In den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts dominierte in der Germanistik die sog. Werkimmanente Interpretation. Das hing vermutlich damit zusammen, dass die Umstände von Texten nicht leicht greifbar waren. Die Forschungsmittel waren beschränkt und es gab noch kein Internet.
Dass dies ein Irrweg war, beweist die folgende Todesanzeige.
Welcher Germanist würde nicht stolpern über die Formulierung Mein Leben war lustvoll und geschmackvoll! Kann ein Leben denn geschmackvoll sein? Kann eine Tote von sich behaupten, ihr Leben sei geschmackvoll gewesen? Könnte ein Lebender von sich sagen, er oder sein Leben sei geschmackvoll?
Aber Anja hat Recht. Sie war Köchin und hat in den letzten Jahren eine Küche betrieben, in der Erwachsene und Kinder in Kochkursen etwas ausprobieren konnten.
Sie konnte also von sich behaupten, dass ihr der Geschmackssinn sehr wichtig gewesen ist und sie auch vieles auf diesem Gebiet ausprobiert hat.
Ihr Leben war also geschmackvoll.
Die selbsterstellte Todesanzeige enthält somit einen selbstironischen Schlenker.
Tote können selbstironisch sein. Anja hat das bewiesen.
Respekt, Anja.
(Anja war Mitglied der Dudweiler Motorradfreunde. Ihre Asche wird per Motorrad von Jörg, ihrem Mann, zum Urnengrab im Waldfriedhof gebracht. Die anderen Motorradfreunde werden Spalier stehen. Mit ihren Bikes, versteht sich.)
Der Originaltext der Anzeige: Erheiternd und berührend, wie es wohl von der Verfasserin beabsichtigt war – die Interpretation durch Leo Läufer versetzt der Mumie der Textimmanenz noch einen letzten Stoß, sodass sie zu Staub zerbröselt. Die entscheidenden Streiche wurden gegen das Gespenst jedoch in den 60ern geführt: “Schlagt die Germanistik tot, färbt die blaue Blume rot!” Von da an war allerdings von den literarischen Texten gar nicht mehr die Rede, sondern in endlosen Basis-Überbau-Debatten nur noch von den “Klassikern”. Das konnte man dann allenfalls mit Robert Gernhardt aushalten:
Die Basis sprach zum Überbau:
“Du bist ja heut schon wieder blau!”
Da sprach der Überbau zur Basis:
“Was is?”
Soviel zum geschmackvollen und lustvollen Leben im germanistischen Proseminar der frühen Siebziger.