt, und es hatte keinen Zweck, darüber zu schmollen. Es war passiert, und zwar endgültig; ich würde das Beste daraus machen müssen. Aber es sah nicht nach einem sehr guten Besten aus.

Das hat mich an etwas erinnert, das er Alte Grinsom einmal gesagt hatte; das war an dem Tag, wo wir ihn in Clarendon kennengelernt hatten. Um des Gespräches willen fragte ich, wie lang er schon im Panhandle lebe.

„Seit ’93,“ sagte er. „Ich kam hierher mit nichts als einer Geige und einem Steifen. Die Geige habe ich noch.“ Und als wir die sieben Jungen sahen, wussten wir, wo das andere geblieben war. Meine Lage war ein wenig anders. Bei meiner Heirat hatte ich eine Ranch und das andere gehabt, und ich hatte sie beide noch. Und um ehrlich zu sein, hatte ich das wohl auch verdient.

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