Jean Paul hat in seinem Roman Titan Geschehenszusammenhänge dargestellt, die in ihrer Detailversessenheit und ausufernden Metaphorik kaum zu überbieten sind. Dreimal habe ich dieses Buch in die Hand genommen, zweimal wieder ins Regal gestellt. Beim dritten Anlauf hat etwas Bum gemacht. Irgendwann zwischen Seiten 750 und 800, kurz nachdem Albano, der glänzende Held der Veranstaltung, dahinter kommt, dass sein Freund seine (Albanos) Verlobte eines Nachts dadurch verführen konnte, dass er ihre Nachtblindheit ausnutzte und ganz auf seine Stimme setzte, die der des Freundes sehr ähnlich war, hat es auch bei ihm Bum gemacht. Das liest sich bei Jean Paul so:
Als er so über sich und die stille dunkle Wüste seines Lebens hinsah: so war ihm auf einmal, als würde sein Leben pötzlich erleuchtet und ein Sonnenblick fiele auf den ganzen Wasserspiegel der verflossenen dunklen Zeit; es sprach zu ihm:
Wie wird das bei uns in einem Jahr vielleicht aussehen? Wir schauen zurück auf eine dunkle Zeit. Und wir würden uns doch auch wünschen, dass es uns so ähnlich geschieht wie dem Albano bei Jean Paul: Wir schauen zurück auf all diese Lockdowns und Entbehrungen , und es wäre doch zu schön, wenn wir das alles hinwegfegen könnten mit einem positiven Gedanken, der sich auf die Zukunft richtet und uns neue Kraft verleiht.
Was ist denn da gewesen? Menschen – Träume – blaue Tage – schwarze Nächte – ohne mich hergeflogen, ohne mich fortgeflogen, wie fliegender Sommer, den die Menschenhand weder spinnen noch befestigen kann.
Alles, was da hinter uns liegt, hat eigentlich nie in unserer Hand gelegen. Sicher, wir haben uns “angestrengt”. Aber alles hätte ganz, ganz schief laufen können. Wir bestimmen nicht unser Schicksal, das Schicksal bestimmt uns.
Was ist dageblieben? Ein weites Weh über das ganze Herz – aber das Herz auch – Es ist freilich leer, aber fest – unzerrüttet – heiß – Die Geliebten sind verloren, nicht die Liebe, die Blüten sind herunter, nicht die Zweige – Ich will ja noch, wünsche noch, die Vergangenheit hat mir die Zukunft nicht gestohlen – Noch hab’ ich die Arme zum Umfassen, und die Hand, um sie ans Schwert zu legen, und das Auge zum Schauen der Welt – –
Angesichts der vielen Verlusterlebnisse weist der Erzähler des Titan darauf hin, dass wir bei allen Verlusten UNS ja nicht verloren haben, mit all den wesentlichen Eigenschaften, die uns als Menschen auszeichnen. Packen wir’s an!
Aber was untergegangen ist, wird wieder kommen und wieder fliehen, und nur das wird dir treu bleiben, was verlassen wird – du allein. –
Jean Paul ist an Schopenhauer geschulter Dialektiker. Alles kommt und vergeht, du kannst von allem verlassen werden. Aber eines bleibt: Du! – Dieser Gedanke wird im Folgenden (übernächsten Abschnitt) noch etwas genauer ausgeführt.
Freiheit ist die frohe Ewigkeit, Unglück für den Sklaven ist Feuersbrunst im Kerker – –
Diesen Satz verstehe ich, ehrlich gesagt, noch nicht. Kann mir ja jemand helfen?
Nein, ich will sein, nicht haben.
Genau, das sagt auch Schopenhauer in seiner Ethik. Alles, was wir haben, können wir verlieren. Aber was wir sind, nicht. – Der nächste und von mir als letzter zitierte Absatz klingt zunächst für heutige Ohren etwas (zu) romantisch. Aber seht, wie man ihn verstehen kann!
Wie, kannn der heilige Sturm der Töne nur ein Stäubchen rücken, indes die roh’ bewegte Luft Aschenberge versetzt? Nur wo gleiche Töne und Saiten und Herzen wohnen,, da bewegen sie sanft und ungesehen. So klinge nur fort, frommes Saitenspiel des Herzens, aber wolle nichts ändern an der rohen, schweren Welt, die nur den Winden gehört und gehorcht, nicht den Tönen.
Für die Töne hat der Mensch ein Organ, für den Wind jedoch zumindest kein spezifisches. Denn der Ton gehört dem Menschen allein, der Wind steht für die bedrohliche Natur. Ein Ton bewegt im Bild, das Jean Paul benutzt, allenfalls ein Stäubchen, der Wind kann aber “Berge” versetzen. Aber: Der Mensch besitzt offenbar eine Fähigkeit, die Dinge “im großen Stile” zu bewegen, in der Kraft so, wie der Wind, aber unvergleichlich subtiler. Und diese Fähigkeit kommt zum Tragen, wenn sich die Töne verbinden, wenn die Menschen sich vereinigen. Aber dieser gemeinsame Klang kann nichts am Naturspiel verändern oder bewegen, kann allenfalls etwas beim Menschen bewegen. In unserer heutigen Sprache würde ich das so formulieren: Menschliche Solidarität macht das Leben auf der Erde erträglich, selbst wenn es von Zeit zu Zeit einmal sehr kritisch werden kann. Die Gesetze der (rohen) Welt kann der Mensch nicht ändern, aber er hat eine Chance, sich in dieser Welt menschlich einzurichten.
Wie sagte Tegtmeier? “Immer Mensch bleiben!”