Schlagwort-Archive: A Tree on Fire

Die Würde des Menschen ist unantastbar

Alan Sillitoe: A Tree on Fire. Grafton Books, London 1986 (1967)

Warum nimmt jemand im Jahr 2021 ein Buch aus dem Jahr 1986 zur Hand und liest es dann auch noch, das vor über 50 Jahren geschrieben und im Jahre 1986 als Paperback noch einmal veröffentlicht wurde? Ich hatte es 1987 auf Mallorca entdeckt, im Hotel Leo (ja, so hieß das Hotel wirklich), in einer Art Hotelbücherei, es ausgeliehen, musste es aber wegen meiner Abreise halbgelesen wieder abgeben, kaufte es aber in der Flugzeughalle, um es zu Ende lesen zu können. Damals war das Buch offenbar irgendwie populär.

Meine damalige Freundin oder Geliebte, der Status wurde nie richtig geklärt, hatte Mallorca schon nach drei Tagen wieder verlassen, da wir uns ständig stritten. Ich hatte also, da es Winter war, viel Zeit zum Lesen. Der Name des Autors, Alan Sillitoe, hatte mich gereizt, denn als eingefleischter Anglist (Bruno von Lutz) kannte ich seine Erzählung The Loneliness of the Long Distance Runner. Mich hat diese Story fasziniert, da die Frage nach der Würde des Menschen darin so radikal angegangen wird. Ein jugendlicher Kleinganove, der nie eine Chance im Leben hatte und wohl auch keine bekommen würde, sitzt wegen eines Diebstahldeliktes im Knast, und man erkennt, dass er ein phantastischer Langstreckenläufer ist. Also lässt man ihn trainieren, da die Gefängnisleitung darauf hofft, dass er zur Ehre der Anstalt Preise gewinnen wird. Im entscheidenen Wettkampf gegen angesehene Gegner liegt der junge Mann wenige Meter vor dem Ziel weit vor den anderen, doch er hält inne und lässt die anderen an sich vorbeiziehen. Das heißt, er lässt sich nicht instrumentalisieren, er begehrt auf und bewahrt seine Würde. Ein Sieg hätte bedeutet, er hätte seine Würde verloren. Diese Geschichte ist deshalb so beeindruckend, weil sie eine Art Allegorie ist für den allgemeinen Würdeverlust sowohl in den kapitalistisch-demokratischen als auch in den autokratischen Gesellschaften à la China. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Die Würde wird dem Menschen heute oft nicht durch andere Menschen genommen, viele Menschen nehmen sie sich selber. Viele haben das Menschsein einfach nicht gelernt. Aber das ist ein anderes Thema und ein weites Feld…

Ich schaue mir das Cover des Paperbacks an: Im bildlichen Gestaltungsteil sehen wir einen Schnuller und zwei Gewehrpatronen. Um die Bedeutung des Schnullers zu verstehen, braucht man nur den ersten Satz des Romans zu lesen:

With four week-old Mark wrapped in his woolen shawl she went out to the upper deck.“

Wenn Sie an einer launigen Besprechung interessiert sind, schauen Sie mal nach bei Reflexe und Reflexionen.

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Reflexe und Reflexionen, Zeitliches