Monatsarchiv: April 2023

Hamlet stirbt zuletzt

Ja, sie lassen ihn in der neuen Hamletinszenierung im Saarbrücker Staatstheater zuletzt doch noch sterben, obwohl er so unsterblich gut gespielt wurde und die Inszenierung für jede Überraschung gut war.

Die Inszenierung basiert auf dem Prinzip der Steigerung. Am Anfang wirken alle Schauspieler fade, wie sie da nebeneinander aufgestellt sind und nichts sagen. Am Ende sind alle über sich hinausgewachsen. Polonius, von einer Frau gespielt, die in jedem Politkrimi der Gegenwart so auftreten könnte: als intrigante Staatssekretärin; Rosenkranz, der zwischen den Fronten hin- und hergerissen wird und am Ende ja zerrissen wird. Ophelia, die zunächst verloren scheint im Wahnsinnsgebaren Hamlets, dann aber im Tod über sich hinauswächst: Sie wird von Claudius und Gertrud von der Bühne gerollt, nachdem sie sich ertränkt hat, was aber etwas schwierig ist, weil sie immer wieder über ihren schwangeren Bauch hinweggedrückt werden muss. Also Ophelia schwanger. Und Hamlet?

Der sitzt oft im Hintergrund der Bühne und spricht in seine Handyvideocamera. Man sieht das dann als Zuschauer auf großen Vorhängen rechts und links auf der Bühne. Eine grandiose Anspielung auf die Tiktokisierung unseres Alltags.

Der zieht im dritten Akt dann aber auch Hose und Unterhose aus und rennt dann unten ohne rum. Das könnte ein Symbol sein für sein existentielles Ausgeliefertsein, seine absolute Verletzlichkeit.

Die beiden neben mir sitzenden alten Damen sahen das wahrscheinlich anders. Sie ließen sich im Chor vernehmen mit einem gehauchten „Ach Gott!“. Was klang da nicht alles mit: Erstaunen, Verwunderung, Überraschung, alte Erinnerungen tauchten da wohl wieder auf. Entrüstung klang da nicht mit. Wir sind alle im 21. Jahrhundert angekommen.

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Der Hahn ist tot

der Hahn ist tot! Zu viele Hähnchen müssen sterben, weil sie nun mal keine Eier legen, viele Millionen.

Schwenk.

Erinnert Ihr Euch, in China wurden vor nicht mal 10 Jahren noch viele Frauenleben vernichtet, wie es in den Medien hieß. Denn gemäß dieser Ein-Kind-Politik waren weibliche Föten nicht erwünscht.

In Deutschland gibt es aber nach wie vor viele Millionen verhinderter Hähnchenleben.

Nun gibt es Gottseidank in Baden-Württemberg diese Huhn & Hahn – Initiative, die dafür Sorge trägt, dass auch die männlichen Küken überleben. Auf der (allerdings saarländischen) Eier-Packung steht: „Aufzucht von männlichen Küken!“ Als ich das las, habe ich tatsächlich als Erstes gedacht: Jetzt züchten die wohl Hähne, die Eier legen! Wie machen die das wohl? Etwa mit Hilfe der KI? Denn der ist ja bekanntlich alles zuzutrauen.

Als ich dann zu Hause die Eier aus der Packung nahm und im Kühlschrank in diese Plastikschale mit den 10 halbkugelförmigen Vertiefungen legte, ist mir allerdings aufgefallen, dass die Eier eigentlich wie immer aussahen. Da dämmerte mir: Hier waren also doch Hühner im Spiel.

Aber mir dämmerte zugleich, dass ich heute eine wirklich gute Tat getan hatte, indem ich diese Eier kaufte und nicht solche aus einer Freilandhaltung, bei der im Stall nebenan laufend Hähnchen umgebracht werden. Und mir wurde bewusst, dass ich hier in bester Gesellschaft bin, etwa mit den NGOs, die sich in China dafür einsetzen, dass endlich wieder mehr Frauen geboren werden.

Eines stört mich an der Sache aber. Ich tanze ein wenig aus der Reihe, da sich hier bei uns doch die Mehrzahl der Gutmenschen eher für MÄDCHENrechte engagieren, also für die Chicks…

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Posieren

Es hat fünfzehn Jahre gedauert,

bis meine Katze

diese Pose draufhatte.

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Transzendenz der Technik

Giuliano da Empoli: Der Magier im Kreml. Beck, München 2023

Empolis Roman wird als “Buch der Stunde” bezeichnet, durch das man bisher nicht erreichte Einsichten über das “System Putin” gewinne. Ich muss gestehen, dass eine solche Einschätzung für mich ein Teil der Motivation gewesen ist, mir dieses Buch zu kaufen. Nun, da ich es fast ohne beiseite zu legen gelesen habe, steht für mich fest: Es handelt sich hier um einen hervorragend konzipierten und erzählerisch äußerst souveränen, auch poetisch anspruchsvollen Roman, der strukturell in etwa so aufgebaut ist wie ein anderes aktuelles Buch, “Act of Olivion”, nämlich so, dass historisch weitgehend abgesicherte Fakten (Das gilt allerdings nur begrenzt für den Magier; s.u..) dadurch spannend aufbereitet werden, dass sie um einen fiktionalen Kern als deren Brennpunkt angeordnet werden. In beiden Fällen handelt es sich um eine als Person erfundene Figur, hier um einen Mann namens Wadim Baranow, der wegen einer zentralen Position im Kreml, nämlich als Putins wichtigster Spindoctor, Zugang zu allen möglichen Leuten und Ereignissen hat. 

Die Besprechung einiger Aspekte dieses Buches ist unter Reflexe und Reflexionen zu finden. Hier möge als Ergänzung hinzugefügt werden: Das erste Kapitel dient der theoretischen Einstimmung auf das, was der „Magier“ dem Erzähler in den folgenden Kapiteln zu sagen hat. Dass es zu einer solchen Begegnung von Erzähler und Magier kommt, ist dem gemeinsamen Interesse an einem Autor des frühen 20. Jahrhunderts zu verdanken, Jewgeni Samjatin, der einen Roman mit dem Titel Wir geschrieben hat, in dem er, wie er selber glaubte, sich kritisch mit dem im Aufbau befindlichen Sowjetsystems befasste. In Wirklichkeit, so die These des Erzählers, hat er viel mehr im Visier gehabt, nämlich die Systeme aller künftigen Diktatoren, mögen sie Marc Zuckerberg oder Xi Jinping heißen. Samjatin beschreibt eine Art globaler Matrix von Algorithmen, die sich nie irren, von der unsere primitiven Gehirne überrannt werden. Ja, das klingt nicht nur dystopisch, das ist die finale Dystopie. Samjatin hat also ein Jahrhundert übersprungen und beschreibt – unsere Gegenwart! Und was der Magier dem Erzählter nun im Verlaufe des Romans darlegt, ist nichts anderes als der Beweis dafür, dass Samjatins „Utopie“ nichts anderes ist als eine genaue Analyse des 21. Jahrhunderts. Um die Apokalypse zu verhindern, also eine Welt jenseits der Algorithmen, die Chaos und damit Untergang bedeutet, ist jedes Mittel recht, ist jede Macht gerechtfertigt. Ereignisse wie der Ausbruch eines neuen Virus oder der Anschlag auf ein Atomkraftwerk bedrohen die Existenz der Menschheit. Also werden die Menschen ein Interesse daran haben, eine Macht zu etablieren, die solche Ereignisse verhindert. Und da Ereignissen nicht auf die Stirn geschrieben ist, ob sie gut oder schlecht sind, geht es darum, Ereignisse überhaupt zu verhindern. The Big Freeze.

Wenn nun nach solchen Mitteilungen die kleine Tochter Baranows am Ende des Besuchs des Erzählers im Zimmer auftaucht und der Vater dahinschmilzt und sagt, seine Tochter übe eine stärkere Macht auf ihn aus als alle Diktatoren der Welt es jemals vermögen könnten, dann gibt das dem Roman doch noch ein versöhnliches Ende, dessen Message sein könnte: Die da draußen können zwar unser Leben bedrohen und vernichten, aber sie können nicht verhindern, dass wir das Leben lieben. Und dass wir diese Liebe an die nächste Generation weitergeben.

Die Kraft, die das ukrainische Volk aufbringt, dem russischen Aggressor zu trotzen, ist ein Ausdruck eben dieser Liebe zum Leben.

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