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Kleine Geschichte über philosophische Relativität (Bob Dylan zum Achtzigsten)

Neulich fiel mir ja dieses Buch von einem Dr. Woldemar Oskar Döring in die Hände: Fichte – Der Mann und sein Werk, das 1924 erschienen ist und eigentlich in einer durchaus verständlichen Weise die Grundzüge der Fischteschen Philosophie nachzeichnet. Heute stieß ich in seiner Darstellung der Rechtsphilosophie auf folgenden Absatz:

Natürlich hat es mich sofort gereizt, das zu kommentieren. Mir fielen Überschriften ein wie “Über die Liebe von Weib und Mann” oder “Liebe ist Trieb + Freiheit” oder “Leo’s Traum”. Oder es fielen mir Überlegungen zu wie “Ist das satirisch verwendbar?” oder “Kann man das einfach nur präsentieren, damit das Publikum was zum Lachen oder zum Kopf Schütteln oder zum Sich-Entrüsten hat?”

Dann aber beschlich mich ein unangenehmer Gedanke. Denn mal im Ernst, wer würde heute nicht sagen, dass Fichte in seiner Rollenbeschreibung von Mann und Frau aus heutiger Sicht völlig daneben liegt? Aber haben wir denn das Recht, diese Zuschreibungen für unzulässig zu halten? Macht es einen Sinn, Fichte etwa wegen seines “falschen” Frauenbildes zu kritisieren? Er ist genauso ein Kind seiner Zeit wie unsre heutigen Genderist*innen.

Aber es gab da noch einen zweiten Gedanken, der mir noch unangenehmer war. Denn er betrifft nicht meine Einstellungen zu diesem oder jenem Phänomen wie etwa die Liebe, sondern er betrifft meinen Blick auf die gesamte Philosophie. Ich bemühe mich ja schon ein paar Wochen lang, die Fischtesche Philosophie zu verstehen, zu der ich bislang kaum einen Zugang hatte. Wie, wenn die Philosophie – so wie die Aussagen über Ehe und Liebe – durch und durch getränkt ist von dem “Diskurs” oder “Sprachspiel” jener Zeit? Diese würden mir indes als ebenso lächerlich erscheinen wie die oben zitierten Aussagen über die Liebe, wenn ich nicht diesen vorbelastenden Respekt in mir trüge, dass Fichte ein so großer Philosoph sei. Einmal davon befreit, käme ich zu der Gelassenheit, auch im Hinblick auf seine Philosophie zu sagen: Lass ihn mal reden! Er konnte nicht anders als Kind seiner Zeit, als Schüler Kants, als geistiges Kind der Französischen Revolution. Aber, und das ist der Punkt, macht es dann überhaupt einen Sinn, soviel Zeit und geistige Energie in den Versuch zu stecken, so etwas Gestriges zu verstehen?

Meine vorläufige Antwort ist ja. Denn was sollte ich stattdessen lesen? Etwa die gendernden Schriftsteller*innen, all die Philosophinnen und Philosophen unserer Tage? Und wenn ich die einen vor den anderen bevorzuge, wirft man mir dann z.B. Rassismus oder Sexismus vor?

Am besten nichts mehr lesen, auch nichts mehr über die Liebe lesen: Praktizieren wir sie und folgen wir dabei unserem Herzen (dem Sinne nach zitiert nach der Serie Sturm der Liebe). Oder hören wir uns an, was der altersweise Zauberer Bob Dylan uns zu sagen hat: The Times They Are A-Changin’.

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Braut- und Ehestand (Middlemarch 1)

“How was 1t that in the weeks since her marriage, Dorothea had not distinctly observed but felt with a stifling depression, that the large vistas and wide fresh air which she had dreamed of finding in her husband’s mind were replaced by anterooms and winding passages which seemed to lead nowhither? I suppose it was that in courtship everything is regarded as provisional and preliminary, and the smallest sample of virtue or accomplishment is taken to guarantee delightful stores which the broad leisure of marriage will reveal. But the door-sill of marriage once crossed, expectation is concentrated on the present. Having once embarked on your marital voyage, it is impossible not to be aware that you make no way and that the sea is not within sight — that, in fact, you are exploring an enclosed basin. “(p. 163)

„Wie kam es also, daß Dorothea, seit sie verheiratet war, zwar nicht klar beobachtete, aber mit einer beklemmenden Niedergeschlagenheit empfand, daß da, wo sie in dem Geiste ihres Gatten freie von einem belebenden Luftstrom durchwehte Aussichten zu finden geträumt hatte, nur Vorzimmer und enge Korridore ohne Ausgang zu sein schienen?
Ich erkläre es mir daraus, daß im Brautstande Alles als provisorisch und vorläufig betrachtet und in jeder kleinsten Probe einer Tugend oder einer Fähigkeit eine sichere Gewähr für das Vorhandensein köstlicher Vorräte gefunden wird, welche in der langen Muße der Ehe an den Tag kommen müßten. Aber wenn die Schwelle der Ehe einmal überschritten ist, verwandelt sich alsbald die unbestimmte Hoffnung auf das Zukünftige in eine bestimmte auf die Gegenwart gerichtete Erwartung. Wenn Ihr Euch einmal auf dem Fahrzeuge der Ehe eingeschifft habt, so könnt Ihr nicht umhin, alsbald gewahr zu werden, daß Ihr nicht von der Stelle kommt und daß das Meer gar nicht vor Euch liegt, daß Ihr Euch in Wahrheit nur auf einem engen Bassin hin- und herbewegt.“

lch eröffne hiermit ein neues kleines Projekt, indem ich in unregelmäßigen Abständen kurze Zitate aus dem englischen Topklassiker “Middlemarch” der Schriftstellerin  George Eliot bringe. Ich habe selten ein so psychologisch subtiles und unterhaltsames Buch wie dieses gelesen, und die Zitate mögen andere dazu anregen, dieses Buch zu lesen. (Vgl. auch mein Projekt Hogarth-Lichtenberg auf diesem Blog, das so ähnlich entstanden ist, so ähnlich verfährt und ähnliche Zwecke verfolgt!)

Englische Zitate sind der Ausgabe entnommen, die bei WORDSWORTH CLASSICS (1994) erschienen ist. Die meisten deutschen Übersetzungen stammen  von Emil Lehmann in dem eBook, das 2020 bei Lunata in Berlin erschienen ist. Beide Ausgaben möchte ich vorbehaltlos empfehlen. 

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