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Transzendenz der Technik

Giuliano da Empoli: Der Magier im Kreml. Beck, München 2023

Empolis Roman wird als “Buch der Stunde” bezeichnet, durch das man bisher nicht erreichte Einsichten über das “System Putin” gewinne. Ich muss gestehen, dass eine solche Einschätzung für mich ein Teil der Motivation gewesen ist, mir dieses Buch zu kaufen. Nun, da ich es fast ohne beiseite zu legen gelesen habe, steht für mich fest: Es handelt sich hier um einen hervorragend konzipierten und erzählerisch äußerst souveränen, auch poetisch anspruchsvollen Roman, der strukturell in etwa so aufgebaut ist wie ein anderes aktuelles Buch, “Act of Olivion”, nämlich so, dass historisch weitgehend abgesicherte Fakten (Das gilt allerdings nur begrenzt für den Magier; s.u..) dadurch spannend aufbereitet werden, dass sie um einen fiktionalen Kern als deren Brennpunkt angeordnet werden. In beiden Fällen handelt es sich um eine als Person erfundene Figur, hier um einen Mann namens Wadim Baranow, der wegen einer zentralen Position im Kreml, nämlich als Putins wichtigster Spindoctor, Zugang zu allen möglichen Leuten und Ereignissen hat. 

Die Besprechung einiger Aspekte dieses Buches ist unter Reflexe und Reflexionen zu finden. Hier möge als Ergänzung hinzugefügt werden: Das erste Kapitel dient der theoretischen Einstimmung auf das, was der „Magier“ dem Erzähler in den folgenden Kapiteln zu sagen hat. Dass es zu einer solchen Begegnung von Erzähler und Magier kommt, ist dem gemeinsamen Interesse an einem Autor des frühen 20. Jahrhunderts zu verdanken, Jewgeni Samjatin, der einen Roman mit dem Titel Wir geschrieben hat, in dem er, wie er selber glaubte, sich kritisch mit dem im Aufbau befindlichen Sowjetsystems befasste. In Wirklichkeit, so die These des Erzählers, hat er viel mehr im Visier gehabt, nämlich die Systeme aller künftigen Diktatoren, mögen sie Marc Zuckerberg oder Xi Jinping heißen. Samjatin beschreibt eine Art globaler Matrix von Algorithmen, die sich nie irren, von der unsere primitiven Gehirne überrannt werden. Ja, das klingt nicht nur dystopisch, das ist die finale Dystopie. Samjatin hat also ein Jahrhundert übersprungen und beschreibt – unsere Gegenwart! Und was der Magier dem Erzählter nun im Verlaufe des Romans darlegt, ist nichts anderes als der Beweis dafür, dass Samjatins „Utopie“ nichts anderes ist als eine genaue Analyse des 21. Jahrhunderts. Um die Apokalypse zu verhindern, also eine Welt jenseits der Algorithmen, die Chaos und damit Untergang bedeutet, ist jedes Mittel recht, ist jede Macht gerechtfertigt. Ereignisse wie der Ausbruch eines neuen Virus oder der Anschlag auf ein Atomkraftwerk bedrohen die Existenz der Menschheit. Also werden die Menschen ein Interesse daran haben, eine Macht zu etablieren, die solche Ereignisse verhindert. Und da Ereignissen nicht auf die Stirn geschrieben ist, ob sie gut oder schlecht sind, geht es darum, Ereignisse überhaupt zu verhindern. The Big Freeze.

Wenn nun nach solchen Mitteilungen die kleine Tochter Baranows am Ende des Besuchs des Erzählers im Zimmer auftaucht und der Vater dahinschmilzt und sagt, seine Tochter übe eine stärkere Macht auf ihn aus als alle Diktatoren der Welt es jemals vermögen könnten, dann gibt das dem Roman doch noch ein versöhnliches Ende, dessen Message sein könnte: Die da draußen können zwar unser Leben bedrohen und vernichten, aber sie können nicht verhindern, dass wir das Leben lieben. Und dass wir diese Liebe an die nächste Generation weitergeben.

Die Kraft, die das ukrainische Volk aufbringt, dem russischen Aggressor zu trotzen, ist ein Ausdruck eben dieser Liebe zum Leben.

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Eine kurze Geschichte vom Töten

Christoph Ransmayrs neuestes Buch „Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten“, im S.Fischer-Verlag erschienen, kann so oder so gelesen werden: Als große Literatur oder als heillose Verstolperung in einer Vielzahl von Themen der Gegenwart. Ransmayr kann schreiben, ohne Frage. Aber kann er auch Geschichten erfinden?

Mehr dazu bei „Reflexe und Reflexionen“

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Dystopische Nach(t)gedanken

Ein Syllogismus

(der Verständlichkeit halber grob vereinfacht und des lieben Friedens wegen anonymisiert)

Der Otto hat den Pepe ausgetrickst.
Der Pepe ist ein Arschloch.
Also ist der Otto ein größeres Arschloch.

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Mitteilung aus der Kronengruft 18: Es wird schlimmer, als wir denken!


So wie das aussieht, könnte das im Chaos enden… Oder alles wird gut….

Der Fisch ist jedenfalls tot.
Also in Sicherheit.

Aber da scheint noch was zu sein.

Wir Menschen verschließen jedenfalls die Augen davor, dass alles noch schlimmer wird und ein Wort wie Chaos nicht ausreichen wird, um das, was wird, zu beschreiben.

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Mitteilung aus der Kronen-Gruft 5

Entwurf für einen dystopischen Roman:

Wir sind im Jahr 2025. Die Hoffnung darauf, die Corona-Krise zu überwinden, schwindet. Die Krankheit wird zwar überall bekämpft, aber sie kommt in Schüben in der ganzen Welt immer wieder. Inzwischen sind einige der Staatsführer, die bei ihrem Ausbruch 2019 an der Macht waren, entweder abgewählt oder am Virus gestorben . Es sind jetzt wesentlich Jüngere an der Macht als seinerzeit Trump, Xi Jinping oder auch Netanjahu. Man diskutiert nun eine völlig neue Strategie (die allerdings in England und den Niederlanden 2020 schon einmal kurz zumindest angedacht worden ist): Herdenimmunisierung auf Kosten der alten Menschen. Das hätte den wünschbaren Nebeneffekt, dass die Renten weltweit wieder bezahlbar würden. Statt 90 Jahre würden die meisten Menschen nun lediglich 70 Jahre. Bei anhaltender Klimakatastrophe ließe sich dieses Alter noch weiter reduzieren, um den jüngeren Menschen das Überleben zu ermöglichen.

Was man sich 2019 angesichts der drohenden Klimakatastrophe noch gar nicht ausdenken wollte, kann nun mit einer relativ hohen Akzeptanz angedacht werden, und diese Akzeptanz ist eine Folge der Erfahrungen mit dem Virus. Das Virus hat also etwas Gutes: Er hat den Weg frei gemacht für das Überleben einer nicht mehr überalterten menschlichen Gemeinschaft. – Damit das gelingen kann, werden u.U. pharmazeutische oder psychologische Instrumente eingesetzt werden, die ab einem bestimmten Alter die Menschen in die Melancholie und damit quasi in die Suizidbereitschaft lenken. Das ließe sich gegebenenfalls teilweise über Apps lenken, die verbindlich in allen Handys – vor allem in die von Menschen deutlich über 50 – einzubauen wären.

Solche Gedanken sind in dieser Form natürlich neu, weil es genau eine solche geschichtliche Situation bisher nicht gegeben hat. Aber denken wir doch bloß einmal an den alten Eskimo, der still in der Eiswüste verschwindet, wenn im Iglu nicht mehr genügend Platz ist. Oder an philosophische Betrachtungen zu Melancholie und Suizid, von denen Hartwin Brand in seinem 2010 bei Beck erschienenen Buch „Am Ende des Lebens. Alter, Tod und Suizid in der Antike“ berichtet:

Konsequenterweise hat sich auch die kaiserzeitliche Medizinliteratur dieses Themas angenommen. Aus dem frühen 2. Jahrhundert n. Chr. stammt eine (leider weitgehend verlorene und nur aus Fragmenten und Testimonien teilweise rekonstruierbare) Abhandlung „Über die Melancholie“ von Rufus von Ephesos, der als gelehrtester und angesehenster Arzt der trajanischen Zeit und als bedeutendster kaiserzeitlicher Mediziner vor dem Pergamener Galen gilt. In dieser Schrift erörtert Rufus unter anderem den Zusammenhang von Lebensalter, Melancholieneigung und Suizidgefährdung und stellt fest, daß die Melancholie im Greisenalter am häufigsten auftritt. „Ja, sie wird geradezu als ein ‚notwendiges und unabtrennbares Akzidens des Greisenalters‘ betrachtet, weil die Greise ohnehin wenig Freuden und Hoffnungen haben, mißmutig sind und an vielen Magenblähungen leiden.“ Gefräßigkeit, Trunksucht und Suizidneigung seien Indizien für Melancholie, und diese Symptomatik besitzt prinzipiell auch heute noch ihre Gültigkeit.

Magenblähungen, Gefräßigkeit und Trunksucht sind durchaus vorhanden. Einer Suizidneigung ließe sich mit Hilfe virtueller Technologien leicht nachhelfen, und schon haben wir eine melancholische Altersgemeinde, die sich schweren Herzens (melancholisch), aber voller Einsicht (als immer noch aufgeklärte) von der Young New World verabschiedet.

Und weiter geht der Tanz auf dem Vulkan. Als beeindruckende Schlussszene böte sich hier ein Rockkonzert auf dem Felsen der Loreley an. Und aus den tiefen des Rheines ertönt der Chor der Alten: Ich weiß nicht, was soll es bedeuten…

 

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