Mittwochabend im Sassafras in der Düsselstraße, Versammlung der ETG Kasemattenstraße 31.
Wir reden über die Frage, inwieweit es unausweichlich erscheint, dass die Kasemattenstraße zu einer Straße mit Durchgangsverkehr werden wird. Es wird erwogen, sich an den WDR zu wenden, um auf die Situation aufmerksam zu machen. Frau Stuben arbeitet dort. Sie sagt, für so etwas finde man beim WDR kein offenes Ohr. Wenn ein Kind überfahren werde, sei das ein Ereignis von öffentlichem Interesse. Gregor Kieselhumes fragt daraufhin in die Runde: „Na dann, wer hat denn Kinder hier?“ Neben ihm sitzt der alte Herr Czerni, dessen Sohn seinerzeit den Wohnungspreis meiner Wohnung in die Höhe getrieben hatte durch sein hartnäckiges Mitbieten. Er hat schließlich die Wohnung darunter im Erdgeschoss gekauft, und auf dem Weg von Neuweiler zu dieser Wohnung, in der er Renovierungen vornahm, ist der Sohn tödlich mit seinem Motorrad verunglückt.
Herr Czerni, mit dem ich mich gut verstehe, fragte mich am Rande der Versammlung: „Wie geht es Ihrer Frau?“ Ich gab ihm zur Antwort: „Meine Frau ist tot!“ Er sagte daraufhin: „Schön, das freut mich.“ Herr Czerni hört nicht mehr so gut. Ist die Frage, ob er überhaupt noch etwas versteht oder nur beständig nur so tut als ob… Ich habe Herrn Czerni übrigens über sein Missverständnis aufgeklärt. Hätte ich vielleicht lieber bleiben lassen. Ich bin mir sicher, er hat von der Bemerkung von Gregor Kieselhumes auch nichts mitbekommen. Taube Ohren können gewiss eine Gnade sein. Vielleichte lebt es sich ja ganz gut damit. Wenn man keine Fragen stellt.
Mir stellt sich die Frage, ob es sich um zwei faux pas handelt. Oder nur um einen, oder sogar um drei? Oder liegt gar kein faux pas vor?
Ob es sich bei Herrn Czernis Frage um einen solchen handelt, ist ein wenig ungewiss. Die Bemerkung scheint angesichts der Situation zwar zunächst ein verbaler Fehltritt zu sein, doch bleibt das dem Sprecher solange verborgen, wie er nicht vom Hörer aufgeklärt wird. Die Verweigerung der Aufklärung als Akt der Barmherzigkeit hätte dazu geführt, dass interpersonell kein faux pas vorlag, wiewohl natürlich intrapersonell auf der Hörerseite. Wenn er aber nur intrapersonell auf der Hörerseite zu verorten wäre, stellt sich die Frage, ob es dann einer ist, wenn man davon ausgeht, dass auf der Sprecherseite eine Art verborgene Intention vorliegt – ein gradus falsus absconditus -, nämlich wenn man annimmt, der Sprecher hätte es „besser wissen müssen“. Wenn man dem Sprecher das aber nicht unterstellt, sollte man dem Hörer, also mir, ein klares „si tacuisses!“ entgegenrufen. Denn durch das Nicht Schweigen wird der faux pas erst kommunikativ explizit. Aber musste das sein? Verneint man diese Frage, wäre die Aussage: „Meine Frau ist tot!“ selber ein faux pas, wenn man als diskursive Maxime annimmt: „Setze Deinen Gesprächspartner nicht unnötig in Verlegenheit!“. Eine solche Maxime gilt gewiss nicht in adversativen Verhandlungsdiskursen… Vorläufiges Fazit: Es handelt sich also bei den fraglichen Worten im Diskurs Läufer – Czerni entweder um keinen, einen oder zwei faux pas.
Bezüglich der saloppen Bemerkung von Herrn Kieselhumes ist anzumerken, dass es auch hier bei der Beurteilung entscheidend darauf ankommt, inwieweit man die kommunikativen Fakten auf der Hörerseite berücksichtigt. Gehe ich davon aus, dass Herr Czerni die Bemerkung wegen einer gewissen Hörschwäche nicht verstanden hat, ist man leicht versucht zu sagen: Dann kann auch kein faux pas vorliegen. Da die Bemerkung jedoch von den anderen Teilnehmern der Versammlung verstanden worden ist, kommt es, sofern man diese bei der Beurteilung berücksichtigen möchte, darauf an, ob sie von dem Verkehrstod des Sohnes von Herrn Czerni wussten. Wussten sie nichts davon, und hat Herr Czerni nicht verstanden, scheint die Sache klar. Aber nicht ganz klar, denn zumindest einer wusste ja davon, nämlich Läufer. Aber gibt es das: Ein faux pax gilt nur in Bezug auf einen Zuhörer, für alle anderen ist die Bemerkung keiner? Wussten sie von dem Verkehrstod, scheint ein faux pas vorzuliegen. Aber nur, wenn Herr Czerni „das“ mitbekommen hat? Und wenn er es nicht mitbekommen hat, was war es dann? Ein misslungener faux pas? Wohl kaum, da einem Misslingen die Intention eines Gelingens vorgegangen sein muss. Und niemand würde ja versuchen, einen faux pas zu landen…
Mein Problem bleibt also ungelöst, ja ist, wenn man der Sache weiter auf den Grund ginge, noch um einiges komplizierter als hier dargelegt. Ein Haus hat, wie Herr Kieselhumes sehr schön ausgeführt hat, seine Licht- und Schattenseiten (was bei der Frage eines Anstrichs der hinteren Fassade nicht unerheblich schien…). Eine kommunikative Situation hat nicht einfach Licht- und Schattenseiten, sondern ist wie eine Woge dunkler Worte, die, wenn man sie anleuchtet, unendlich zu oszillieren (→ Neutrinooszillation) beginnt im Meer menschlichen Encounterns.12
1Noam Chomsky hat bekanntlich nachgewiesen, dass es unendlich viele Sätze in einer natürlichen Sprache gibt. Ich behaupte, es gibt auch unendliche viele Interpretationen einer kommunikativen Situation, kann das aber nicht beweisen… Es wäre übrigens interessant, morphologische und funktionale Homologien zwischen Elementarteilchen und sprachlichen Strukturen zu untersuchen. Und damit einen weiteren Schritt zu tun zu erkennen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“…
2Encounter: Substantiv: Begegnung, Treffen, Zusammentreffen, Kampf, Zusammenstoß, Gefecht
Verb: begegnen, finden
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