Sub specie aeternitatis: die „Staatsraison“

Nehmen wir doch mal Abstand von allem, was Israel und die Hamas angeht.

Und stellen Folgendes fest: Die Hamas hat am 7. Oktober in einem scheinbar unmenschlich brutalen Terrorakt 1.200 Menschen geschlachtet. (Sagte ich „scheinbar“? Gestern sah ich einen Film mit Michael Douglas, in dem dieser einen frustrierten Kleinbürger spielte, der seine ganze Wut rausließ und peu à peu zum gnadenlosen Killer wurde. Unglaublich unmenschlich, aber in einem Menschen entstand diese Wut. Im Film irgendwie nachvollziehbar.) In dem Versuch, die Hamas auszurotten, sind inzwischen anscheinend 10 mal so viele unschuldige Palästinenser gestorben, darunter eine immens hohe Anzahl von Kindern.

Two buddies
Two buddies… („Wann hast Du Deinen nächsten Gerichtstermin?“)

Wenn ich jetzt sage: Ein Staat, der das in Kauf nimmt, ist selber unmenschlich. Und dann höre ich Benjamin Netanjahus Statement: Wenn auch alle uns im Stich lassen, wir machen das, was wir für richtig halten. Sagt er das mit der Atombombe im Rücken? Ist nicht angesichts dessen die Rede von der „Staatsraison“ gegenüber Israel eine hohle Phrase? Was wäre z.B., wenn die Israelis in ihrer existentiellen Bedrohung Syrien, den Iran, Ägypten, etc. mit Atombomben einäschern würden? Und würde ich jetzt, wenn ich keinen deutschen Pass besäße, des Landes verwiesen?

Unsere Politiker erteilen Israel einen Freischein, wenn sie von der Staatsraison reden. Ich halte das für nicht zu Ende gedacht. Beziehungsweise für eine dieser Blasen, mit denen sich manche Politiker gern selbst ein wenig aufblasen.

2 Kommentare

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2 Antworten zu “Sub specie aeternitatis: die „Staatsraison“

  1. Einspruch, Euer Ehren! Hollywood- oder auch Tatort-Produktionen, die Zorn, Wut und Raserei von Individuen aus erlittenen Verletzungen erklären, sind etwas anderes als das kühle Kalkül, mit dem die Hamas-Führung ihren Terror plant und die Instinkte von der Kette lässt. Und die Perfidie, mit der verletzte und kranke Zivilpersonen in den Krankenhäusern von Gaza als menschliche Schutzschilde gebraucht werden, entspringt nicht einem tiefen menschlichen Schmerz über die Ungerechtigkeit, die angeblich durch die bloße Existenz Israels über Palästina gekommen ist, sondern sie ist genauso kalkuliert wie die Propagandavideos, in denen die Kinder der Intifada, mit Steinen bewaffnet, sich gegen mit modernster Militärtechnik ausgerüstete israelische Armeesoldaten zur Wehr setzen. Eine groteske Umkehrung der Erzählung vom kleinen David gegen den Riesen Goliath!
    Lieber Hermann, auch da gehe ich nicht mit: Die Rede davon, dass das Existenzrecht Israels zur deutschen Staatsräson gehört, ist kein bloßes Geblubber aus der deutschen Politikerblase. Sie kann durchaus angeben, was unverzichtbar dazu gehört: Das Bekenntnis zum Recht Israels, sich selbst zu verteidigen. Der Schutz jüdischen Lebens in Deutschland vor dem Terror der Hamas und vergleichbarer Organisationen, die sich zum Sachwalter der Rechte des palästinensischen Volkes aufgeschwungen haben. Und weil zum Terror auch das Spiel mit der Angst gehört: Die Zurückweisung des Antisemitismus in Deutschland, der wiederum in grotesker Umkehrung der Selbstverteidigung genozidale Absichten unterstellt. Das heißt, Juden, die unter uns leben, zu ermöglichen, ohne Angst ihre Religion zu leben oder ihre säkuläre jüdische Identität zu zeigen. Und dem antikolonialistischen Diskurs als Begründung für den linken Antisemitismus mit überzeugenden Argumenten entgegenzutreten.
    Für die Außenpolik der Bundesrepublik gehört dazu, sich für die Wiederbelebung der Bemühungen um die Zwei-Staaten-Lösung einzusetzen. Deshalb muss auch der Regierung Netanjahus klar gemacht werden, dass seine Politik des Status quo in die Sackgasse geführt hat und dass die staatliche Unterstützung der jüdischen Siedlerbewegung zurückgefahren werden muss. Das bedeutet auch die Unterstützung der israelischen Zivilgesellschaft, die sich der Zentralisierung politischer Macht in den Händen Netanjahus widersetzt, und aller Projekte an der Basis wie z. B. der bilingualen Schulen, die ein friedliches Miteinander von Juden und Arabern in Israel und in der Nachbarschaft wahr werden lassen wollen.

  2. Lieber Dieter,

    ich habe den aktuellen Beitrag zeitweise aus meinem Blog entfernt, da er vereinzelt so verstanden wurde, als habe ich mich antisemitisch geäußert. Ob er antisemitisch ist, weiß ich nicht. Aber wenn Du meine Einschätzung hören willst: Er ist es eher nicht. Ich habe zwei jüdische Kinder.

    Nun zu Deinem ausführlichen Kommentar, für den ich Dich sehr schätze. Die Hamas mag zwar vieles (oder alles?) mit kühlem Kalkül tun. Die Tatsache indes, dass sie immer wieder neue Mitglieder für ihre terroristische Bande gewinnt, ist m.E. wesentlich darauf zurückzuführen, dass bei vielen Palästinensern durch Israels Kriegs- und Siedlungspolitik, in deren Folge ja z.B. mehr als 700.000 Menschen fliehen mussten oder schlicht vertrieben wurden, ein Unmaß an Zorn, Wut und Raserei aus individuellen und kollektiven Verletzungen entstanden ist. Kalkül und Raserei widersprechen sich nicht, es sind zwei Seiten einer Medaille. Übrigens wird die Wut der Steine werfenden Kinder echt sein, egal ob sie auf einem Propagandavideo zu sehen sind oder auf Aufnahmen von AP oder BBC.

    Der Schutz jüdischen Lebens sollte allen, vor allem uns Deutschen, am Herzen liegen. Wenn man aber den Einsatz für jüdisches Leben gleichsetzt mit einem ewigen Garantieversprechen für die Existenz des Staates Israel, dann sollte man doch mal an die Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts erinnern. Ich lese gerade die neueste Biografie über Hannah Arendt von Thomas Meyer und lese, dass in den 20er Jahren keineswegs alle, die sich mit Fragen des Zionismus befassten, also judenfreundliche und dem Zionismus nahe stehende Autoren, einen jüdischen Staat forderten. Auch Hannah Arendt war m.W. eine Zeit lang skeptisch gegenüber solchen Forderungen. Arthur Ruppin z.B. gab der Forderung nach einem Staat erst nach, als es in Hebron 1929 zu einem Massaker an 67 Juden kam, in dessen Folge dann 116 Araber und 133 Juden umkamen. Damals kauften vor allem auch reiche Leute Land, auf dem dann Kibbuze gegründet wurden. Damals machte man Siedlungspolitik mit dem Geldbeutel, heute mit Panzern und Gewehren. Wenn ein Staat einem anderen Land abnimmt und es dann für sich beansprucht, dann kann man so etwas durchaus Kolonialismus nennen, oder?

    Ich kann doch versuchen „Juden, die unter uns leben, zu ermöglichen, ohne Angst ihre Religion zu leben oder ihre säkuläre jüdische Identität zu zeigen.“ Aber das hat doch nichts damit zu tun, dass ich Israel Kolonialismus vorwerfe. Du machst es Dir zu leicht, wenn Du mich jetzt in die Ecke des „linken Antisemitismus“ stellen willst.

    Übrigens scheine ich mir selbst ein wenig zu widersprechen, was Fragen der Existenz Israels angeht. Das Leben der Juden in Palästina schien nur dann gesichert, wenn es einen eigenen jüdischen Staat geben würde. Braucht’s also doch eine Staatsraison in Deutschland? Was aber wäre, wenn der jüdische Staat zum Leviathan würde, der ganz „Palästina“ verschlingt? Was wäre, wenn die israelisiche Regierung auf niemanden mehr hört und nur „ihr Ding macht“, wie es von Netanjahu angedeutet wurde? Hier kommt, lieber Dieter, Dein Hinweis auf die israelische Zivilgesellschaft ins Spiel.

    Jahrelang, jahrzehntelang hat die Welt zugeschaut, wie Israel mit seiner Siedlungspolitik das Völkerrecht verletzte und einen Zustand herstellte, der eine Zweistaatenlösung unmöglich macht. Jetzt fordert plötzlich alle Welt, man müsse sich darum kümmern, die Idee der Zweistaatenlösung möglichst rasch umzusetzen.

    Ich nenne das Heuchelei. Heuchelei aus Verzweiflung, weil es momentan keine, aber auch gar keine Lösung zu geben scheint.

    Liebe Grüße nach Budapest

    Leo Läufer

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