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Die „Großvater-Klausel“

“Das Auge des Gesetzes sitzt im Gesicht der herrschende Klasse.“ Ich habe mich erst kürzlich wieder an diesen Satz von Ernst Bloch aus „Naturrecht und menschliche Würde“ erinnert, den ich vor vielen Jahren einmal gelesen habe. Der Satz hätte mir eigentlich einfallen können, als ich mich mit einigen Auswirkungen der Corona-Krise befasste und z.B. las, dass der Schulbetrieb in der ganzen Bundesrepublik dann halbwegs sicher und gesichert aufrecht erhalten werden könne, wenn für alle Klassenzimmer virenabsorbierende Entlüftungsgeräte angeschafft würden. Das würde aber etwa eine Milliarde Euro kosten, und das erscheint zu teuer. Gleichzeitig wird jedoch kein Hehl daraus gemacht, dass man die Wirtschaft mit über 20 Milliarden Euro unterstützt, um ihr zu helfen, über die Runde zu kommen. Was das mit Bloch zu tun hat? Nun, gegen die reichen Onkels aus der mächtigen Wirtschaft kommen natürlich unsere Kleinen nicht an.

Aber vielleicht ist der Zusammenhang von Gesetz und ökonomischer Macht bei diesem Beispiel denn doch etwas zu kompliziert und erscheint als etwas abstrakt.

Ich kann jedoch mit einem konkreteren Beispiel aufwarten, das ich im 14. Kapitel der „History of the United States of America“ von Hugh Brogan entdeckt habe. In diesem Kapitel geht es um die Reconstruction der Südstaaten nach dem Bürgerkrieg, also um die Zeit von 1865 bis 1877. In diesem Kapitel entdeckte ich u.a. eine ganze Reihe von Ereignissen, die mir aus dem heutigen Amerika sehr bekannt vorkamen. Damals waren die Republikaner die Guten, die Demokraten im Süden die Bösen. Oder umgekehrt. Das kam und kommt immer auf den Standpunkt an. Im folgenden Abschnitt geht es um die Präsidentschaftswahlen im Jahr 1876, also 140 Jahre vor der denkwürdigen Wahl im Jahre 2016

If the Democrats won the Presidency the South could be sure that Reconstruction would be at an end: the last garrisons would be withdrawn, and the last carpetbag governments would fall. In the event it was a close-run thing: votes were stolen on both sides, but if the popular vote had been honestly counted the Democratic candidate, Samuel Tilden of New York… would have been elected President with a majority of about twenty electoral votes.
    The Republicans, however, refused to let power slip from their hands so easily. The carpetbag governments in Louisiana and South Carolina announced that Rutherford B. Hayes (1822-93), the Republican candidate, had carried those states and was therefore elected President by a margin of one electoral vote. It was the most outrageous piece of election-rigging in American history (which is saying something) and for a moment it looked as if it might precipitate a renewal of civil war. The Northern Democrat, after sixteen years in opposition, were ready to use any means to regain the power that was rightfully theirs – or so they threatened.

 

Wer denkt hier nicht an Donald Trump und die Bürgerwehren, die – Sturmgewehre im Anschlag – bereitstehen, für diesen Clown zu kämpfen, wenn es hart auf hart kommt.

Im amerikanischen Bürgerkrieg ging es, zumindest in der Hauptphase, um die Befreiung der Sklaven. Im Süden herrschten vor dem Krieg und auch noch danach aristokratische Verhältnisse. Die reichen Plantagenbesitzer, die dank der Sklavenarbeit reich und mächtig geworden waren, dachten nicht daran, irgendetwas wesentlich zu verändern. Es wurden also Gesetze erlassen, die verhindern sollten, dass die („befreiten“)Afro-Amerikaner („freedmen“) politische Macht erlangen konnten. Da die fast 4 Millionen ehemaligen Sklaven bitter arm waren, erfand man geschwind eine poll-tax: Wer wählen wollte, musste vorher dafür zahlen. Und das konnten sich die „befreiten“ Sklaven natürlich nicht leisten. Allerdings entdeckt man bald, dass man damit auch die Klasse der armen weißen Farmer von den Wahlen ausschloß, die die poll-tax auch nicht bezahlen konnten. Das wäre den reichen Plantagenbesitzern im Grunde ziemlich egal gewesen, hätte aber gewiss zu Unruhen oder gar Aufständen geführt, da es ja im Wesentlichen diese weißen Kleinfarmer waren, die für den Süden in den Bürgerkrieg gezogen waren. 

Was tun?

In sechs Südstaaten wurde eine Klausel in die Verfassung geschrieben, der zu Folge auch diejenigen, die das Wahl-Geld nicht zahlen konnten, wählen durften, wenn ihre unmittelbaren Vorfahren im Jahre 1867 zur Wahl gehen konnten. Das traf natürlich auf die Weißen zu. Und so hatte man eine Gesetzeslage geschaffen, durch die trennscharf genau die schwarze Bevölkerung von den Wahlen ausgeschlossen wurde.

Die Klausel in den Verfassungen von 1877 wird allgemein als „grandfather clause“ bezeichnet.

Fußnote:

Ein Fall also von verfassungsmäßig abgesicherter schwerer Diskriminierung. Im Amerika von heute, und nicht nur in Amerika, würde man in vergleichbaren Fällen wahrscheinlich von „struktureller Gewalt“ sprechen. Und im übrigen wird hier auch deutlich, dass eine gewisse Unverfrorenheit, mit der der jetzige Präsident der Vereinigten Staaten lügt und diskriminiert, schon vor 150 Jahren Bestandteil des politischen Arsenals der herrschenden Klassen war. Trump scheint in der politischen Historie der Vereinigten Staaten von Amerika keine Ausnahmeerscheinung zu sein. Das Neue ist die mediale Aufgeblasenheit dieser Erscheinung.

Translations

“The eye of the law sits in the face of the ruling class.” I recently remembered this sentence by Ernst Bloch from “Natural Law and Human Dignity”, which I read many years ago. The sentence could actually have occurred to me when I was dealing with some of the effects of the Corona crisis and e.g. read that school operations in the whole of Germany could then be maintained reasonably safely and securely if virus-absorbing ventilation devices were purchased for all classrooms. But that would cost around a billion euros, and that seems too expensive. At the same time, however, no secret is made of the fact that the economy is being supported with over 20 billion euros to help it get by. What does that have to do with Bloch? Well, of course, our little ones cannot compete with the rich uncles from the mighty economy.

But perhaps the connection between law and economic power in this example is a bit too complicated and seems a bit abstract.

However, I can come up with a more concrete example that I discovered in Chapter 14 of the History of the United States of America by Hugh Brogan. This chapter deals with the reconstruction of the southern states after the civil war, i.e. around the period from 1865 to 1877. In this chapter I discovered, among other things, a whole series of events that seemed very familiar to me from America today. Back then the Republicans were the good guys and the South Democrats were the bad guys. Or the other way around. That came and always depends on the point of view. The following section looks at the presidential elections in 1876, 140 years before the memorable election in 2016:

Wenn die Demokraten die Präsidentschaft gewinnen würden, könnte der Süden sicher sein, dass der Wiederaufbau zu Ende sein würde: Die letzten Garnisonen würden zurückgezogen und die letzten Teppichbeutelregierungen würden fallen. Für den Fall, dass es eine enge Angelegenheit war: Stimmen wurden auf beiden Seiten gestohlen, aber wenn die Volksabstimmung ehrlich gezählt worden wäre, wäre der demokratische Kandidat Samuel Tilden aus New York … mit einer Mehrheit von etwa zwanzig Wahlstimmen zum Präsidenten gewählt worden. 

Die Republikaner weigerten sich jedoch, die Macht so leicht aus ihren Händen zu lassen. Die Teppichbeutelregierungen in Louisiana und South Carolina gaben bekannt, dass der republikanische Kandidat Rutherford B. Hayes (1822-93) in diesen Staaten geführt habe und daher mit einem Vorsprung von einer Wahlstimme zum Präsidenten gewählt wurde. Es war das empörendste Stück Wahlfälschung in der amerikanischen Geschichte (was etwas aussagt) und für einen Moment sah es so aus, als würde es eine Erneuerung des Bürgerkriegs auslösen. Die Norddemokraten waren nach sechzehn Jahren Opposition bereit, alle Mittel einzusetzen, um die Macht wiederzugewinnen, die ihnen zu Recht gehöre – oder drohten jedenfalls damit.

Who doesn’t think of Donald Trump and the vigilante groups – assault rifles at the ready – ready to fight for this clown when the going gets tough.

In the American Civil War, at least in the main phase, it was about the liberation of the slaves. In the south, aristocratic conditions prevailed before and after the war. The rich plantation owners, who had become rich and powerful thanks to slave labor, had no intention of changing anything significantly. So laws were passed to prevent the (“liberated”) Afro-Americans (“freedmen”) from gaining political power. Since the almost 4 million former slaves were bitterly poor, a poll tax was quickly invented: Those who wanted to vote had to pay for it beforehand. And of course the “freed” slaves couldn’t afford that. However, one soon discovers that this also excludes the class of poor white farmers from the elections who could not pay the poll tax either. The rich plantation owners would not have cared much about that, but it would certainly have led to unrest or even uprisings, since it was essentially these white small farmers who had gone into the civil war for the south.

What to do?

In six southern states, a clause was written in the constitution that allowed those who could not pay the election money to vote if their immediate ancestors could vote in 1867. That was true of the whites, of course. And so a legal situation was created through which precisely the black population was excluded from the elections.

The clause in the 1877 constitutions is commonly referred to as the „grandfather clause“.

Footnote:

So a case of constitutionally secured severe discrimination. In America today, and not just America, one would probably speak of „structural violence“ in comparable cases. And it also becomes clear here that a certain audacity with which the current President of the United States lies and discriminates was already part of the political arsenal of the ruling classes 150 years ago. Trump does not seem to be an exception in the political history of the United States of America. What is new is the media inflatedness of this phenomenon.

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